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Die Cthulhu-Chroniken -- Episode 2 -- Verbleib

Verfasst: 19.12.2023, 15:05
von Mnemosyne
Wie die Dinge sich entwickeln, gefällt mir ganz und gar nicht. Ich muss dringend die Zügel wieder in die Hand nehmen. Was mir an Sicherheit fehlt, versuche ich durch Lautstärke wettzumachen. "Was fällt dir überhaupt ein, hier einfach hereinzuschneien und das hier deine Wohnung nennen? Hat sich was! Du hast hier überhaupt nichts verloren! Ich schmeiß' dich einfach wieder raus!"

Wieder geht diese Welle durch die Tentakel, nur diesmal etwas heftiger. "Versuch's doch mal. Auf den Versuch bin ich gespannt!"

"Wo soll da das Problem sein? Du gehst mir mir nicht mal bis zum Knie und wiegst vielleicht 500 Gramm. Ich pack dich jetzt jetzt an einem von deinen Beinchen und werfe dich mit Schwung zur Wohnungstür heraus!"
(Falls Du noch weißt, wo das ist: "heraus", schießt mir eine Stimme durch den Kopf, die nicht meine zu sein scheint – und die ich nicht gehört zu haben beschließe.)
"Dann kannst Du es mit deinen Dekorationskünsten im Treppenhaus versuchen, und wenn Du Glück hast, nimmt die kleine Tochter von den Leuten über mir dich in ihre Kuscheltiersammlung auf!"

Die Welle kommt zum Stillstand. Die Tentakel werden starr, krümmen sich zu Cthulhus Gesicht zurück und schießen dann mit den Spitzen auf mich zu, wie ein Nest angriffslustiger Schlangen sieht das aus, oder als schleudere er Speere nach mir.

"Junge! Du kannst gerne mal versuchen, mich 'rauszuschmeißen'. Ich hab' gerne was zu lachen. Aber wenn Du versuchst, mich an meinem Bein hochzuheben oder sonstwie respektlos zu behandeln, wirst Du hinterher nicht einmal mehr in deinen schrecklichsten Alpträumen zusammen kriegen, was ich mit dir gemacht habe!"

Das sitzt. Eigentlich hatte ich mich ja gerade entschlossen, das Ding als das zu behandeln,was es ist: Ein kleines, häßliches Kuscheltier. Eigentlich, sage ich mir, habe ich das auch immer noch vor.

Aber ein wenig Vorsicht kann ja nicht schaden.

Ich schiebe beide Hände von hinten unter Cthulhu, so dass er auf meinen Handflächen sitzt wie ein König in einer Sänfte. Jetzt aber wirklich schnell raus mit dem Ding! Ich renne zur Wohnzimmertür heraus.

Soweit zumindest der Plan. Tatsächlich renne ich dort, wo sich die Wohnzimmertür vor zwei Minuten noch befunden hat, vor eine glatte, weiße Wand. Nichts deutet auch nur entfernt auf eine Öffnung hin.

Die Welle ist wieder da. Anscheinend macht er sich über mich lustig.

Nicht mit mir, denke ich. Dann eben aus dem Fenster. Ich drehe mich um und mache ein, zwei Schritte in die Richtung, wo die Fenster gerade noch waren. Jetzt ist auch dort nur – eine weiße Wand. Ich befinde mich in einem Raum ohne Öffnungen, allein mit dem textilenen, aber offenbar sehr wirkmächtigen, Ebenbild einer monströsen Gottheit.

Auf meinen Handflächen dreht sich Cthulhu zu mir um. Die Tentakelwelle plätschert fröhlich über sein Gesicht. Aber da ist noch etwas anderes. Die einzelnen Tentakel zittern leicht in der Welle, wie in gespannter Erwartung. "Na, und jetzt?"

Ich schaue mich verzweifelt um.

Ich sehe eine Wand. Dort, wo ich noch eben in der Zimmermitte stand.

Scheiße, denke ich, jetzt bewegen sich auch noch die Wände auf mich zu!

"Keine Ideen mehr für unser Spiel?", höre ich eine Stimme von meinen Händen, "Na, ich schon!"

