Als ich in der fünften Klasse meine Englischlehrerin frug, ob sie mit mir schlafen wolle
Da war ich elf, kurz vor Pubertätsbeginn. Ich war schon immer der leise, schüchterne Typ, der nicht viel sprach und lieber Bilder malte, die mit Musik zu tun hatten und mit Humor, aber immer verschlossen zum introvertierten Selbstvergnügen. Manchmal allerdings gabs Momente, da hatte ich einen übermäßigen Drang, aus humoristischer Experimentierfreudigkeit heraus, trotz Scheu, offen etwas riskantes zu sagen, weil meine Intuition den entsprechenden Moment als dermaßen richtig voraussagte, dass das, was ich gleich sagen würde, einfach nicht schiefgehen konnte, trotz gewissen Restrisikos.
Beispiel. Ich muss kurz ausholen. -- Die großartige Soul-Sängerin Patti LaBelle mit ihrer Wahnsinnstimme, weltberühmt seit den 1960ern, war zum ersten Mal 1975 im deutschen TV zu sehen, mit ihrer Band Labelle und ihrem aktuellen Welthit "Lady Marmalade"; dazu trugen sie eine lustige Kombination aus brasilianischen Karnevalshauben und Silber-Astronautenanzug-Resten der ausgehenden Glamrock-Ära. Der Hit kam in meinem Umfeld sehr gut an. Mich begeisterte der auch, zumal ich allgemein, schon damals, auf schwarze Soulmusik abfuhr.
In den folgenden Tagen musste ich meine Begeisterung irgendwie verarbeiten, auch im Schulbetrieb. Wie verarbeiten? Beispielsweise, indem man darüber spricht, was im Refrain die französische Zeile "Voulez Vous Coucher Avec Moi Ce Soir" bedeuten könnte. Ich hatte die leise Ahnung, dass diese Angelegenheit wohl eher etwas für Erwachsene sein würde. Was geschähe, wenn ich diesbezüglich eine Lehrkraft fragen würde? Wozu ist die Schule da? Würde ich wegen frecher Frivolität bestraft werden? Ich entschied mich, meine Englischlehrerin zu konsultieren, persönlich, am Ende der Stunde. Französisch hatten wir noch nicht, aber ich wusste, dass sie auch dieses Fach lehrte.
Sie gehörte zu der Sorte von Lehrkräften, die jeden einzelnen jungen Menschen respektierte, und sie war immer ernsthaft bemüht, Lebensnützliches beizubringen -- im Gegensatz zu manch anderen Lehrern, die ins Klassenzimmer reinwetzten, ihren Stoff runterspulten, und wieder rausflitzten. Meine Englischlehrerin war nicht so, ich fand sie sehr nett. Nicht im erotischen Sinn, sondern so als Mensch. Ich interessierte mich außerdem für Verhaltensforschung, insbesondere für das Verhalten der Erwachsenen. Nun denn, die Schulglocke läutete am Ende der Stunde, die Kinder strömten aus dem Klassenzimmer, und ich startete wie geplant meine Forschungs-Expedition vor zum Lehrertisch, wo sie stehend ihre Sachen in die Tasche packte, hinter ihr die frisch gewischte große Tafel. Nun stand ich vor ihr und blickte zu ihr hinauf: "Sie sind doch auch Französischlehrerin?" -- "Ja." -- "Da gibts doch ... äh ... dieses ... äh ... Wulewukuscheh Awekmoa Se Soar?"
Welche Reaktion erwartete ich von ihr an dieser Stelle? Zornesblick? Kopfexplosion? -- Sie lächelte, und ich meinte sogar, eine leichte Schamesröte in ihrem Gesicht zu erkennen, war aber nicht sicher zu erkennen, denn sie drehte sich schnell um zur Tafel und schrieb darauf in großen Buchstaben jene Zeile. Um eine solche Ausführlichkeit hatte ich eigentlich nicht gebeten. Warum wandte sie sich der Tafel zu, fragte ich mich als Verhaltensforscher. Vielleicht, um ihre Errötung zu verbergen? (Falls sie überhaupt eine bekam.) Oder weil sie schlichtweg immer bemüht war, dass wirklich jedes Kind den Stoff richtig begreift? Spannend. Schließlich übersetzte sie den Satz oral ins deutsche und dabei nickte sie; sie nickte in dem Sinn, dass ihr der Song bekannt war. Ich nickte auch, im Sinn von "Aha!" und "Dankeschön!" In dem Moment hatte ich viel gelernt, nicht nur die Übersetzung.
https://www.youtube.com/watch?v=Vz89H0DfVTk&t=6s
Als ich meine Englischlehrerin frug
sehr schöne anekdote, was für eine feine feinfühlige lehrerin, die nicht einfach nur abwinkt oder hochroten kopfes aus der klasse stürmt, lach! gern gelesen. (eine frage nur, warum verwendest du das altertümliche "frug"?)
