Hoffmann (überarbeitet)
Verfasst: 21.06.2006, 14:31
Diotima hat mich - ohne es zu wissen - an eine alte Geschichte erinnert. Es handelt sich um eine Art Paralleltext. Wer kennt die Vorlage?
Es war einer der ersten Tage des neuen Jahres, als ich erschöpft aus dem Zug stieg und direkt dort am Bahnhof Zoologischer Garten in einer der Bäckereien einen Kaffee bestellte. Ich war gerade mit dem Zug aus Weimar eingefahren und stand noch unter dem Eindruck meiner kurzen Reise. Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg waren von einer Eisschicht bedeckt gewesen. Inmitten der Saale, der Elbe und der Havel hatten sich Eisinseln gebildet und so manche Bank, die im Sommer einen schönen Ausblick von der Uferpromenade ermöglicht hätte, stand nun mitsamt der dazugehörigen Mülltonne im Wasser. Schrebergärten hatten sich in Eisgärten verwandelt, und die weiten Wiesen und Felder waren mit Schnee bedeckt. Auf den Ästen der alten Bäume lastete schwer der Schnee. Weit und breit war kaum ein Mensch zu sehen, auch nicht in den kleinen Ortschaften mit Namen wie Güsow oder Kirchmöser, Wulfen oder Apolda, die meine Bummelzüge durchquerten. Sie hielten an jedem Bahnhof an, ob nun jemand einstieg oder nicht, und der Regionalzug in Brandenburg verkündigte jede nahende Haltestelle sogar mit einer unerträglichen, synthetischen Volksmelodie, deren Ursprung ich jedoch nicht ganz zu ergründen vermochte. Sie erinnerte mich ein wenig an Das Wandern ist des Müllers Lust, doch schien die Melodie eine andere, mir unbekannte zu sein. Es fuhren kaum Leute mit der Bahn. Die Wirtschaftskrise hatte den Osten Deutschlands fest im Griff, und wenn die Menschen Reisen mussten, dann fuhren sie normalerweise mit dem Auto. Die Bahn hatte gerade die Preise angezogen und die günstigen IR-Züge gestrichen. Auch denjenigen, den ich zuvor immer genommen hatte.
So war ich jetzt zum ersten Mal in diesem frühen Jahr des neuen Jahrtausends mit einem Bummelzug durch das eiserstarrte Land gefahren. Die Temperaturen hatten nachts in den letzten Tagen bis zu zwanzig Grad unter Null erreicht. Mir gefiel diese Kälte sehr gut. Die Luft war klar und rein. Dennoch, als ich jetzt am Bahnhof Zoo in einem dieser Läden einer Bäckereikette saß und einen viel zu teuren Kaffe bestellen wollte, um mich aufzuwärmen und an die zahlreichen griesgrämigen Menschen zu gewöhnen, war es mir, als sei auch in den Deutschen, die ich um mich herum wahrnahm, etwas erstarrt. Ich hörte wie über den nahenden Krieg gesprochen wurde, der schon eine abgemachte Sache zu sein schien. Man sprach über die sinkenden Aktienkurse, die steigenden Arbeitslosenzahlen, die drohenden Streiks im öffentlichen Dienst und die zunehmende steuerliche Belastung.
Ich hatte schon einige Minuten freundlich – wenn auch wahrscheinlich leicht melancholisch – lächelnd die Verkäuferin angeschaut, aber sie schien nicht reagieren zu wollen, obwohl weit und breit kein anderer Kunde zu sehen war. Jetzt erst kam ein weiterer, sah meinen erwartungsfrohen und hoffnungslosen Blicke und sagte, indem er sich die Mütze vom Kopf nahm: „Die werden hier immer unfreundlicher in diesem Land. Vor ein paar Jahren, da war das noch ganz anders. Bitte schön hier, bitte sehr da! Wissen Sie, was mit denen los ist?“ Ich lächelte nur etwas vorsichtig. In Berlin wusste man nie, ob man es mit einem Irren zu tun hatte oder etwa mit einem geschäftigen und selbstbewussten Menschen. Ich hatte es aufgegeben, zu warten, bis die Verkäuferin mich wahrnehmen würde und rief laut: „Einen Kaffee, bitte!“ Der Mann neben mir rief: „Für mich auch einen Kaffee.“ Die Frau hinter der Theke machte ein finsteres Gesicht, sprach jedoch kein Wort und bereitete den Kaffee vor. Es schien, als hätte man ihre Verachtung nur dadurch geweckt, dass man bei ihr etwas bestellen wollte. Um nicht mit dem Mann neben mir reden zu müssen, las ich in der Zeitung – von der ich wusste, dass sie vor kurzem zahlreiche feste Redakteure entlassen hatte – von einer ostdeutschen Familie, die durch unglückliche Umstände hoch verschuldet ihr Gasthaus aufgeben mussten. Die Zeitung war schlechter geworden, der Artikel wimmelte nur so vor sachlichen und formalen Fehlern und dennoch war ihr Preis erst vor kurzem angehoben worden. Ich ließ das Blatt sinken und schaute