Cthulhu-WG, Episode 4.5: Online-Dating.
Verfasst: 22.12.2025, 13:27
Es ist 14 Uhr morgens. Ich liege im Bett und wische auf meinem Smartphone herum. Cthulhu sitzt neben mir und schaut auf meinen Laptop. Er wirkt zufrieden, die Tentakel pendeln entspannt hin und her. Wahrscheinlich liest er Nachrichten. Das gefällt ihm in letzter Zeit immer besser. Aber jeden Tag gibt es nur endlich viele neue Katastrophen, und bei den alten langweilt er sich schnell. Er schaut von seiner Lektüre hoch.
»Sag mal, was machst du da eigentlich?«
Während er versucht, einen Blick auf meinen Bildschirm zu erhaschen, drehe ich mein Telefon schnell zur anderen Seite.
»Äh ... nix. Genau, nix. Ich wische nur so ein bisschen rum ...»
»Hast du etwa Geheimnisse vor mir?«
»Natürlich nicht«, beeile ich mich, meine Unschuld zu beteuern, »ich äh ... ich denke nur nicht, dass
dich so etwas interessiert.«
Irgendwie sitzt Cthulhu jetzt auf meiner anderen Seite. Von der er bestens sehen kann, was ihn interessiert.
»Warum sollte mich das denn nicht interessieren?« Die durcheinanderwuselnden Tentakel drücken Verwirrung aus. »Das sieht doch super aus! Ich nehme zwei davon, mit Extrakäse und Jalapeños, wenn sie haben.«
»Das ist doch keine Speisekarte!«, rufe ich. »Das ist Tinder!«
»Und wozu soll das gut sein?« Die Tentakel tasten erratisch in der Luft herum. Den Ausdruck kenne ich noch nicht, denke ich. Verwirrung vermutlich. Aber da haben sie sich auch schon wieder zu einem straffen Bündel verwoben und deuten in dieselbe Richtung.
»Ah, kann man damit Kultisten rekrutieren?«
»So würde ich es jetzt nicht unbedingt ausdrücken«, setze ich an. »Man kann darüber ... Gesellschaft finden.«
Die Tentakel fahren in zwei Gruppen auseinander und drehen sich mit den Saugnäpfen nach oben -- ein wenig wie ein Mensch, der verständnislos seine Hände in die Luft wirft.
»Wenn man einsam ist«, füge ich hinzu.
Der Tentakelbart versteift sich zu dem mir hinlänglich bekannten Eiszapfen. »Du bist doch nicht mehr einsam.« Nun kommt auch noch ein Zittern hinzu. »Du hast doch jetzt mich! Oder wird es dir etwa schon langweilig mit mir? Das lässt sich ändern ...«
»Nein, nein, langweilig ist mir gar nicht«, beeile ich mich zu beteuern, während ich beobachte, wie kleine hölzerne Finger aus dem Parkett wachsen und nach meinem Fußknöchel tasten. »Du hast wirklich nicht zu viel versprochen.« Erleichtert sehe ich, wie die Finger wieder im Boden verschwinden. »Ich denke, ich suche einfach nach ... neuen Erfahrungen abseits von Panik, Todesangst und Wahnvorstellungen.«
»Du meinst, du suchst bei anderen etwas, was ich dir nicht geben kann?«
So, wie er das formuliert, klingt das irgendwie nach Ärger. Vorsichtig schiele ich zum Boden. Alles glatt. Bisher. »Ganz genau«, erwidere ich, um einen kämpferischen Ton bemüht. Keine neuen Geisterfinger. Weder fließt ein Blutstrom aus der Wand, noch dreht sich der Raum auf den Kopf. Scheint gut gegangen zu sein.
»Na gut. Das geht mir mit dir ja auch so. Du hast mir ja bisher noch nicht ein einziges Blutopfer dargebracht. Aber du kannst nicht einfach neue Leute in unsere Beziehung lassen, ohne vorher darüber mit mir zu reden ... HEY!«
Ich fahre vom Bildschirm hoch. »Was denn?« Dann wandern meine Augen zurück. Tanja, 33, braune Augen, hüftlange rote Haare und ein Lächeln wie ... wie ...