Weil das so schön altertümlich klingt :-) Ich wollte generell ein bisschen ironischen Kontrast erzeugen zwischen kindlicher Perspektive und gestelzter, rückbesinnter Gedankensprache. Klein versus gestelzt. Damit die Erzählung sich etwas grotesker oder skurriler anhört. Ist der Text insgesamt noch zu "normal", dass "frug" eher wie ein Stilfehler wirkt als eine stilistische Absicht? -- Hmm, eigentlich finde ich "frug" gar nicht mal sooo altertümlich :-)
Danke für Deinen Kommentar.
Danke für Deinen Kommentar.
mir erscheint es als fremdkörper im text, aber das mag geschmacksache sein. :)
das Wort ´frug´ in der Titelzeile fand ich vom ersten Moment an passend, schon ohne nachfolgenden text, allein deshalb, weil es mit dem restlichen Inhalt der titelzeile (nicht nur klanglich) harmonisch korrespondiert, intuitiv hätte ich mir allein schon deshalb so einen nachfolgenden Text vorstellen können, ohne ihn gelesen zu haben.
ja, hier im text empfinde ich es inzwischen als feine ironie, was ja auch passt.
Ich finde es schön, wenn altmodisch Klingendes lange erhalten bleibt, so ist der Spielplatz der deutschen Sprache doch viel größer. Mein Motto in jeder Hinsicht: Ergänzen statt ersetzen. Schlagartiges Ersetzen schränkt ein; das ist nicht gut. Ergänzen erweitert; das mag ich. Vielfalt statt Einfalt. In der Musik ist es ja auch so; noch nie hat ein neuer Stil einen alten ersetzt. Sondern: Es gibt immer mehr Stile, während die alten im Repertoire bleiben.
Eine hübsche Szene, und auch angenehm dargestellt. Das "frug" wirkt auf mich leicht schräg, aber auf eine positiv-verschrobene Weise. Das "oral" zum Schluss ist auch etwas auffällig, passt aber zum irgendwie erotisch gefärbten Kontext. Nur bei der Errötung bin ich mir nicht sicher, ob man die "bekommen" kann.
Ansonsten: Hat sie m.E. gut gemacht, deine Lehrerin -- was immer einem an Bällen zugespielt wird, versuche man didaktisch nutzbar zu machen.
...und danke für den Ohrwurm, den ich schon fast vergessen hatte.
Ansonsten: Hat sie m.E. gut gemacht, deine Lehrerin -- was immer einem an Bällen zugespielt wird, versuche man didaktisch nutzbar zu machen.
...und danke für den Ohrwurm, den ich schon fast vergessen hatte.
Das habe ich gern gelesen, gewissermaßen mit voyeuristischem Vergnügen. Am Ende war ich ein bisschen enttäuscht, weil ich mich anfangs gespannt frug, was nun wohl kommen mochte. Schlichte, unaufgeregte Didaktik fand ich dann ein bisschen blass - nix zum ERröten
à propos Erröten: "(Falls sie überhaupt eine bekam.) " könnte man ersetzen - nicht ergänzen - durch: Falls es die überhaupt gegeben hatte. Oder einfach weglassen, es steckt schon im "Vielleicht, um ihre Errötung zu verbergen", wenn man dieses umformuliert in "Vielleicht, um eine Errötung zu verbergen".
In "Sie lächelte, und ich meinte sogar, eine leichte Schamesröte in ihrem Gesicht zu erkennen, war aber nicht sicher zu erkennen" ist das "erkennen" unschön wiederholt.
Schamesröte erscheint mir zu stark - warum Scham? - Verlegenheit wäre ausreichend, Geschmeicheltsein, Unsicherheit -, und auch zu erklärend. Das bräuchte es hier für mich ohnehin nicht.
Erkennen ist m. E. auch zu viel, auch wenn da ja ein Forscher spricht. Dann lieber:
Sie lächelte, und ich bildete mir ein, eine leichte Röte in ihrem Gesicht zu entdecken, doch es lag im Schatten, ich könnte mich getäuscht haben.
Übrigens erzählt der Text, wie immer, mehr über den Ich-Jungen als über die Lehrerin.
Fast kommt es mir vor, dass auch der Ich-erzähler ein klein bisschen enttäuscht war ob der souveränen Reaktion seiner Lehrerin. Aber das mag ich mir - wie dieser das Erröten der Geschätzten - einbilden.
Edit: Was er gelernt haben will, erschließt sich mir nicht. Wahrscheinlich ist das der Hauptgrund für meine Enttäuschung.