lieber wieder auf die Passanten: Geschäftsleute in dunklen Anzügen oder strengen Kostümen, junge Mädchen in langen taillierten Mänteln, ihre Haaren zu einfachen Zöpfen zusammengebunden, pubertierende Jungen mit Hosen, die in den Kniekehlen zu liegen kamen, alte Damen mit großen Koffern, die sie an ausklappbaren Griffen durch den Bahnhof zogen. Ein Mann mit blondem schütterem Haar verkaufte eine Obdachlosenzeitung, mit einem netten Lächeln, auch wenn die potentiellen Kunden schon längst weitergegangen waren, ohne sich nach ihm umzuschauen. Touristen aus aller Welt liefen durch die Bahnhofshalle: Japaner, Afrikaner, Amerikaner mit großen Rucksäcken, Kanadier, die sich vor allem durch die Aufnäher ihrer Landesflaggen von ihren Nachbarn unterschieden. Und während ich dort in dem Café saß, meinen kleinen Kaffee trank und nur gelegentlich in die Tageszeitung blickte, war ich fast zufrieden. Die Menschen, die an mir vorüberliefen, Damen in ihren Reisekostümen, die jungen Rucksacktouristen mit ihren Gitarren, ließen in mir ein Gefühl aufkommen, als wäre es mir möglich, einen Roman zu schreiben oder zumindest eine Kurzgeschichte. Ich betrachtete einen schlanken jungen Mann mit einem elegant geschnittenen langen Mantel und leicht gelockten, dunklen Haaren und versuchte mir vorzustellen, warum er wohl hier in Berlin am Bahnhof war, ob er verreisen wollen würde oder nur ein paar Minuten wartete, da gleich seine Freundin aus einer anderen Stadt einfahren würde. „Sie haben diesen jungen Mann entdeckt!“ sagte plötzlich neben mir ein kleiner Mann mit einem leichten Buckel. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, hatte strahlende, blaugrüne Augen und einen scharfen Blick, mit dem er mich aufmerksam musterte. Sein Anzug wirkte ein wenig altmodisch, war dunkelblau, und unter dem Jackett trug er ein weißes Hemd mit Rüschen. Seinen langen schwarzen Mantel legte er neben sich auf einen Stuhl, nachdem er sich, ohne weiter zu fragen, neben mir niedergesetzt hatte. „Ja“, sagte ich, ohne mir genau darüber im Klaren zu sein, warum ich ihm antwortete. „Ein sehr interessanter junger Mann“, bemerkte er und fuhr sofort fort: „Ich glaube er besucht hier in der Stadt seinen Onkel. Er hat wahrscheinlich vor kurzem erst sein Abitur absolviert, mit lauter Einsern in allen Fächer und weiß jetzt nicht so genau, was er mit seinem Leben anfangen soll. Sein Onkel ist Oberregierungsrat, war jedoch in jüngeren Jahren auch einmal ein wenig künstlerisch veranlagt. Auf dem Dachboden seines großen Hauses in Grunewald liegt vielleicht sogar noch sein Roman, den er während seines Studiums in den Abendstunden geschrieben und danach einfach in einer Schublade verschlossen gehalten hatte, bis er, nach einigen Umzügen zwischen alten Papieren in einer Umzugskiste verstaut, dort gelagert worden war. Die Seiten des Romans sind wahrscheinlich schon vergilbt, die Tinte verblichen und kaum noch leserlich. Selbst der Onkel, der Regierungsrat, weiß gar nicht mehr genau, was er da einmal geschrieben hat. Der junge Mann hat sich in Konstanz in Jura eingeschrieben und hat jetzt vielleicht noch ein paar Tage, bevor das Wintersemester in die zweite Runde geht. Aber der eigentliche Grund für seinen Besuch ist ein anderer. Der Onkel hat eine Stieftochter im Haus, Adele mit Namen, ein schlankes Mädchen mit wachen grünen Augen, einem zierlichen Hals und lustigen schwarzen Locken. Sie ist die Tochter einer italienischen Opernsängerin, der Frau des Oberregierungsrates. Diese war zuvor mit einem Operndirektor und Kammermusikmeister verheiratet, der jedoch – schon vor langer Zeit – unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist.“
Der Mann war gar nicht mehr zu bremsen: „Wieso hat den Adele so lustige schwarze Locken“, fragte ich ihn, um überhaupt etwas zu sagen, „wenn doch ihr Vater verstorben ist?“
„Das fragen Sie mich noch?“ Der Mann schien ernsthaft beleidigt zu sein. „Das liegt ja wohl ganz an Ihnen, sich da eine sinnvolle Geschichte auszudenken.“ Er wirkte ein wenig fahrig, auch etwas ungeduldig, und in seinen Augen hatte er ein leichtes Flackern. Seine Wangen, das bemerkte ich erst jetzt, waren ein wenig eingefallen. Es schien, als hätte er in den letzten Tagen, ja vielleicht sogar Wochen, nicht genug zu essen bekommen.