Im nächsten Moment ist es stockdunkel bis auf zwei rote, glühende Punkte direkt vor mir. Cthulhus Augen. Irgendwo in der Finsternis (vielleicht aber auch nur in meinem Kopf?) ertönt eine leise Stimme: "Immer noch keine Idee? Dann hätte ich einen Vorschlag. Einen richtig guten. Du könntest sagen: 'Botschaft angekommen. Lektion gelernt. Bleib', solange Du willst!'. Glaub mir, das ist ein sehr guter Vorschlag. Das ist sogar der mit Sicherheit beste Vorschlag, den Du je in deinem Leben gehört hast."

"Botschaft angekommen", stammele ich, "Lektion gelernt. Du kannst bleiben."

"Freut mich zu hören.", sagt Cthulhu, und im nächsten Moment ist das Licht wieder an, Türen, Wände und Fenster wieder da, wo sie sein sollten.

Vorsichtig setze ich Cthulhu wieder auf das Sofa.

"Ein Satz mit x – das war wohl nix.", meint er. "Aber schon irgendwie lustig. Willst Du es nochmal versuchen?"

Ich schüttele stumm den Kopf.

"Komm schon", sagt Cthulhu einladend, "diesmal mach' ich auch nichts dagegen. Versprochen."

"Im Ernst?", gebe ich verblüfft zurück.

"Im Ernst." Die Tentakel stehen paarweise stramm, wie zum Eid aneinander gelegte Finger. "Großes altes Indianerehrenwort. Du kannst mich einfach rauswerfen. Wenn es das ist, was Du willst."

"Klar will ich das!", erwidere ich. "Warum sollte ich das denn nicht wollen?"

Statt zu antworten, lässt Cthluhu seinen Blick durch mein Wohnzimmer schweifen, das ich zugleich als Schlafzimmer benutze. Wie ein Laserstrahl fokussieren die roten Augen den Stapel Pizzakartons, der zur Entsorgung an der Tür steht, die ungewaschenen Klamotten, die über verschiedenen Möbelstücken und auf dem Boden liegen, neben der schmalen Matratze mit einem Kissen und einer Decke; den wackligen kleinen Tisch mit dem einzigen Stuhl im Zimmer auf der einen und dem Fernseher auf der anderen Seite; die vier Becher auf dem Schrank, von denen drei völlig verstaubt sind; meine VR-Brille und meine drei Spielekonsolen neben einem überquellenden Regal mit Videospielen. Mit den Brettspielen im untersten Fach, auf denen ebenfalls fingerdick der Staub liegt. Mir ist, als würde ich unter seinen Blicken schrumpfen.

"Du kriegst nicht viel Besuch, oder?"

"Was soll das denn jetzt? Klar kriege ich Besuch!", widerspreche ich, "letztens erst war ein Kollege hier!" Falsch ist das nicht. Als ich hier eingezogen bin, hat mir ein Kollege den Tisch spendiert. Den hatte er noch im Keller und wollte ihn loswerden. Netterweise hat er ihn hergebracht, ehe er gleich wieder gefahren ist. Das war vor vier Jahren. Ich schaue verlegen zu Cthulhu herüber. Unsere Blicke treffen sich. Hoffentlich fragt er nicht weiter nach.
Doch damit gibt er sich gar nicht erst ab. "Blödsinn", stellt er nüchtern fest. "Und sonst ist in deinem Leben auch nicht viel los. Jede Wette, das gerade eben war das aufregendste, was dir in den letzten drei Jahren passiert ist."

"Toll. Das könnte man auch sagen, wenn mir ein Klavier auf den Kopf gefallen wäre."

Cthulhu blickt wieder wie-auch-immer von unten auf mich herab. "Ich präzisiere meine Aussage. Es war nicht nur das aufregendste Erlebnis, nicht bloß der höchste Gipfel in einem Gebirge aufregender Erfahrungen; es war ein einsamer Eisberg im Polarmeer, das World Trade Center in New York..."

"Das gibt es doch gar nicht mehr!", protestiere ich.

"Stimmt auch wieder", gibt Cthulhu zurück. "Ich muss schon sagen. Meine Fans haben so etwas noch nie für mich getan." Er lässt ein wenig die Tentakel hängen.

"Und außerdem gibt es in New York noch eine Menge anderer hoher Gebäude!"