»Ich habe gerade den Eindruck, du hörst mir gar nicht richtig zu!«
»Natürlich höre ich zu, Tan... Cth! Du sagtest gerade, ich müsste mit dir vorher darüber reden, ehe ich neue Leute in unsere Beziehung ...«
»Das war vor einer halben Stunde! Jetzt sag nicht, du hast von allem, was ich danach geredet habe, nichts mitbekommen!«
»Klar doch«, versuche ich es. Insgeheim denke ich: »Nämlich das ›Hey!‹ -- ist also eigentlich nicht
einmal gelogen. Tanja. Tanja. Tanja.« Dann fällt mir ein, dass ich mit meinen Gedanken wohl lieber
etwas vorsichtiger hätte sein sollen. Leider zu spät.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein! Die schlagen wir uns mal ganz schnell aus dem Kopf!« Ehe ich
recht weiß, wie mir geschieht, hat Cthulhu mir das Smartphone entrissen und Tanja nach links
geswiped. Dann beginnt er, mit allen Tentakeln gleichzeitig wild auf herumzutippen.
»Sag mal!«, rufe ich. »Gib mir sofort mein Handy zu...«
»DU HAST HUNGER!«, dröhnt es in meinem Kopf, während die Tentakel über den Bildschirm fliegen.
»Habe ich nicht!«, entgegne ich empört. »Ich habe gerade erst gefrühstückt!« Kurz denke ich darüber nach, ob es wohl gesund ist, mir so lebhafte Streitgespräche mit einer Stimme in meinem Kopf zu liefern. Aber ehe ich einen klaren Gedanken dazu fassen kann, fährt sie auch schon fort: »Doch. Hast du! Großen Hunger. Du willst in die Küche gehen und dir etwas zu essen machen. Und wenn du schon dabei bist, kannst du mir auch gleich etwas mitbringen. Seit dem Anblick vorhin knurrt mir der Magen.«
»Will ich nicht!«, protestiere ich, während mein Körper aufsteht, meine Beine sich auf den Weg in die Küche machen und der Rest von mir notgedrungen mitgeht. An der Wohnzimmertür drehe ich mich noch einmal um.
»Was willst du eigentlich essen?«
»Viel«
»Das ist doch keine A...«, versuche ich noch zu sagen, da macht mein linkes Bein einen Schritt vorwärts, gerade schnell genug, damit die schwungvoll zuschlagende Tür meine Nase knapp verfehlt.
Etwa zehn Minuten später komme ich mit einem Tablett voller Sandwiches zurück. Käse. Thunfisch. Die undefinierbare rote Pampe, die Cthulhu immer von seinen nächtlichen Spaziergängen mitbringt. Alles da. Nur Tintenfisch ist nicht dabei. Irgendwie ist er da empfindlich.
»Es ist angerichtet, Eminenz«, sage ich, doch Cthulhu wirft mir nur einen kurzen Blick zu, während er tippt und tippt und tippt.
»Du hast da auch ganz schön was angerichtet! Was hast du dir nur bei diesem Profil gedacht? ›Liebevoll und wertschätzend‹ -- wie soll das denn jemanden anziehen, mit dem ich etwas anfangen kann? Da war echt nichts zu retten, ich musste es von Grund auf neu gestalten.«
»ALTER«, rufe ich, stocke kurz und korrigiere mich: »Großer Alter! Du kannst doch nicht einfach ...«
»Doch. Kann ich. Und Du kannst mir dabei helfen. Profilbild und Einführungstext waren ja kein Problem. Aber jetzt kommen lauter menschliche Begriffe. Da kenne ich mich nicht aus.«
»Wundert mich nicht.«
»Hier zum Beispiel: ›Interessiert an Männern/Frauen/beiden‹ -- was soll das heißen?«
»Du weißt nicht, was Männer und Frauen sind?«
»Nein. Keine Ahnung, warum man Menschensorten unterscheidet. Für mich schmecken alle gleich.«
Ich seufze. Aufklärungsunterricht für außerirdische Todesgötter hatte bisher nicht zu meinem Tagesplan gehört. Wortlos greife ich ins Bücherregal. Kurz halte ich die Hand über "Das Unbehagen der Geschlechter"; dann besinne ich mich, reiche Cthulhu "Mein erstes Aufklärungsbuch" für Kinder ab acht. Das steht da echt schon eine Weile.