„Möchten Sie vielleicht auch ein Brötchen essen, mit Käse oder Schinken? Ich habe einen mörderischen Hunger“, sagte ich, um ihn zum Mitessen zu bewegen. Aber mein altruistischer Anfall stieß auf regen Widerstand.
„Ich esse nicht. Ich esse nie und brauche auch gar nichts zu essen. Wenn alle jungen Menschen heutzutage so verfressen sind wie Sie, dann muss man sich ja gar nicht wundern, wenn immer mehr gefräßige Bücher herausgegeben werden, in denen kein einziger Satz mehr von wahren Gefühlen erzählt. Bücher, in denen einfach nur dahin geschrieben wird, und Bücher, in denen langweilige Gelehrte ihre elenden Theorien an die Leute bringen wollen, und Bücher die sich über Hunderte von Seiten mit Nichtigkeiten beschäftigen.“
„Schreiben Sie denn?“ fragte ich, um seinen Ausbruch zu unterdrücken, denn die anderen Leute in der Bäckerei drehten sich schon zu uns um.
„Was? Wie? Ich …“, er schaute sich gehetzt um, „ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich muss weiter.“ Er sprang auf und war auch schon verschwunden, ehe ich etwas erwidern konnte. Auch der junge Mann war schon gegangen, vermutlich, um sich mit Adele zu treffen und in die Deutsche Staatsoper zu gehen. Ich stand auch auf und ging zur S-Bahn Kundenzentrale, um mir eine neue Monatskarte zu kaufen. Ich würde die nächsten Wochen hier in Berlin leben müssen, um eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Das waren nun wirklich keine herrlichen Aussichten und daher lief ich etwas betrübt auf dem Bahnsteig auf und ab, wo ich auf die S-Bahn wartete.
Einige Tage später hatte es einen Wetterwechsel gegeben, der die eisige Winterkälte in ein feuchtes Novembergrau verwandelte. Es war zwar noch relativ früh am Abend, aber im Januar wurde es schon um vier Uhr nachmittags dunkel. Ich lief über die Straße Unter den Linden, weil ich keine Lust hatte, den Bus zu nehmen. Ich wäre viel zu früh in meiner einsamen Wohnung angekommen und davor graute es mir. Schon vor der Humboldt-Universität fiel mein Blick auf einen gewaltigen Schwarm von schwarzen Vögeln, die über der Berliner Mitte kreisten. Es mussten an die zehntausend Krähen sein, die in Wogen aufstiegen und sich dann auf dem Dach der ausgehöhlten Fassade des Palastes der Republik niederließen. Ich blieb stehen und schaute mir das Spektakel an. Fast unheimlich war es, dass all diese Vögel beinahe keinen Laut von sich gaben. Als ich weiterging, bemerkte ich, dass einige der Krähen sich auch in den kahlen Bäumen hinter dem Dom niedergelassen hatten, auf beiden Seiten der Spree. Jetzt hörte ich auch ihr Krächzen, wenn auch sehr leise, vom Lärm der Straße, den Motoren der Autos, Busse, Bahnen und Flugzeuge übertönt. Auf der rückwärtigen Seite des Palastes der Republik wandte ich mich noch einmal um. Ich sah, dass tatsächlich die meisten Krähen auf dem Dach des entkernten, ehemals staatstragenden Gebäudes saßen, wie ein Heer von Gargylen, dass auf den Angriffsbefehl wartete, um bei Signal, die gesamte entkräftete Hauptstadt zu zerstören. Gegenwehr hätte es nicht gegeben. Die wenigen Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, sahen müde und erschöpft aus. Gereizt blickten sie auf den Boden, sprachen kaum untereinander und hielten sich die Mantelkrägen mit rot gefrorenen Fingern gegen den kalten Wind zusammen. Ich spürte, wie mir ein Schauer den Nacken hinablief und wunderte mich nicht zum ersten Mal über meine düstere und unglückliche Stimmung. „Ja, die sehen schon wie ein furchtbares, angriffsbereites Heer von finsteren Raben aus“, sagte plötzlich direkt neben mir eine vertraute Stimme. Es war der absonderliche Mann aus der Bahnhofsbäckerei. Er sah müde aus und seine Haare waren wirr und zerzaust, als wäre er erst eben gerade aufgestanden. Meine Stimme war noch etwas rau, denn ich hatte den ganzen Tag über noch mit keinem Menschen gesprochen. „Es sind doch wohl Nebelkrähen“, sagte ich, „oder bestenfalls Dohlen.