Leichenschmaus

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Epiklord
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Beitragvon Epiklord » 01.08.2021, 20:05

Miriam hatte mich eingeladen, spätabends spiegelte sich in ihren dunklen Augen die Glut des Grauens. Überall lodert sie wieder. Einmal sah ich auf dem Grill des Nachbarn einen Schweinekopf, dessen Augen wie Tränen zerflossen. Miriam leckte sich die Finger ab vom noch blutigem Lamm. Ich konnte da nicht weiter dran teilhaben, verließ die Party für Zwei.

Es gibt Tierarten, die haben soviele Nachkommen, da fressen die Eltern ihre frisch geschlüpften Kinder. Würde ich zu dieser Art gehören, würde es mir wahrscheinlich nichts ausmachen, die Kinder zu fressen. Der Mensch tut es nicht, weil es ihm angeboren ist, er es dem Umstand zu verdanken hat, über wenig Nachkommen zu verfügen, die er nur deswegen nicht frisst, weil der Bestand seiner Art sonst gefährdet wäre, und nicht weil er so herzensgut ist, wofür er sich gerne hält.

Ein paar Tage später starb Miriams Vater. Sie hatte mich eingeladen zum Leichenschmaus; man wollte dem alten Herrn eine letzte Ehre erweisen. Es gibt Tierarten, die fressen ihre Toten, welch herrlich direkte Ehrerweisung ohne große Worte.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 01.08.2021, 20:13

die er nur deswegen nicht frisst, weil der Bestand seiner Art sonst gefährdet wäre, und nicht weil er so herzensgut ist

Glaubt der Autor an ein "übergeordnetes" System von "Gut & Böse"?

Ich denke, wenn man mit so einer Denkweise anfängt, verstrickt man sich in unendliche Relativitäten.

Gut und böse sind immer relativ, ganz egal, wo man die Gedankenkette beginnt. Das führt zu keiner weiteren Erkenntnis.

Ich schlage einen Bären, um mein Kind zu retten. Für den Bären bin ich das Böse. Der Bär braucht Fleisch für seine Kinder. Er möchte Gutes tun.

Also, letztendlich ist das Gute immer eine Sache der Lebens-Perspektive. (Ich glaube nicht an Götter.)

Deshalb sind Demokratie und Kompromiss-Verhandlungen so wichtig im Leben. Irgendeiner macht immer irgendeinem anderen etwas kaputt. Es geht darum, den Schaden zu minimieren. Ganz verhindern geht nie.

Epiklord
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Beitragvon Epiklord » 01.08.2021, 20:28

Nein, die Evolution kennt kein Gut und Böse. Da geht es nach anderen Regulatoren.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 01.08.2021, 22:46

Da sind wir uns einig.

Aber was meint dieser Satz konkret?

"... nicht weil er so herzensgut ist ..."

Meint er, ...

a) ... dass die Kategorien "Gut & Böse" durchaus in der Welt sind, und dass diese Grill-Party böse ist statt gut?

b) ... dass die Kategorien "Gut & Böse" generell nur einer beliebig formbaren Gerechtigkeits-Fantasie entspringen und daher alles weder gut noch böse ist?

Ich sage b).


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