Cthulhu blättert herum, bis sein Blick an den anatomischen Skizzen hängenbleibt. Plötzlich werfen die Tentakel wilde Wellen. So sieht also bei großen Alten ein Lachflash aus, denke ich. Dann bemerke ich das kleinste Tentakel am Rand, das sich nach oben reckt und wie ein kleiner Finger auf- und abwippt.
»Ist was?«, frage ich irritiert.
»Sag bloß, du hast auch so ein Ding!« Er scheint vor Lachen Mühe zu haben, sich aufrecht zu halten. »Das sieht so unfassbar lächerlich aus. Wenn es wenigstens im Gesicht sitzen würde.« Zwei längere Fangarme wischen über Cthulhus Augen. Ich bin mir sicher, dass es da keine Tränen gibt. Vermutlich hat er sich das bei mir abgeschaut.
Schließlich hat er sich wieder eingekriegt. »Das ist mir ja so was von egal! Mir ist alles willkommen, was zwei Hände zum Töten und das Herz am rechten Fleck hat. Ist nervig, wenn man bei Opferritualen oder beim Ausweiden erst lange danach suchen muss.« Ein Tentakel zuckt, und schon hat Cthulhu meine Präferenz auf ›beide‹ geändert. Na ja, immer nur hetero zu sein kam mir ohnehin immer schon etwas spießig vor.
»Es ist immer gut, wenn man weiß, was man will«, pflichte ich bei, um auch mal was zu sagen. Fühlt sich irgendwie nicht besser an.
»Das wird ja immer schlimmer!«, schimpft Cthulhu. »Noch mehr menschliche Begriffe. Jetzt soll ich auch noch eine ›Beziehungsform‹ wählen. Affäre, Hook-up, Situationship, Friendship with Benefits, monogame Beziehung, polyamore Beziehung und so weiter -- was beim kriechenden Chaos soll das?«
»Hm.« Das in eine Sprache zu übersetzen, die Cthulhu versteht, wird wohl nicht ganz einfach. »Also, erst einmal geht es darum, ob du jemanden nur für kurze Zeit suchst oder dauerhaft.«
»Dauerhaft, natürlich.« Er hält kurz inne. »Also, bis zum Verschleiß halt.«
Irgendwie hat er das jetzt nicht schlecht auf den Punkt gebracht. »Okay, du suchst also eine feste Beziehung. Damit fallen die ersten vier Optionen für dich wohl weg.«
»Aha. Und was ist das mit diesem ›polyamor‹?«
»So nennt man es, wenn man gleichzeitig Beziehungen zu mehreren Personen unterhält.«
»Na klar! Kultisten kann man nie genug haben!«
»Dazu gehört aber auch, dass alle Beteiligten voneinander wissen und mit den anderen Beziehungen
einverstanden sind.«
»Natürlich müssen meine Kultisten voneinander wissen! Für so ein typisches Ritual braucht man 36 Personen, von denen am Ende allerdings nur noch drei übrig sind.«
»Außerdem beruhen polyamore Beziehungen auf der gegenseitigen Anerkennung als Gleichberechtigte, der Achtsamkeit für die Bedürfnisse der Beteiligten und dem immer wieder erneuerten Aushandeln von Konsens.«
Die Tentakel, die sich zwischendurch an den Enden leicht aufgerichtet und zu zucken begonnen hatten, fallen schlagartig herab. »Was soll das denn für ein Mist sein? Wenn wir jedes Mal erst irgendwas aushandeln, ehe wir jemanden an die Wand nageln und ausbluten lassen, kriegen wir ja nie ein Dimensionsportal auf. Nee, ich brauche was anderes. Wie nennt man eine Beziehung, in der ein Partner dem anderen sagt, was er zu tun hat, und ihn, falls nötig, bestraft? Oder auch ab und zu mal nur so zum Spaß?«
Ich überlege kurz. »24/7-BDSM-Beziehung« ist der beste Tipp, der mir einfällt.