“ Ich hatte wohl zu leise geredet, denn er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und hielt sich eine Hand an sein rechtes Ohr. „Glauben Sie wirklich, dass das Raben sind“, sagte ich nun etwas lauter. „Ja, ganz gewiss sogar. Eine Armee von Raben, die von einem Zauberer herbeigerufen wurden. Er sitzt in seiner Villa in Zehlendorf und hadert mit der Welt. Seine jüngste Tochter, Friedericke mit Namen, ist von ihrem Freund verlassen worden und sitzt nun unglücklich in ihrem Zimmer. Sie schaut den ganzen Tag nur noch fern und isst nicht mehr. Der Zauberer will nun die Raben auf die ganze Stadt hetzen, wenn der junge Mann sich nicht wieder mit ihr zusammentut.“ Ich wusste nicht so genau, wie ich auf diesen Schwachsinn reagieren sollte, sagte also einfach: „Ach so, das erklärt natürlich einiges. Ich hätte gedacht, diese großen Schwärme kommen vielleicht in die Stadt, weil es hier im Winter einfach mehr zu essen gibt, als auf den Feldern in Brandenburg.“ Er schaute mich wieder mit seinem durchdringenden Blick an. „Nun, so ein Unsinn“, versetzte er, „ich frage mich, was so junge Leute wie sie eigentlich heutzutage so alles für einen Mist lernen.“ Ich wollte mich entschuldigen und erklären, dass wir im Biologieunterricht vornehmlich etwas über die Photosynthese und die Genetik gelernt haben und fast nichts über Krähen und andere rabenartige Vögel, doch der komische Kauz war schon in die Spandauer Straße abgebogen, und ich sah, wie er in einem atemberaubendem Tempo davonlief, wobei er ab und zu ein wenig hüpfte und zwar so als würde ihn ein innerer Drang dazu treiben, denn eigentlich gab es dafür keinen Anlass.
Als ich ihn das dritte Mal traf, es war nun schon Ende Januar, lief ich gerade durch Prenzlauer Berg. Es war abends, der Himmel war bedeckt und nur wenige Menschen waren auf den Straßen. Er stand plötzlich vor mir, sah fast verhungert aus, mit seinen eingefallenen Wangen, seinen dünnen Beinen und seinem irren, wenn auch intensiven Blick. „Ich muss Ihnen etwas zeigen“, rief er, als wären wir die besten Freunde und hätten uns gestern erst das letzte Mal gesehen. „Folgen Sie mir“, rief er nun etwas lauter und lief auch schon voraus. Ich hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen, denn er lief sehr schnell, wenn auch leicht gebückt. Ab und an tat er einen Sprung, mitten im Lauf, so als müsse er über eine Wurzel oder einen hohen Bordstein springen. An einem unsanierten Altbau in der Rykestraße hielt er vor einer mit Antikriegsplakaten beklebten Tür an. Das Haus war in ein Gerüst gekleidet und unten an der Wand lehnten Fahrräder. Er öffnete die Tür und schlüpfte blitzschnell in den Eingang. Nur kurz winkte er mir, ihm zu folgen und schon haspelte er die steile hölzerne Treppe empor. Gelegentlich gibt es solche Altbauten noch in Berlin, Häuser in denen seit über hundert Jahren die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die Treppe und das Geländer waren aus dunklem, massivem Holz. Über mehrere Etagen folgte ich ihm, jede Stufe schien unter unseren Schritten zu knarren. Im vierten Stock blieb er stehen und öffnete eine Tür, die sich mit einem Quietschen öffnete. Er führte mich durch ein Vorzimmer, dessen Einrichtung ich kaum erkennen konnte, denn es war sehr dunkel. Nur ein wenig Mondlicht fiel durch die hohen Fenster, die jedoch zum größten Teil mit Vorhängen abgehängt waren. In einem angrenzenden Raum wies er hastig auf ein altes Biedermeiersofa mit einem grün-weiß gestreiften Bezug. „Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da.“ Der Raum war abgesehen von dem Sofa und einem wuchtigen alten Schreibtisch mit einem Stuhl vollkommen leer. Als er zurückkam, trug er in einer Hand einen siebenarmigen Leuchter mit brennenden Kerzen, in der anderen Hand hielt er einen Stapel beschriebenes Papier. Er begann sofort damit, mir vorzulesen und ich vergaß im Laufe der Geschichte, wo ich war und was ich eigentlich genau wollte. An den genauen Inhalt seiner Erzählung kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ging um einen jungen Mann, der in Berlin, dem Hungertod nahe, an einem Manuskript über einen Schriftsteller schrieb. Die einzige ihm bekannte Person war ein wunderschönes junges Mädchen. Die Tochter eines angesehenen Richters am