gegenlicht
Verfasst: 06.06.2006, 19:05
Dann wellt das Blut glühend wie Lava durch meine Adern. Deine blühende Haut. Komm, lass uns durch den Wald gehen. Schon platzen die Knospen der Bäume auf. Der Bach singt. Der Nebel flieht. Und von meinem Baumhaus sehe ich weit. Ich sehe über das Roggenfeld, hinter dem das Dorf zu erahnen in neuem Staub und Gegenlicht. Sie schläft noch. Über das Feld geht jemand. Eine dunkle Silhouette, schwarz, dann wird sie grau, braun. Und an der Hand ein Kind. Die Haare flattern. Die Sonne graut. Kein Wort sprechen die zwei, als sie unter meinem Baum vorübergehen und im Wald verschwinden. Ich gehe zum Bach. Da sehe ich die beiden wieder. Die kleine an der grossen Hand durchbrechen sie die Buchenäste, die Barriere zu den Höhlen, wo ich im Sommer Stunde für Stunde liege. Und die Kinderstimme singt das Lied vom verschlossenen Herzchen. Singt sie; spannt sie; weint sie. Alles einerlei. - Und ich weiss nicht, ob ich ihn mochte. Ich ging mit ihm. Er sorgte sich um mich. Er brachte mir Blumen und kleine Geschenke, Bücher, Steine. Als wir über das Roggenfeld gingen, war es Frühling. Ich war aufgeregt. Wir waren noch nie einen ganzen Tag nur zu zweit weggegangen. Er wollte mir das schönste Geschenk machen, das ich je bekommen hatte; den schönsten Tag geben, den es je gab auf der Erde. Seine Hand war heiss, ein bisschen feucht. Ich glaube, er hatte Angst, mich da draussen in der Wildnis zu verlieren. Das Moos ist noch ganz Nass vom Tau. Ich lege mich hin, und meine Kleider sind schon ganz nass. Aber er liegt dicht neben mir und hält mir eine Blume an die Nase. So nahe habe ich noch nie Augen gesehen. Ich glaube, du blickt tief in mich hinein. Und ich in dich. Deine Augen sind ganz dunkelbraun, dunkeltief, um stundenlang zu irren. Bin ich in deinen Augen, bin ich nicht mehr. Und das Wasser läuft über meine Arme. Ich lasse meinen Kopf umfliessen. Der Morgen gefriert. Ich gehe zurück zu ihr. Die Sonne ist schon warm. Ich steige hinauf zu meiner Krone und höre hinter der Buche einen Bärenschrei. Ich habe immer davon geträumt, einen Bären zu begegnen, genau dort. Und dann der Tropfen auf meiner Stirn. Wie kalt und heiss. Plötzlich, dieser Tropfen. Eine Träne. Weil er nicht wusste. Dieser Tropfen. Und plötzlich schrie er auf. Dann biss er mich in Stücke. Verlass mich nie.