Die Tentakel bleiben unbewegt. »Nein«, entgegnet Cthulhu. »Von denen habe ich gelesen. Die
fragen ja auch erst um Erlaubnis, ehe sie zuschlagen. Keine Ahnung, was das soll. Wie nennt man
eine Beziehung, in der einer jeden Schritt und jeden Gedanken der anderen kontrolliert und sie zu
seinen willenlosen Werkzeugen macht?«
Diesmal muss ich noch etwas länger überlegen. »Äh ... toxisch?«
»Klingt super!« Die Tentakel sind nun wieder in Bewegung und wuseln aufgeregt auf dem Bildschirm herum, um nach einigen Sekunden wieder in Stillstand zurückzufallen. »Die Option finde ich nicht.«
»Das dürfte daran liegen, dass so etwas eben niemand sucht. Menschen suchen liebevolle und wertschätzende Partner, keine tentakelbewehrten Ungeheuer.« Es fällt mir nicht leicht, ihm das direkt zu sagen. Irgendwie kommt es mir grausam vor.
Die Reaktion fällt indes anders aus als erwartet. Wieder schlagen die Tentakel wilde Wellen. Dann schaut er auf mich herab. »Merkste selber, oder? Was glaubst du, warum ich hier bin?«
»Weil ich aus Angst vor der Einsamkeit lieber mit einem manipulativen Monster zusammenlebe, das mich allmählich in den Wahnsinn treibt, als allein zu bleiben.« Cthulhu sieht meine Gedanken ohnehin. Da kann ich ebenso gut ehrlich antworten.
»Ganz genau.« Eines der Tentakel wippt an der Spitze auf und ab, als wolle er mir auf die Schulter klopfen. »Und da bist Du wirklich gar nichts Besonderes. Da draußen gibt es viele einsame Seelen, die auf einen wie mich warten. Sieht man schon daran, wie ich dich gefunden habe. Ich habe einfach irgendwo geklingelt, und es hat geklappt.«
Dass ich dabei einen Stich von Eifersucht verspüre, sollte ich dringend mit meinem Therapeuten besprechen. Wenn ich denn einen hätte.
Während Cthulhu spricht, tippt er weiter auf meinem Handy herum. »Ah, gut. Es gibt ein Freitextfeld für ›Was ich wirklich suche‹. Hm.« Er überlegt kurz. »›Opferbereitschaft, Hörigkeit und bedingungslosen Gehorsam‹ trifft es ganz gut, denke ich. So, jetzt hab ich alles. Ab ins Netz damit.«
Ich seufze. Mein Profil wird wohl eine Karteileiche bleiben. Immerhin wird er damit keinen großen Schaden anrichten. Und wenn er die Sache vergessen hat, kann ich den Text ja wieder ändern. Auf einen Bildschirm zu starren, auf dem nichts passiert, wird ihm vermutlich schon in ein paar Minuten langweilig werden. Gespannt warte ich, was er als Nächstes sagen wird.
»KÜCHE!«
Das wäre nicht mein erster Tipp gewesen. »Wie bitte?«
»Du hast den Herd nicht abgestellt!«
»Natürlich nicht. Ich habe Brote geschmiert. Der war ja gar nicht an!«
»Komm schon. Wir wissen beide, dass du in einer Minute in die Küche gehst, wenn ich das will. Spar uns die Mühe, und geh einfach freiwillig. Dein blödsinniges Gedenke stört mich beim Antworten.«
»Antworten?« Ich stutze kurz und schaue auf die Uhr. »Jetzt sag nicht, du hast nach 55 Sekunden ein Match!«
»Nein«, antwortet Cthulhu. »Drei.«
»DREI?!«, rufe ich entgeistert.