Landgericht, die jedoch nur selten die Zeit hatte, sich mit dem jungen Schriftsteller zu treffen. Einmal, als ihren Eltern vereist sind, gelingt es ihr, ihn zu sich nach Hause einzuladen. Die beiden essen Tiefkühlpizza und reden über ihr Leben und ihre Liebe zueinander, als plötzlich die Eltern der beiden wiederkehren. Der Vater, wutentbrannt, verbietet dem jungen Schriftsteller das Haus und droht ihm mit der Polizei und so irrt der junge Mann nun ganz alleine durch die große unwirtliche Stadt. Vielleicht klingt die Geschichte ein wenig langweilig und bedeutungslos, ja sogar unplausibel, aber die ruhige Stimme, in der mir der Mann vorlas, hatte eine fast magische Wirkung auf mich. Er hatte, wie ich jetzt bemerkte, einen leicht süddeutschen Akzent. Vielleicht stammte er aus Heidelberg. Die Erzählung endet mit dem traurigen Tod des jungen Mannes. Er wandert vor lauter Einsamkeit in die Brandenburgische Winternacht und ersäuft sich in einem Ausläufer der Havel. Als das Mädchen von seinem Tod erfährt, verliert sie den Verstand und muss fortan in einer betreuten Wohngemeinschaft wohnen, wo um ihretwillen ein Zivildienstleistender nach dem anderen den Verstand verliert.
Nachdem der Mann geendet hatte, stand er auf und lief in den Nebenraum. Es raschelte ein wenig und nach ein paar Augenblicken kam er wieder zurück. Als ich ihn so vor mir stehen sah, er hatte sich wohl ein Taschentuch geholt, um seine Tränen fortzuwischen, da hatte ich fast das Gefühl, in die Augen von E. T. A. Hoffmann zu blicken. „Seid Ihr es?“ fragte ich daher schüchtern.
Es war einer der ersten Tage des neuen Jahres, als ich erschöpft aus dem Zug stieg und direkt dort am Bahnhof Zoologischer Garten in einer der Bäckereien einen Kaffee bestellte. Ich war gerade mit dem Zug aus Weimar eingefahren und stand noch unter dem Eindruck meiner kurzen Reise. Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg waren von einer Eisschicht bedeckt gewesen. Inmitten der Saale, der Elbe und der Havel hatten sich Eisinseln gebildet und so manche Bank, die im Sommer einen schönen Ausblick von der Uferpromenade ermöglicht hätte, stand nun mitsamt der dazugehörigen Mülltonne im Wasser. Schrebergärten hatten sich in Eisgärten verwandelt, und die weiten Wiesen und Felder waren mit Schnee bedeckt. Auf den Ästen der alten Bäume lastete schwer der Schnee. Weit und breit war kaum ein Mensch zu sehen, auch nicht in den kleinen Ortschaften mit Namen wie Güsow oder Kirchmöser, Wulfen oder Apolda, die meine Bummelzüge durchquerten. Sie hielten an jedem Bahnhof an, ob nun jemand einstieg oder nicht, und der Regionalzug in Brandenburg verkündigte jede nahende Haltestelle sogar mit einer unerträglichen, synthetischen Volksmelodie, deren Ursprung ich jedoch nicht ganz zu ergründen vermochte. Sie erinnerte mich ein wenig an Das Wandern ist des Müllers Lust, doch schien die Melodie eine andere, mir unbekannte zu sein. Es fuhren kaum Leute mit der Bahn. Die Wirtschaftskrise hatte den Osten Deutschlands fest im Griff, und wenn die Menschen Reisen mussten, dann fuhren sie normalerweise mit dem Auto. Die Bahn hatte gerade die Preise angezogen und die günstigen IR-Züge gestrichen. Auch denjenigen, den ich zuvor immer genommen hatte.
So war ich jetzt zum ersten Mal in diesem frühen Jahr des neuen Jahrtausends mit einem Bummelzug durch das eiserstarrte Land gefahren. Die Temperaturen hatten nachts in den letzten Tagen bis zu zwanzig Grad unter Null erreicht. Mir gefiel diese Kälte sehr gut. Die Luft war klar und rein. Dennoch, als ich jetzt am Bahnhof Zoo in einem dieser Läden einer Bäckereikette saß und einen viel zu teuren Kaffe bestellen wollte, um mich aufzuwärmen und an die zahlreichen griesgrämigen Menschen zu gewöhnen, war es mir, als sei auch in den Deutschen, die ich um mich herum wahrnahm, etwas erstarrt. Ich hörte wie über den nahenden Krieg gesprochen wurde, der schon eine abgemachte Sache zu sein schien. Man sprach über die sinkenden Aktienkurse, die steigenden Arbeitslosenzahlen, die drohenden Streiks im öffentlichen Dienst und die zunehmende steuerliche Belastung.