à propos Erröten: "(Falls sie überhaupt eine bekam.) " könnte man ersetzen - nicht ergänzen - durch: Falls es die überhaupt gegeben hatte. Oder einfach weglassen, es steckt schon im "Vielleicht, um ihre Errötung zu verbergen", wenn man dieses umformuliert in "Vielleicht, um eine Errötung zu verbergen".
In "Sie lächelte, und ich meinte sogar, eine leichte Schamesröte in ihrem Gesicht zu erkennen, war aber nicht sicher zu erkennen" ist das "erkennen" unschön wiederholt.
Schamesröte erscheint mir zu stark - warum Scham? - Verlegenheit wäre ausreichend, Geschmeicheltsein, Unsicherheit -, und auch zu erklärend. Das bräuchte es hier für mich ohnehin nicht.
Erkennen ist m. E. auch zu viel, auch wenn da ja ein Forscher spricht. Dann lieber:
Sie lächelte, und ich bildete mir ein, eine leichte Röte in ihrem Gesicht zu entdecken, doch es lag im Schatten, ich könnte mich getäuscht haben.
Übrigens erzählt der Text, wie immer, mehr über den Ich-Jungen als über die Lehrerin.
Fast kommt es mir vor, dass auch der Ich-erzähler ein klein bisschen enttäuscht war ob der souveränen Reaktion seiner Lehrerin. Aber das mag ich mir - wie dieser das Erröten der Geschätzten - einbilden.
Edit: Was er gelernt haben will, erschließt sich mir nicht. Wahrscheinlich ist das der Hauptgrund für meine Enttäuschung.
Klara hat geschrieben:Das habe ich gern gelesen, gewissermaßen mit voyeuristischem Vergnügen.
Danke sehr!
Klara hat geschrieben:Am Ende war ich ein bisschen enttäuscht, weil ich mich anfangs gespannt frug, was nun wohl kommen mochte. Schlichte, unaufgeregte Didaktik fand ich dann ein bisschen blass - nix zum ERröten ;-)
Du Feministin, du :-) "Er" in Verlegenheit hätte Dir natürlich besser gefallen :-)
Klara hat geschrieben:à propos Erröten: "(Falls sie überhaupt eine bekam.) " könnte man ersetzen - nicht ergänzen ;-) - durch: Falls es die überhaupt gegeben hatte. Oder einfach weglassen, es steckt schon im "Vielleicht, um ihre Errötung zu verbergen", wenn man dieses umformuliert in "Vielleicht, um eine Errötung zu verbergen".
In "Sie lächelte, und ich meinte sogar, eine leichte Schamesröte in ihrem Gesicht zu erkennen, war aber nicht sicher zu erkennen" ist das "erkennen" unschön wiederholt.
Schamesröte erscheint mir zu stark - warum Scham? - Verlegenheit wäre ausreichend, Geschmeicheltsein, Unsicherheit -, und auch zu erklärend. Das bräuchte es hier für mich ohnehin nicht.
Erkennen ist m. E. auch zu viel, auch wenn da ja ein Forscher spricht. Dann lieber:
Sie lächelte, und ich bildete mir ein, eine leichte Röte in ihrem Gesicht zu entdecken, doch es lag im Schatten, ich könnte mich getäuscht haben.
Gute Vorschläge. Muss darüber nachdenken. Zum einen ist mir die analytische Forschersprache schon wichtig in dieser Szene (Deine Vorschläge tendieren meiner Empfindung nach zu sehr in eine komplimentorientierte, anbahnende Liebesszene). Zum anderen enthält die Farbe rot mehr "show, don't tell". Verlegenheit halte ich für ziemlich synonym zu Scham. Und auch für "Verlegenheit" würde ich gerne ein Bild liefern, und wenns nur die Gesichtsfarbe ist.
Klara hat geschrieben:Übrigens erzählt der Text, wie immer, mehr über den Ich-Jungen als über die Lehrerin.
Das ist Absicht :-) Ist das außergewöhnlich aus so einer Ich-Erzähler-Sicht?
Was meinst Du mit "wie immer"? Meinst Du das in Bezug auf alle "Ich"-Erzählungen der Welt? Oder speziell auf "Jungen"-Texte? Oder speziell auf meine Ich-Figuren? Oder auf mich persönlich? Dazu muss ich sagen, dass ich im Blauen Salon in den letzten 18 Jahren genau 3 autobiografische Prosa-Texte reingestellt habe. Der obige ist der dritte.