Er beginnt, zu tippen. »KÜCHE!«
»Sag mal, was machst du da eigentlich?«
Während er versucht, einen Blick auf meinen Bildschirm zu erhaschen, drehe ich mein Telefon schnell zur anderen Seite.
»Äh ... nix. Genau, nix. Ich wische nur so ein bisschen rum ...»
»Hast du etwa Geheimnisse vor mir?«
»Natürlich nicht«, beeile ich mich, meine Unschuld zu beteuern, »ich äh ... ich denke nur nicht, dass
dich so etwas interessiert.«
Irgendwie sitzt Cthulhu jetzt auf meiner anderen Seite. Von der er bestens sehen kann, was ihn interessiert.
»Warum sollte mich das denn nicht interessieren?« Die durcheinanderwuselnden Tentakel drücken Verwirrung aus. »Das sieht doch super aus! Ich nehme zwei davon, mit Extrakäse und Jalapeños, wenn sie haben.«
»Das ist doch keine Speisekarte!«, rufe ich. »Das ist Tinder!«
»Und wozu soll das gut sein?« Die Tentakel tasten erratisch in der Luft herum. Den Ausdruck kenne ich noch nicht, denke ich. Verwirrung vermutlich. Aber da haben sie sich auch schon wieder zu einem straffen Bündel verwoben und deuten in dieselbe Richtung.
»Ah, kann man damit Kultisten rekrutieren?«
»So würde ich es jetzt nicht unbedingt ausdrücken«, setze ich an. »Man kann darüber ... Gesellschaft finden.«
Die Tentakel fahren in zwei Gruppen auseinander und drehen sich mit den Saugnäpfen nach oben -- ein wenig wie ein Mensch, der verständnislos seine Hände in die Luft wirft.
»Wenn man einsam ist«, füge ich hinzu.
Der Tentakelbart versteift sich zu dem mir hinlänglich bekannten Eiszapfen. »Du bist doch nicht mehr einsam.« Nun kommt auch noch ein Zittern hinzu. »Du hast doch jetzt mich! Oder wird es dir etwa schon langweilig mit mir? Das lässt sich ändern ...«
»Nein, nein, langweilig ist mir gar nicht«, beeile ich mich zu beteuern, während ich beobachte, wie kleine hölzerne Finger aus dem Parkett wachsen und nach meinem Fußknöchel tasten. »Du hast wirklich nicht zu viel versprochen.« Erleichtert sehe ich, wie die Finger wieder im Boden verschwinden. »Ich denke, ich suche einfach nach ... neuen Erfahrungen abseits von Panik, Todesangst und Wahnvorstellungen.«
»Du meinst, du suchst bei anderen etwas, was ich dir nicht geben kann?«
So, wie er das formuliert, klingt das irgendwie nach Ärger. Vorsichtig schiele ich zum Boden. Alles glatt. Bisher. »Ganz genau«, erwidere ich, um einen kämpferischen Ton bemüht. Keine neuen Geisterfinger. Weder fließt ein Blutstrom aus der Wand, noch dreht sich der Raum auf den Kopf. Scheint gut gegangen zu sein.
»Na gut. Das geht mir mit dir ja auch so. Du hast mir ja bisher noch nicht ein einziges Blutopfer dargebracht. Aber du kannst nicht einfach neue Leute in unsere Beziehung lassen, ohne vorher darüber mit mir zu reden ... HEY!«
Ich fahre vom Bildschirm hoch. »Was denn?« Dann wandern meine Augen zurück. Tanja, 33, braune Augen, hüftlange rote Haare und ein Lächeln wie ... wie ...