Ich hatte schon einige Minuten freundlich – wenn auch wahrscheinlich leicht melancholisch – lächelnd die Verkäuferin angeschaut, aber sie schien nicht reagieren zu wollen, obwohl weit und breit kein anderer Kunde zu sehen war. Jetzt erst kam ein weiterer, sah meinen erwartungsfrohen und hoffnungslosen Blicke und sagte, indem er sich die Mütze vom Kopf nahm: „Die werden hier immer unfreundlicher in diesem Land. Vor ein paar Jahren, da war das noch ganz anders. Bitte schön hier, bitte sehr da! Wissen Sie, was mit denen los ist?“ Ich lächelte nur etwas vorsichtig. In Berlin wusste man nie, ob man es mit einem Irren zu tun hatte oder etwa mit einem geschäftigen und selbstbewussten Menschen. Ich hatte es aufgegeben, zu warten, bis die Verkäuferin mich wahrnehmen würde und rief laut: „Einen Kaffee, bitte!“ Der Mann neben mir rief: „Für mich auch einen Kaffee.“ Die Frau hinter der Theke machte ein finsteres Gesicht, sprach jedoch kein Wort und bereitete den Kaffee vor. Es schien, als hätte man ihre Verachtung nur dadurch geweckt, dass man bei ihr etwas bestellen wollte. Um nicht mit dem Mann neben mir reden zu müssen, las ich in der Zeitung – von der ich wusste, dass sie vor kurzem zahlreiche feste Redakteure entlassen hatte – von einer ostdeutschen Familie, die durch unglückliche Umstände hoch verschuldet ihr Gasthaus aufgeben mussten. Die Zeitung war schlechter geworden, der Artikel wimmelte nur so vor sachlichen und formalen Fehlern und dennoch war ihr Preis erst vor kurzem angehoben worden. Ich ließ das Blatt sinken und schaute lieber wieder auf die Passanten: Geschäftsleute in dunklen Anzügen oder strengen Kostümen, junge Mädchen in langen taillierten Mänteln, ihre Haaren zu einfachen Zöpfen zusammengebunden, pubertierende Jungen mit Hosen, die in den Kniekehlen zu liegen kamen, alte Damen mit großen Koffern, die sie an ausklappbaren Griffen durch den Bahnhof zogen. Ein Mann mit blondem schütterem Haar verkaufte eine Obdachlosenzeitung, mit einem netten Lächeln, auch wenn die potentiellen Kunden schon längst weitergegangen waren, ohne sich nach ihm umzuschauen. Touristen aus aller Welt liefen durch die Bahnhofshalle: Japaner, Afrikaner, Amerikaner mit großen Rucksäcken, Kanadier, die sich vor allem durch die Aufnäher ihrer Landesflaggen von ihren Nachbarn unterschieden. Und während ich dort in dem Café saß, meinen kleinen Kaffee trank und nur gelegentlich in die Tageszeitung blickte, war ich fast zufrieden. Die Menschen, die an mir vorüberliefen, Damen in ihren Reisekostümen, die jungen Rucksacktouristen mit ihren Gitarren, ließen in mir ein Gefühl aufkommen, als wäre es mir möglich, einen Roman zu schreiben oder zumindest eine Kurzgeschichte. Ich betrachtete einen schlanken jungen Mann mit einem elegant geschnittenen langen Mantel und leicht gelockten, dunklen Haaren und versuchte mir vorzustellen, warum er wohl hier in Berlin am Bahnhof war, ob er verreisen wollen würde oder nur ein paar Minuten wartete, da gleich seine Freundin aus einer anderen Stadt einfahren würde. „Sie haben diesen jungen Mann entdeckt!“ sagte plötzlich neben mir ein kleiner Mann mit einem leichten Buckel. