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Der andere Stammgast

Verfasst: 25.01.2020, 13:21
von Klara
Regelmäßig und pünktlich ist er, betritt die Kneipe jeden Abend um viertel nach Acht, hängt seinen Mantel an die Garderobe im Flur, nickt dem Wirt zu, setzt sich an den Tresen, steht wieder auf, holt einen Stapel Zeitungen, setzt sich wieder hin, schiebt sich das Teelicht im Glasschälchen heran und studiert dann die Zeitungen mit Hilfe einer Lupe, indem er seinen Kopf noch tiefer neigt, als er es ohnehin tut: Stets hält er seinen Körper ein wenig vorgebeugt. Meistens hat er karierte Hemden an, darüber eine Steppweste. Heute ist sein Hemd weiß-gemustert, an den Füßen trägt er Socken und Sandalen, obwohl es kalt draußen ist, vermutlich hat er es nicht weit, wohnt gleich nebenan, die Kneipe ist sein verlängertes Wohnzimmer. Sein schütter werdendes mittellanges weißblondes oder blondgraues Haar („fliehende Stirn“) ist sorgsam hinter die Ohren gekämmt, die Stimme wirkt belegt, ein wenig gequetscht, als müsse er das Gesagte herauspressen, als hätte er lange nichts gesagt, als hätte ihm niemand erlaubt zu sprechen, und er erhöbe sie trotzdem. Der Bauch vom Bier wölbt das Hemd über die Hose. Der Wirt stellt ihm sein goldfarbenes Bier im Henkelglas hin, das er langsam, sehr langsam leert, denn es ist, mit den Zeitungen, Grund, sich an diesen Ort begeben zu haben, ist sozusagen die einzige Rechtfertigung, hier zu sitzen, vertraut unter Fremden, mit trotzigen Sandalen und einem Hemd, das er vielleicht festlich findet, das ihn aber unter der Steppweste so aussehen lässt wie immer.

Verfasst: 26.01.2020, 01:10
von Kurt
Ja, ich glaube es zu kennen. Der Text hat mir Heimat gegeben. (Sind noch ein paar Huckel drin, abba da bin ich nicht derjenige, der dir da eine Hilfe zur Glättung wäre.)

LG Kurt

Verfasst: 26.01.2020, 16:16
von Nifl
Hallo Klara,

den ersten Absatz finde ich klasse.
Beim zweiten gäbe es tatsächlich Überarbeitungspotential, meiner Meinung nach.
Schön, wie du dieses Stück Kulturgut Eckkneipe beschreibst, sehr atmosphärisch und diesen schrägen Vogel habe ich direkt vor Augen. Kann mich nicht erinnern, dass ich jemals in so einer Kneipe saß. Irgendwie überkommt mich da ein Anflug von Ekel, klebrige Tische und lallende Alkoholiker. Trotzdem finde ich es Schade, dass diese Institutionen bald verschwunden sein werden, oder getauscht gegen irgendwas Hippsterhaftes.


Ich erkenne mich in ihm wieder, bin auch nicht schick, sondern ganz normal, alltäglich gekleidet,

naja auch? Sandalen im Winter?


mindestens einmal in der Woche vorbei,

komme


Ich erkenne mich in ihm wieder, bin auch nicht schick, sondern ganz normal, alltäglich gekleidet, will niemanden auf mich aufmerksam machen, sondern einfach da sein dürfen, mindestens einmal in der Woche vorbei, um zu schreiben oder zu lesen, eine Kleinigkeit zu essen, einen guten Wein zu trinken oder jemandem Guten Tag zu sagen, um woanders zu sein als hinter verschlossenen Türen, allein mit meinen Gedanken, aber nicht mit der Luft, die ich atme.

ähm, ein Satz!

Grüße
Nifl

Verfasst: 26.01.2020, 18:06
von Klara
Ja, danke, Nifl, ich schau mal.
Es ist keine schmierige Eckkneipe gemeint, in der nur Alikis sitzen (der andere Stammgast soll auch kein "klassischer" Alkoholiker sein) -
woraus schließt du das?

Verfasst: 26.01.2020, 18:06
von Klara
.. jetzt habe ich erstmal den zweiten Absatz gestrichen - der erste reicht völlig für die Skizze, die mir vorschwebte..