»Ich habe gerade den Eindruck, du hörst mir gar nicht richtig zu!«
»Natürlich höre ich zu, Tan... Cth! Du sagtest gerade, ich müsste mit dir vorher darüber reden, ehe ich neue Leute in unsere Beziehung ...«
»Das war vor einer halben Stunde! Jetzt sag nicht, du hast von allem, was ich danach geredet habe, nichts mitbekommen!«
»Klar doch«, versuche ich es. Insgeheim denke ich: »Nämlich das ›Hey!‹ -- ist also eigentlich nicht
einmal gelogen. Tanja. Tanja. Tanja.« Dann fällt mir ein, dass ich mit meinen Gedanken wohl lieber
etwas vorsichtiger hätte sein sollen. Leider zu spät.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein! Die schlagen wir uns mal ganz schnell aus dem Kopf!« Ehe ich
recht weiß, wie mir geschieht, hat Cthulhu mir das Smartphone entrissen und Tanja nach links
geswiped. Dann beginnt er, mit allen Tentakeln gleichzeitig wild auf herumzutippen.
»Sag mal!«, rufe ich. »Gib mir sofort mein Handy zu...«
»DU HAST HUNGER!«, dröhnt es in meinem Kopf, während die Tentakel über den Bildschirm fliegen.
»Habe ich nicht!«, entgegne ich empört. »Ich habe gerade erst gefrühstückt!« Kurz denke ich darüber nach, ob es wohl gesund ist, mir so lebhafte Streitgespräche mit einer Stimme in meinem Kopf zu liefern. Aber ehe ich einen klaren Gedanken dazu fassen kann, fährt sie auch schon fort: »Doch. Hast du! Großen Hunger. Du willst in die Küche gehen und dir etwas zu essen machen. Und wenn du schon dabei bist, kannst du mir auch gleich etwas mitbringen. Seit dem Anblick vorhin knurrt mir der Magen.«
»Will ich nicht!«, protestiere ich, während mein Körper aufsteht, meine Beine sich auf den Weg in die Küche machen und der Rest von mir notgedrungen mitgeht. An der Wohnzimmertür drehe ich mich noch einmal um.
»Was willst du eigentlich essen?«
»Viel«
»Das ist doch keine A...«, versuche ich noch zu sagen, da macht mein linkes Bein einen Schritt vorwärts, gerade schnell genug, damit die schwungvoll zuschlagende Tür meine Nase knapp verfehlt.
Etwa zehn Minuten später komme ich mit einem Tablett voller Sandwiches zurück. Käse. Thunfisch. Die undefinierbare rote Pampe, die Cthulhu immer von seinen nächtlichen Spaziergängen mitbringt. Alles da. Nur Tintenfisch ist nicht dabei. Irgendwie ist er da empfindlich.
»Es ist angerichtet, Eminenz«, sage ich, doch Cthulhu wirft mir nur einen kurzen Blick zu, während er tippt und tippt und tippt.
»Du hast da auch ganz schön was angerichtet! Was hast du dir nur bei diesem Profil gedacht? ›Liebevoll und wertschätzend‹ -- wie soll das denn jemanden anziehen, mit dem ich etwas anfangen kann? Da war echt nichts zu retten, ich musste es von Grund auf neu gestalten.«
»ALTER«, rufe ich, stocke kurz und korrigiere mich: »Großer Alter! Du kannst doch nicht einfach ...«
»Doch. Kann ich. Und Du kannst mir dabei helfen. Profilbild und Einführungstext waren ja kein Problem. Aber jetzt kommen lauter menschliche Begriffe. Da kenne ich mich nicht aus.«
»Wundert mich nicht.«
»Hier zum Beispiel: ›Interessiert an Männern/Frauen/beiden‹ -- was soll das heißen?«
»Du weißt nicht, was Männer und Frauen sind?«
»Nein. Keine Ahnung, warum man Menschensorten unterscheidet. Für mich schmecken alle gleich.«
Ich seufze. Aufklärungsunterricht für außerirdische Todesgötter hatte bisher nicht zu meinem Tagesplan gehört. Wortlos greife ich ins Bücherregal. Kurz halte ich die Hand über "Das Unbehagen der Geschlechter"; dann besinne ich mich, reiche Cthulhu "Mein erstes Aufklärungsbuch" für Kinder ab acht. Das steht da echt schon eine Weile.