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, hatte strahlende, blaugrüne Augen und einen scharfen Blick, mit dem er mich aufmerksam musterte. Sein Anzug wirkte ein wenig altmodisch, war dunkelblau, und unter dem Jackett trug er ein weißes Hemd mit Rüschen. Seinen langen schwarzen Mantel legte er neben sich auf einen Stuhl, nachdem er sich, ohne weiter zu fragen, neben mir niedergesetzt hatte. „Ja“, sagte ich, ohne mir genau darüber im Klaren zu sein, warum ich ihm antwortete. „Ein sehr interessanter junger Mann“, bemerkte er und fuhr sofort fort: „Ich glaube er besucht hier in der Stadt seinen Onkel. Er hat wahrscheinlich vor kurzem erst sein Abitur absolviert, mit lauter Einsern in allen Fächer und weiß jetzt nicht so genau, was er mit seinem Leben anfangen soll. Sein Onkel ist Oberregierungsrat, war jedoch in jüngeren Jahren auch einmal ein wenig künstlerisch veranlagt. Auf dem Dachboden seines großen Hauses in Grunewald liegt vielleicht sogar noch sein Roman, den er während seines Studiums in den Abendstunden geschrieben und danach einfach in einer Schublade verschlossen gehalten hatte, bis er, nach einigen Umzügen zwischen alten Papieren in einer Umzugskiste verstaut, dort gelagert worden war. Die Seiten des Romans sind wahrscheinlich schon vergilbt, die Tinte verblichen und kaum noch leserlich. Selbst der Onkel, der Regierungsrat, weiß gar nicht mehr genau, was er da einmal geschrieben hat. Der junge Mann hat sich in Konstanz in Jura eingeschrieben und hat jetzt vielleicht noch ein paar Tage, bevor das Wintersemester in die zweite Runde geht. Aber der eigentliche Grund für seinen Besuch ist ein anderer. Der Onkel hat eine Stieftochter im Haus, Adele mit Namen, ein schlankes Mädchen mit wachen grünen Augen, einem zierlichen Hals und lustigen schwarzen Locken. Sie ist die Tochter einer italienischen Opernsängerin, der Frau des Oberregierungsrates. Diese war zuvor mit einem Operndirektor und Kammermusikmeister verheiratet, der jedoch – schon vor langer Zeit – unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist.“
Der Mann war gar nicht mehr zu bremsen: „Wieso hat den Adele so lustige schwarze Locken“, fragte ich ihn, um überhaupt etwas zu sagen, „wenn doch ihr Vater verstorben ist?“
„Das fragen Sie mich noch?“ Der Mann schien ernsthaft beleidigt zu sein. „Das liegt ja wohl ganz an Ihnen, sich da eine sinnvolle Geschichte auszudenken.“ Er wirkte ein wenig fahrig, auch etwas ungeduldig, und in seinen Augen hatte er ein leichtes Flackern. Seine Wangen, das bemerkte ich erst jetzt, waren ein wenig eingefallen. Es schien, als hätte er in den letzten Tagen, ja vielleicht sogar Wochen, nicht genug zu essen bekommen.
„Möchten Sie vielleicht auch ein Brötchen essen, mit Käse oder Schinken? Ich habe einen mörderischen Hunger“, sagte ich, um ihn zum Mitessen zu bewegen. Aber mein altruistischer Anfall stieß auf regen Widerstand.
„Ich esse nicht. Ich esse nie und brauche auch gar nichts zu essen. Wenn alle jungen Menschen heutzutage so verfressen sind wie Sie, dann muss man sich ja gar nicht wundern, wenn immer mehr gefräßige Bücher herausgegeben werden, in denen kein einziger Satz mehr von wahren Gefühlen erzählt. Bücher, in denen einfach nur dahin geschrieben wird, und Bücher, in denen langweilige Gelehrte ihre elenden Theorien an die Leute bringen wollen, und Bücher die sich über Hunderte von Seiten mit Nichtigkeiten beschäftigen.“
„Schreiben Sie denn?“ fragte ich, um seinen Ausbruch zu unterdrücken, denn die anderen Leute in der Bäckerei drehten sich schon zu uns um.
„Was? Wie? Ich …“, er schaute sich gehetzt um, „ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich muss weiter.“ Er sprang auf und war auch schon verschwunden, ehe ich etwas erwidern konnte. Auch der junge Mann war schon gegangen, vermutlich, um sich mit Adele zu treffen und in die Deutsche Staatsoper zu gehen. Ich stand auch auf und ging zur S-Bahn Kundenzentrale, um mir eine neue Monatskarte zu kaufen. Ich würde die nächsten Wochen hier in Berlin leben müssen, um eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Das waren nun wirklich keine herrlichen Aussichten und daher lief ich etwas betrübt auf dem Bahnsteig auf und ab, wo ich auf die S-Bahn wartete.