Verfasst: 26.01.2020, 18:23
von birke
ja. gefällt mir gut so, eine feine zeichnung.
nur der erste satz ist sehr lang...
lg

Verfasst: 26.01.2020, 21:41
von Kurt
Äh, mich hat der zweite Absatz interessiert, dieses merkwürdige Verhalten, sich unter Menschen zu begeben, sich aber gleichzeitig neutralisieren, nicht bemerkt werden wollen, und doch eine Art stummen, einverständlichen „leeren“ Kontakt pflegend zu dem sich solidarisch verhaltenen anderen Stammgast, sich aber gemeinsam ignorierend; für sich sein wollend, in Ruhe gelassen werden. Das ist Heimat, die verbindet ohne zu verbinden. Und es ist was anderes, als zu Hause für sich sein.

LG Kurt

Verfasst: 26.01.2020, 22:04
von birke
(schön geschrieben, kurt) aber im grunde steckt dieses "für sich sein wollen und doch nicht" ja im titel bereits drin, finde ich, der andere stammgast wird vom erzähler (der also auch stammgast ist) aus einer gewissen distanz beobachtet und skizziert.

Verfasst: 27.01.2020, 18:18
von Nifl
Ja, das hat was, Kurt, das ist auch ein starkes Element im Text. Also das Streichen ist wohl nicht die beste Option.


Es ist keine schmierige Eckkneipe gemeint, in der nur Alikis sitzen (der andere Stammgast soll auch kein "klassischer" Alkoholiker sein) -
woraus schließt du das?

hm, Sandalen im Winter, keine Lesebrille, sondern Lupe, an der Theke sitzen, Bierbauch und hatte er nicht noch ein komisches Hemd und Weste an... da reimt sich mein Klischeedenken gleich einen Müffeligen zusammen, der mit dünnen fettigen Haaren zu Theke schlurft und ein paar Stunden später wieder nach Hause wankt.

Verfasst: 27.01.2020, 20:48
von Klara
Tja, Nifl, dann habe ich offenbar entweder schlecht/klischeehaft beschrieben oder du siehst Klischees, oder beides.
Ich werde die frisch gewaschenen Haare ergänzen müssen ;-)
Jedoch: Es gibt solche Typen, verschiedener Art, die können auch in Museumscafés sitzen... Und die Vielfalt unterschiedlichster Typen, finde ich, macht einen Laden interessant. Weil die Besucherin dann auch so vielfältig-durchgeknallt sein kann, wie sie sich manchmal fühlt.
Naja, mal sehen, wie ich jetzt weiter mit dieser Miniatur umgehe, war wohl nicht nicht reif.

Herzlich
Klara

Verfasst: 28.01.2020, 10:27
von Pjotr
Ich fand die erste Version gut. Und respektvoll ebenfalls. Verstehe die abwertende Interpretation nicht.

(Ich laufe im Winter öfters barfuß, habe einen Bauch, obwohl ich seltenst trinke, benutze manchmal eine Lupe, weil ich meine Lesebrillenkiste nicht in die Hose stecken will, und trage meist Nichtstandard-Mode, und möchte gerne öfters meine Ruhe haben: Wahrscheinlich passe ich auch in die "Komik"-Kategorie.)

Verfasst: 28.01.2020, 11:31
von Klara
Das warst du, Pjotr!

;-)

Verfasst: 28.01.2020, 13:51
von Pjotr
Allerdings trage ich nix gestepptes oder kariertes :-)

Verfasst: 28.01.2020, 17:58
von Nifl
Hallo Klara,


Tja, Nifl, dann habe ich offenbar entweder schlecht/klischeehaft beschrieben oder du siehst Klischees, oder beides.

das ist das Bild, was bei MIR als Leser im Kopf entsteht, nicht mehr und nicht weniger.
Wenn du für Leser wie MICH (oder sogar nur genau für mich) ein anderes Bild willst, muss was dazu oder weg.


Ich werde die frisch gewaschenen Haare ergänzen müssen ;-)

zB.


Jedoch: Es gibt solche Typen, verschiedener Art,

Was es gibt oder was es nicht gibt, spielt für die Literatur überhaupt keine Rolle.


Und die Vielfalt unterschiedlichster Typen, finde ich, macht einen Laden interessant.

ja, ich auch, und?


Naja, mal sehen, wie ich jetzt weiter mit dieser Miniatur umgehe, war wohl nicht nicht reif.

Nun mach mal kein Drama daraus, viel müsstest du doch gar nicht ändern, oder nichts.

Grüße