Das Hemd

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.07.2020, 23:21

„Erlauben Sie mir noch eine Frage,“ sagte meine Therapeutin am Ende der Therapiesitzung. „Sie haben da so ein besonderes Hemd an, wo haben Sie das her?“
Es ist ein grünes Trachtenhemd mit österreichischen Münzen als Knöpfen, das ich im Sozialladen für zwei Euro erstanden habe. Das sagte ich ihr, sie fasste an die Knopfleiste und stellte fest: „Der dritte Knopf von oben fehlt.“ Dabei nickte sie nachdenklich und bejahend. „Sie tragen das Hemd meines toten Großvaters. Alle seine Sachen haben wir in den Sozialladen gegeben, weil niemand seine Größe hatte, mein Vater nicht, mein Mann nicht, und mein Sohn wird sie auch kaum erreichen.“
„Das tut mir leid,“ sagte ich, „wenn ich das gewusst hätte, ich hätte es in die Therapie nicht angezogen. Aber ich wollte mich für Sie extra schön machen, weil Sie so ein netter Mensch sind, weil Sie auch einen autistischen Sohn haben und weil wir nie Schwierigkeiten haben, ein gemeinsames Thema zu finden.“
„Das ist lieb von Ihnen, ich würde Sie in den Arm nehmen, wenn das im Moment nicht verboten wäre. Ich kann Ihnen die Enttäuschung aber nicht ersparen: Mein Großvater war Nazi, er unterstützte die stille Hilfe für Südtirol und leugnete bis zu seinem Lebensende den Holocaust.“
„Dann sollte ich das Hemd vielleicht lieber wieder in den Sozialladen zurückbringen.“
„Nein, tun Sie das nicht, es steht Ihnen gut.“
„Haben Sie Ihren Großvater geliebt?“
„O ja. Er war ein wundervoller Mensch, klug und wohlwollend, zugleich blind für das Böse, aber wundervoll. Ich habe mich vor anderen dafür geschämt, einen Nazigroßvater zu haben, der im Reichsnährstand ein großes Tier gewesen war. Aber wenn man jemanden liebt, für den man sich schämt, das tut so furchtbar weh, und an diesen Schmerz erinnere ich mich, wenn ich Sie in dem Hemd sehe. Der dritte Knopf fehlt, ich muss mal sehen, ob ich ihn noch finde. Wissen Sie, wie die Münzen heißen, die hier als Knöpfe dienen? Das sind Andreas-Hofer-Kreuzer, mein Großvater hat mir die Geschichte von Andreas Hofer erzählt, und bei seiner Hinrichtung haben wir beide geheult!“
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.07.2020, 07:36

Originelle Situation. So ganz "wohlwollend" war die Figur wohl nicht, wenn man selbigen Satz ab dem Wort "zugleich" weiterliest. Diesen "zugleich"-Widerspruch kann man auflösen durch Präzisierung jenes "Wohlwollens". Mit dem "Wundervollen" kann man ebenso verfahren. Nur die "Klugheit" steht unscharf da; die soll sich wahrscheinlich auf das "Wohlwollen" beziehen -- Klugheit an sich ist ja bekanntlich kein Widerspruch zum Bösen, aber da ein "zugleich" folgt, ist der Restsatz damit wohl nicht gemeint. Jedenfalls: Wenn man diese Klugheit als allseits ausgerichtet liest, war er nicht wirklich "blind", sondern klug genug, entweder als innerlicher Antinazi das Böse klug zu verdrängen oder als überzeugter Nazi das Böse klug zu unterstützen. Darüber kann man jetzt spekulieren.

Dass er Andreas Hofer beweint, könnte auf eine freiheitsliebende Denkrichtung hinweisen. Aber das ist relativ. Hitler wollte ja auch die Freiheit. Jeder will Freiheit.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 11.07.2020, 21:38

Hallo Pjotr, Du beziehst Dich auf die Aussage der liebenden Enkelin, und es ist nicht auszuschließen, dass sie ein Moment der Beschönigung enthält. Interessant wäre auch zu erfahren, warum der Ich-Erzähler das Hemd im Sozialladen gekauft hat. Ist er ein Identitärer oder sowas ähnliches? Oder kokettiert er nur mit dem Gegensätzlichen?
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Beitragvon Pjotr » 11.07.2020, 23:24

Hallo Quoth, ja, der Text ist vielschichtig :-) Da ist zum Beispiel noch die Schicht der Therapie-Konstellation. Wovon soll hier geheilt werden? Von Hüftschmerzen oder von psychischen Problemen? Wenn es eine Psychotherapeutin ist, kann man ihr damaliges Ziel, Psychologie zu studieren, mit dem vom Opa verursachten Schmerz verknüpfen, also mit dem Klischee verbinden, dass Psychotherapeuten manchmal selber gewisse Probleme haben und nicht die letzte objektive Instanz darstellen. Und zweitens ist sie vielleicht gerade durch ihre eigene Geschichte spezialisiert für das möglicherweise naziöse Problem ihres Patienten. Aber vielleicht geht es auch nur um die Hüftschmerzen eines linken Sozialpädagogen, und sie macht mit ihm Gymnastik ...


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