Cthulhu blättert herum, bis sein Blick an den anatomischen Skizzen hängenbleibt. Plötzlich werfen die Tentakel wilde Wellen. So sieht also bei großen Alten ein Lachflash aus, denke ich. Dann bemerke ich das kleinste Tentakel am Rand, das sich nach oben reckt und wie ein kleiner Finger auf- und abwippt.
»Ist was?«, frage ich irritiert.
»Sag bloß, du hast auch so ein Ding!« Er scheint vor Lachen Mühe zu haben, sich aufrecht zu halten. »Das sieht so unfassbar lächerlich aus. Wenn es wenigstens im Gesicht sitzen würde.« Zwei längere Fangarme wischen über Cthulhus Augen. Ich bin mir sicher, dass es da keine Tränen gibt. Vermutlich hat er sich das bei mir abgeschaut.
Schließlich hat er sich wieder eingekriegt. »Das ist mir ja so was von egal! Mir ist alles willkommen, was zwei Hände zum Töten und das Herz am rechten Fleck hat. Ist nervig, wenn man bei Opferritualen oder beim Ausweiden erst lange danach suchen muss.« Ein Tentakel zuckt, und schon hat Cthulhu meine Präferenz auf ›beide‹ geändert. Na ja, immer nur hetero zu sein kam mir ohnehin immer schon etwas spießig vor.
»Es ist immer gut, wenn man weiß, was man will«, pflichte ich bei, um auch mal was zu sagen. Fühlt sich irgendwie nicht besser an.
»Das wird ja immer schlimmer!«, schimpft Cthulhu. »Noch mehr menschliche Begriffe. Jetzt soll ich auch noch eine ›Beziehungsform‹ wählen. Affäre, Hook-up, Situationship, Friendship with Benefits, monogame Beziehung, polyamore Beziehung und so weiter -- was beim kriechenden Chaos soll das?«
»Hm.« Das in eine Sprache zu übersetzen, die Cthulhu versteht, wird wohl nicht ganz einfach. »Also, erst einmal geht es darum, ob du jemanden nur für kurze Zeit suchst oder dauerhaft.«
»Dauerhaft, natürlich.« Er hält kurz inne. »Also, bis zum Verschleiß halt.«
Irgendwie hat er das jetzt nicht schlecht auf den Punkt gebracht. »Okay, du suchst also eine feste Beziehung. Damit fallen die ersten vier Optionen für dich wohl weg.«
»Aha. Und was ist das mit diesem ›polyamor‹?«
»So nennt man es, wenn man gleichzeitig Beziehungen zu mehreren Personen unterhält.«
»Na klar! Kultisten kann man nie genug haben!«
»Dazu gehört aber auch, dass alle Beteiligten voneinander wissen und mit den anderen Beziehungen
einverstanden sind.«
»Natürlich müssen meine Kultisten voneinander wissen! Für so ein typisches Ritual braucht man 36 Personen, von denen am Ende allerdings nur noch drei übrig sind.«
»Außerdem beruhen polyamore Beziehungen auf der gegenseitigen Anerkennung als Gleichberechtigte, der Achtsamkeit für die Bedürfnisse der Beteiligten und dem immer wieder erneuerten Aushandeln von Konsens.«
Die Tentakel, die sich zwischendurch an den Enden leicht aufgerichtet und zu zucken begonnen hatten, fallen schlagartig herab. »Was soll das denn für ein Mist sein? Wenn wir jedes Mal erst irgendwas aushandeln, ehe wir jemanden an die Wand nageln und ausbluten lassen, kriegen wir ja nie ein Dimensionsportal auf. Nee, ich brauche was anderes. Wie nennt man eine Beziehung, in der ein Partner dem anderen sagt, was er zu tun hat, und ihn, falls nötig, bestraft? Oder auch ab und zu mal nur so zum Spaß?«
Ich überlege kurz. »24/7-BDSM-Beziehung« ist der beste Tipp, der mir einfällt.