Der erste mit dem Titel "Zwanzig" (rückbesinnend in das Jahr 1975) ist hier:
viewtopic.php?p=241415#p241415
Der zweite mit dem Titel "Fuge" (Impression von 2021 und rückbesinnend in die Jahre vor 1967) ist da:
viewtopic.php?p=243405#p243405
Klara hat geschrieben:Fast kommt es mir vor, dass auch der Ich-erzähler ein klein bisschen enttäuscht war ob der souveränen Reaktion seiner Lehrerin. Aber das mag ich mir - wie dieser das Erröten der Geschätzten - einbilden.
Einbildung. Ich wollte ihr keinen Streich spielen oder so; dazu gabs auch keinen Anlass, denn sie war immer nett zu mir. Es war eine ergebnisoffene Forschungsreise. Ich habe mich damals, was Literatur betrifft, tatsächlich mehr für wissenschaftliche Sachbücher interessiert als für Romane und dergleichen. Das war wirklich reine sachliche Neugier und Abenteuerlust am offenen Ausgang :-)
Klara hat geschrieben:Edit: Was er gelernt haben will, erschließt sich mir nicht. Wahrscheinlich ist das der Hauptgrund für meine Enttäuschung.
Das Ende halte ich für zweitrangig; es gibt leider keine Pointe.
Ich dachte, wenn schon autobiografisch, dann ganz. -- Keine fiktionalen Elemente :-)
Naja, da gabs einiges zu lernen für einen 12-jährigen:
• Wer wagt, gewinnt Erkenntnis direkt in der Feldstudie :-)
• Es gibt unter all den verschlossenen Typen auf der Schule durchaus einige wahrlich offene Menschen
• Man kann langsam seiner wachsenden Menschkenntnis vertrauen (das Risiko schätzte ich als gering ein)
• Auch erwachsene Frauen können, so dies der Fall war, vor kleinen Jungen verlegen werden
• etc.
Was meinst Du mit "wie immer"? Meinst Du das in Bezug auf alle "Ich"-Erzählungen der Welt? Oder speziell auf "Jungen"-Texte? Oder speziell auf meine Ich-Figuren? Oder auf mich persönlich?
Das meinte ich allgemein.
Zum Erröten, Verlegenheit, Scham: Vielleicht reicht das Erröten, es ist allen Lesenden klar, dass es um Verlegenheit geht, oder um Scham. (Übrigens wirkt Verlegenheit oft ansteckend, wenn sie errötet, wird es vermutlich dem Fragenden auch ein wenig peinlich sein.)
Verlegenheit ist etwas anderes als Scham. Für mein Sprachempfinden geht Scham tiefer, und auch nicht einfach so weg. Verlegenheiet ist situativ, bleibt mehr an der Oberfläche. Deshalb meinte ich, dass Scham zu viel ist in diesem Zusammenhang: Warum sollte sich die nette Lehrerin mit dem vermutlich ausgeglichenen, gesunden Sexualleben vor dem kleinen Jungen schämen? Scham wäre angebracht, wenn sie sich erotisch angeregt fühlte von ihm. Denke ich. Verlegen dagegen ist jede Person, wenn es um "solche Themen" geht. Zumal sie ja nicht wissen kann, wie aufgeklärt ihr Schüler ist, ob sie mit zu vielen Fakten die Erziehungsmethoden der Eltern konterkariert u. Ä.
stimme klara zu, was verlegenheit und scham betrifft, ich empfinde den unterschied genauso.
und diese stelle mit der errötung wäre durch "vielleicht, um eine errötung zu verbergen" gut gelöst, meine ich.
und diese stelle mit der errötung wäre durch "vielleicht, um eine errötung zu verbergen" gut gelöst, meine ich.
Gut, ich denke, ich verstehe Eure Differenzierung zwischen Scham und Verlegenheit. Wenn ich die beiden eher synonym empfinde, dann meine ich diese Gleichheit rein visuell, mit dem Auge des Regisseurs oder Malers. Also die Gestik, Mimik, die Kopfhaltung und Körperhaltung würde ich bei einem Schamgefühl optisch gleich gestalten wie bei einem Verlegenheitsgefühl. Das ist mein Hintergrund. Der visuelle im Theaterbetrieb, sozusagen. Sehe ich das auch hier zu grob? Seht Ihr auch da im visuellen Ausdruck Unterschiede zwischen Scham und Verlegenheit?
Auf jeden Fall werde ich den Text noch verfeinern. Danke für Eure guten Vorschläge. Übrigens kommt einmal "fragte" vor. Ich weiß nicht mehr, ob das Absicht war :-) Was ist besser, konsistent "frug" oder Abwechslung? :-)
Auf jeden Fall werde ich den Text noch verfeinern. Danke für Eure guten Vorschläge. Übrigens kommt einmal "fragte" vor. Ich weiß nicht mehr, ob das Absicht war :-) Was ist besser, konsistent "frug" oder Abwechslung? :-)
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