Der Brief von deiner Mama, die dich nie kennenlernen durfte

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Liesel
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Beitragvon Liesel » 08.11.2020, 16:18

4. November 2020

Mein liebes Kind,

Ich bin immer noch traurig wegen dem, was passiert ist. Auch wenn dein Papa und ich von Anfang an sagten, dass das Schicksal entscheiden soll und wir das dann hinnehmen werden. Aber es immer wieder auszusprechen, ihm immer wieder mit Akzeptanz begegnen zu wollen… das bringt mich manchmal dazu, gar nicht richtig traurig sein zu können.
Und manchmal sollte ich weinen dürfen, weil das mir hilft, die Steine zu lockern, die auf meinem Herzen liegen und schmerzhafte Abdrücke hinterlassen.
Und deshalb darf - und sollte ich auch ab und zu traurig sein.
Manchmal tut es noch an der Stelle weh, an der sie mir dich weggenommen haben. Dich, mein kleiner Engel, der du mir die größte Freude und leider auch ein großes Leid bereitet hast. Ich liebe dich und werde mich immer an dich erinnern, auch wenn ich weiß, dass du in den Augen mancher Menschen noch kein „richtiger Mensch“ warst. Für mich warst du das jedenfalls, als die Ärzte mir sagten, dass ich mit dir schwanger bin. Und schließlich darf ich ganz allein entscheiden, was ich da so in meinem Herzen spüre.

Deine Mama, die dich nie küssen und in den Arm nehmen konnte.
Zuletzt geändert von Liesel am 08.11.2020, 19:46, insgesamt 1-mal geändert.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 08.11.2020, 16:57

Hui Liesel,

oh, ein Text, der traurig macht ohne Traurigkeit zu diktieren.
Gefällt mir gut, auch dass die Mutter nicht krampfhaft im zugewandten Briefschema verharrt, sondern sich erlaubt, sich selbst zu reflektieren. Besonders "schön" finde ich natürlich diesen Satz:
Manchmal tut es noch an der Stelle weh, an der sie mir dich weggenommen haben.


So eine laute schwere Thematik ist fast unmöglich kitschfrei zu formulieren, meine Grenze hast du nicht deutlich überschritten. Vermutlich auch, weil es ehrlich wirkt.

Viele Grüße
Nifl

PS.
es immer wieder mit Akzeptanz begegnen zu wollen…


"dem" Schicksal, also "ihm" immer wieder?
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Kurt
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Beitragvon Kurt » 08.11.2020, 17:42

Ja, da schließe ich mich Nifl an.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Liesel
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Beitragvon Liesel » 08.11.2020, 19:50

Hallo Nifl und Kurt,

vielen Dank für eure Reaktionen. Manchmal fühle ich mich etwas unsicher in der deutschen Sprache, da ich sie in den letzten zwei Jahren immer weniger praktiziere. Nifl, du hast absolut recht, es sollte "ihm" und nicht "es" heißen. Normalerweise habe ich auch große Schwierigkeiten mit kitschigen Worten und abgegriffenen Floskeln, nur habe ich bei diesen Text keine Alternativen gefunden, die mir gefallen hätten.

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birke
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Beitragvon birke » 08.11.2020, 22:25

liebe liesel,

bewegendes thema, jedoch die umsetzung überzeugt mich nicht zur gänze. besonders hadere ich hiermit:

Dich, mein kleiner Engel, der du mir die größte Freude und leider auch ein großes Leid bereitet hast.


es ist doch nicht das kind, das "ein leid" zufügt, sondern vielmehr der umstand?

und zum schluss: warum "konnte"? "kann" wäre für mich treffender.

noch eine erbsenzählerei:

als die Ärzte mir sagten, dass ich mit dir schwanger bin


wirklich mehrere ärzte?

aber dies finde ich schön, eindrücklich:

die Steine zu lockern, die auf meinem Herzen liegen und schmerzhafte Abdrücke hinterlassen


lg, birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/


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