Die Tentakel bleiben unbewegt. »Nein«, entgegnet Cthulhu. »Von denen habe ich gelesen. Die
fragen ja auch erst um Erlaubnis, ehe sie zuschlagen. Keine Ahnung, was das soll. Wie nennt man
eine Beziehung, in der einer jeden Schritt und jeden Gedanken der anderen kontrolliert und sie zu
seinen willenlosen Werkzeugen macht?«
Diesmal muss ich noch etwas länger überlegen. »Äh ... toxisch?«
»Klingt super!« Die Tentakel sind nun wieder in Bewegung und wuseln aufgeregt auf dem Bildschirm herum, um nach einigen Sekunden wieder in Stillstand zurückzufallen. »Die Option finde ich nicht.«
»Das dürfte daran liegen, dass so etwas eben niemand sucht. Menschen suchen liebevolle und wertschätzende Partner, keine tentakelbewehrten Ungeheuer.« Es fällt mir nicht leicht, ihm das direkt zu sagen. Irgendwie kommt es mir grausam vor.
Die Reaktion fällt indes anders aus als erwartet. Wieder schlagen die Tentakel wilde Wellen. Dann schaut er auf mich herab. »Merkste selber, oder? Was glaubst du, warum ich hier bin?«
»Weil ich aus Angst vor der Einsamkeit lieber mit einem manipulativen Monster zusammenlebe, das mich allmählich in den Wahnsinn treibt, als allein zu bleiben.« Cthulhu sieht meine Gedanken ohnehin. Da kann ich ebenso gut ehrlich antworten.
»Ganz genau.« Eines der Tentakel wippt an der Spitze auf und ab, als wolle er mir auf die Schulter klopfen. »Und da bist Du wirklich gar nichts Besonderes. Da draußen gibt es viele einsame Seelen, die auf einen wie mich warten. Sieht man schon daran, wie ich dich gefunden habe. Ich habe einfach irgendwo geklingelt, und es hat geklappt.«
Dass ich dabei einen Stich von Eifersucht verspüre, sollte ich dringend mit meinem Therapeuten besprechen. Wenn ich denn einen hätte.
Während Cthulhu spricht, tippt er weiter auf meinem Handy herum. »Ah, gut. Es gibt ein Freitextfeld für ›Was ich wirklich suche‹. Hm.« Er überlegt kurz. »›Opferbereitschaft, Hörigkeit und bedingungslosen Gehorsam‹ trifft es ganz gut, denke ich. So, jetzt hab ich alles. Ab ins Netz damit.«
Ich seufze. Mein Profil wird wohl eine Karteileiche bleiben. Immerhin wird er damit keinen großen Schaden anrichten. Und wenn er die Sache vergessen hat, kann ich den Text ja wieder ändern. Auf einen Bildschirm zu starren, auf dem nichts passiert, wird ihm vermutlich schon in ein paar Minuten langweilig werden. Gespannt warte ich, was er als Nächstes sagen wird.
»KÜCHE!«
Das wäre nicht mein erster Tipp gewesen. »Wie bitte?«
»Du hast den Herd nicht abgestellt!«
»Natürlich nicht. Ich habe Brote geschmiert. Der war ja gar nicht an!«
»Komm schon. Wir wissen beide, dass du in einer Minute in die Küche gehst, wenn ich das will. Spar uns die Mühe, und geh einfach freiwillig. Dein blödsinniges Gedenke stört mich beim Antworten.«
»Antworten?« Ich stutze kurz und schaue auf die Uhr. »Jetzt sag nicht, du hast nach 55 Sekunden ein Match!«
»Nein«, antwortet Cthulhu. »Drei.«
»DREI?!«, rufe ich entgeistert.
Er beginnt, zu tippen. »KÜCHE!«