"Meinetwegen." Die Fangarme wedeln durch die Luft, als wollten sie Fliegen verscheuchen. "Dann eben Barad-dûr in der Ödnis von Mordor, oder, vielleicht passender" -- fährt er fort, ehe ich "Schicksalsberg" und "Ered Lithui" einwerfen kann, und blickt sich noch einmal um -- "eine Fernsehantenne auf einem Flachdach, kurz: Das einzige Erlebnis seit Jahren, für das das Wort "aufregend" auch nur entfernt infrage kommt. Stimmt's?"

Ich schweige verbissen.

"Ein einzelner Farbklecks in einem grauen und öden Alltag."

Ich verschränke die Arme.

"Eine Oase in der Wüste."

Ich verdrehe die Augen.

"Ein Sonnenstrahl, der durch eine dunkle Wolkendecke bricht."

Nun reicht's. Ich unterbreche Cthulhus Parade abgegriffener Metaphern. "Und wenn ich dich hier wohnen lasse, wird mein Leben bunt und hell?"

"Hm", macht Cthulhu, "Das vielleicht nicht gerade. Aber ein Alltag mit mir ist alles, was deiner jetzt nicht ist. Du hast es doch gerade selbst erlebt: Wie eines der Horrorspiele auf deiner VR-Brille, nur viel, viel realistischer und non-stop. Langweilen wirst Du sich sicherlich nie wieder."

"Nee danke", erwidere ich, "wenn ich Horror will, schaue ich eine Folge 'Walking Dead'."

Ein leichtes Zittern geht durch die Tentakel, mit dem sie sich alle zugleich in einem leicht anderen Winkel ausrichten. "Alleine.", ergänzt Cthulhu.

Ich ignoriere ihn. "Und wenn ich Abwechslung brauche, dann gehe ich spazieren..."

"Alleine."

"... oder ins Kino!"

"Alleine." Die Tentakel zittern nun stärker.

"Komm schon!", unterbricht Cthulhu schließlich das hierauf folgende betretene Schweigen, "Haste halt ein Plüschtier zuhause, mit dem Du ab und zu redest. Dass dich verabschiedet, wenn Du Morgens zur Arbeit gehst und begrüßt, wenn Du Abends wieder kommst. Das ist nicht so schlimm. So etwas haben viele einsame Mittvierziger. Das wird toll. Wie bei 'Calvin and Hobbes'!" Er zögert kurz. "Naja, nur ohne Susie Derkins. Vielleicht eher wie bei Marc-Uwe und dem Känguru."

"Die Wohnung besetzt und ein einziges Chaos, ständig verschwinden Sachen, ich habe keinen ruhigen Moment, während ich gezwungen bin, mir eine verrückte Idee nach der nächsten anzuhören?"

"Genau!", antwortet Cthulhu, offenbar zufrieden, seinen Punkt gut herübergebracht zu haben.

Ich fühle meinen Widerstand bröckeln. "Nee", denke ich noch, "das kann's nicht sein. Das klingt jetzt echt nicht gesund. Der muss raus!"

Aber vielleicht nicht sofort.

Ich schaue auf die Uhr. Irgendwie ist es mittlerweile schon sieben. Jetzt muss ich sowieso erst einmal zur Arbeit.

Dazu muss ich erst einmal raus hier. Und das erfordert es leider, Cthulhu den Rücken zuzuwenden. Ich muss an die Dunkelheit denken. Und an die glühenden, roten Augen.

So ein Blödsinn, schießt es mir durch den Kopf, das kann ja gar nicht sein. Die Augen sind aus Glas, das ganze Ding aus Plüsch, und ich habe nirgendwo ein Batteriefach gesehen. Die Augen können gar nicht leuchten.

Und eigentlich können ja auch die Türen und Fenster nicht einfach verschwinden.

"Moment mal", rufe ich, "kann es sein, dass Du irgendwie an meinem Gedanken und meiner Wahrnehmung herumspielst? Waren das da vorhin Wahnvorstellungen oder so etwas?"

"Na, Du bist ja ein helles Kerlchen!" Wieder geht eine Welle durch die Tentakel, aber die hier ist irgendwie anders. Sie läuft von oben nach unten und wieder zurück. Sieht komisch aus.

Vermutlich Ironie. Die habe ich noch nie verstanden.