Als käme sie aus dem Meer
Verfasst: 06.10.2022, 11:10
.
Frau Lindberg wohnt im gleichen Mietshaus wie meine Eltern am Rande der Stadt. Man sagt, sie könne die Gedanken anderer Menschen hören. Wenn sie redet, klingt ihre Stimme wie gekräuseltes Wasser. Manchmal begegnen wir uns im nahegelegenen Lundpark. Heute lächelt sie mich an und wir setzen uns auf eine Bank. Mein Mädchen, klar bist du schön. Und klar kannst du was. Deine Eltern sind nicht sehr geschickt darin, dich zu verstehen oder gar dich zu stärken. Das musst du selbst übernehmen. Woher weiß sie nur immer. Sie duftet nach Holz und Lavendel, eine herrliche Mischung, die mich an eine entfernte Kindheit erinnert. Erwachsen. Du bist jetzt erwachsen, so sagen sie. Dabei fühle ich mich überhaupt nicht so, will es auch gar nicht. Im Grunde will ich nur ernst genommen werden, so wie jeder Mensch, wie auch jedes Kind. Ja, genau darum geht es. Unheimlich, wie sie antwortet, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen. In ihrem Blick liegt Grün. Ihre Sprache ist dunkelblau. Jetzt legt sie eine Hand auf meinen Arm. Weißt du, damals, als meine Emma gestorben ist, machte ich mir Vorwürfe. Ich habe ihr nicht zugehört. Ich habe sie nicht gesehen. Aber du spürst mich, hat sie dann gesagt, und dass das alles wett mache. Und das ist es nun, was ich weiterhin versuche: die Menschen zu fühlen. Ihre Lippen sind Wellen. Ich glaube, das können Sie gut. Das denke ich nicht nur, sondern sage es. Und ich glaube, du kannst das auch. Denk mal an das Feuer vor ein paar Jahren. Du hast es vorausgesehen, geahnt und konntest die richtigen Maßnahmen treffen. Ohne dich wäre Maria womöglich verbrannt. Das war doch selbstverständlich. Und bemerkt hat das niemand außer Ihnen. So sind die Menschen. Sie sehen nur das, was auf der Hand liegt. Frau Lindberg erhebt sich und ihre Hand zu leisem Winken. Ein Schmetterling. Oder ein Möwenkind. Ich blicke ihr lange nach.
.
Frau Lindberg wohnt im gleichen Mietshaus wie meine Eltern am Rande der Stadt. Man sagt, sie könne die Gedanken anderer Menschen hören. Wenn sie redet, klingt ihre Stimme wie gekräuseltes Wasser. Manchmal begegnen wir uns im nahegelegenen Lundpark. Heute lächelt sie mich an und wir setzen uns auf eine Bank. Mein Mädchen, klar bist du schön. Und klar kannst du was. Deine Eltern sind nicht sehr geschickt darin, dich zu verstehen oder gar dich zu stärken. Das musst du selbst übernehmen. Woher weiß sie nur immer. Sie duftet nach Holz und Lavendel, eine herrliche Mischung, die mich an eine entfernte Kindheit erinnert. Erwachsen. Du bist jetzt erwachsen, so sagen sie. Dabei fühle ich mich überhaupt nicht so, will es auch gar nicht. Im Grunde will ich nur ernst genommen werden, so wie jeder Mensch, wie auch jedes Kind. Ja, genau darum geht es. Unheimlich, wie sie antwortet, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen. In ihrem Blick liegt Grün. Ihre Sprache ist dunkelblau. Jetzt legt sie eine Hand auf meinen Arm. Weißt du, damals, als meine Emma gestorben ist, machte ich mir Vorwürfe. Ich habe ihr nicht zugehört. Ich habe sie nicht gesehen. Aber du spürst mich, hat sie dann gesagt, und dass das alles wett mache. Und das ist es nun, was ich weiterhin versuche: die Menschen zu fühlen. Ihre Lippen sind Wellen. Ich glaube, das können Sie gut. Das denke ich nicht nur, sondern sage es. Und ich glaube, du kannst das auch. Denk mal an das Feuer vor ein paar Jahren. Du hast es vorausgesehen, geahnt und konntest die richtigen Maßnahmen treffen. Ohne dich wäre Maria womöglich verbrannt. Das war doch selbstverständlich. Und bemerkt hat das niemand außer Ihnen. So sind die Menschen. Sie sehen nur das, was auf der Hand liegt. Frau Lindberg erhebt sich und ihre Hand zu leisem Winken. Ein Schmetterling. Oder ein Möwenkind. Ich blicke ihr lange nach.
.