Einige Tage später hatte es einen Wetterwechsel gegeben, der die eisige Winterkälte in ein feuchtes Novembergrau verwandelte. Es war zwar noch relativ früh am Abend, aber im Januar wurde es schon um vier Uhr nachmittags dunkel. Ich lief über die Straße Unter den Linden, weil ich keine Lust hatte, den Bus zu nehmen. Ich wäre viel zu früh in meiner einsamen Wohnung angekommen und davor graute es mir. Schon vor der Humboldt-Universität fiel mein Blick auf einen gewaltigen Schwarm von schwarzen Vögeln, die über der Berliner Mitte kreisten. Es mussten an die zehntausend Krähen sein, die in Wogen aufstiegen und sich dann auf dem Dach der ausgehöhlten Fassade des Palastes der Republik niederließen. Ich blieb stehen und schaute mir das Spektakel an. Fast unheimlich war es, dass all diese Vögel beinahe keinen Laut von sich gaben. Als ich weiterging, bemerkte ich, dass einige der Krähen sich auch in den kahlen Bäumen hinter dem Dom niedergelassen hatten, auf beiden Seiten der Spree. Jetzt hörte ich auch ihr Krächzen, wenn auch sehr leise, vom Lärm der Straße, den Motoren der Autos, Busse, Bahnen und Flugzeuge übertönt. Auf der rückwärtigen Seite des Palastes der Republik wandte ich mich noch einmal um. Ich sah, dass tatsächlich die meisten Krähen auf dem Dach des entkernten, ehemals staatstragenden Gebäudes saßen, wie ein Heer von Gargylen, dass auf den Angriffsbefehl wartete, um bei Signal, die gesamte entkräftete Hauptstadt zu zerstören. Gegenwehr hätte es nicht gegeben. Die wenigen Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, sahen müde und erschöpft aus. Gereizt blickten sie auf den Boden, sprachen kaum untereinander und hielten sich die Mantelkrägen mit rot gefrorenen Fingern gegen den kalten Wind zusammen. Ich spürte, wie mir ein Schauer den Nacken hinablief und wunderte mich nicht zum ersten Mal über meine düstere und unglückliche Stimmung. „Ja, die sehen schon wie ein furchtbares, angriffsbereites Heer von finsteren Raben aus“, sagte plötzlich direkt neben mir eine vertraute Stimme. Es war der absonderliche Mann aus der Bahnhofsbäckerei. Er sah müde aus und seine Haare waren wirr und zerzaust, als wäre er erst eben gerade aufgestanden. Meine Stimme war noch etwas rau, denn ich hatte den ganzen Tag über noch mit keinem Menschen gesprochen. „Es sind doch wohl Nebelkrähen“, sagte ich, „oder bestenfalls Dohlen.“ Ich hatte wohl zu leise geredet, denn er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und hielt sich eine Hand an sein rechtes Ohr. „Glauben Sie wirklich, dass das Raben sind“, sagte ich nun etwas lauter. „Ja, ganz gewiss sogar. Eine Armee von Raben, die von einem Zauberer herbeigerufen wurden. Er sitzt in seiner Villa in Zehlendorf und hadert mit der Welt. Seine jüngste Tochter, Friedericke mit Namen, ist von ihrem Freund verlassen worden und sitzt nun unglücklich in ihrem Zimmer. Sie schaut den ganzen Tag nur noch fern und isst nicht mehr. Der Zauberer will nun die Raben auf die ganze Stadt hetzen, wenn der junge Mann sich nicht wieder mit ihr zusammentut.“ Ich wusste nicht so genau, wie ich auf diesen Schwachsinn reagieren sollte, sagte also einfach: „Ach so, das erklärt natürlich einiges. Ich hätte gedacht, diese großen Schwärme kommen vielleicht in die Stadt, weil es hier im Winter einfach mehr zu essen gibt, als auf den Feldern in Brandenburg.“ Er schaute mich wieder mit seinem durchdringenden Blick an. „Nun, so ein Unsinn“, versetzte er, „ich frage mich, was so junge Leute wie sie eigentlich heutzutage so alles für einen Mist lernen.“ Ich wollte mich entschuldigen und erklären, dass wir im Biologieunterricht vornehmlich etwas über die Photosynthese und die Genetik gelernt haben und fast nichts über Krähen und andere rabenartige Vögel, doch der komische Kauz war schon in die Spandauer Straße abgebogen, und ich sah, wie er in einem atemberaubendem Tempo davonlief, wobei er ab und zu ein wenig hüpfte und zwar so als würde ihn ein innerer Drang dazu treiben, denn eigentlich gab es dafür keinen Anlass.
Als ich ihn das dritte Mal traf, es war nun schon Ende Januar, lief ich gerade durch Prenzlauer Berg. Es war abends, der Himmel war bedeckt und nur wenige Menschen waren auf den Straßen. Er stand plötzlich vor mir, sah fast verhungert aus, mit seinen eingefallenen Wangen, seinen dünnen Beinen und seinem irren, wenn auch intensiven Blick. „Ich muss Ihnen etwas zeigen“, rief er, als wären wir die besten Freunde und hätten uns gestern erst das letzte Mal gesehen. „Folgen Sie mir“, rief er nun etwas lauter und lief auch schon voraus. Ich hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen, denn er lief sehr schnell, wenn auch leicht gebückt. Ab und an tat er einen Sprung, mitten im Lauf, so als müsse er über eine Wurzel oder einen hohen Bordstein springen. An einem unsanierten Altbau in der Rykestraße hielt er vor einer mit Antikriegsplakaten beklebten Tür an. Das Haus war in ein Gerüst gekleidet und unten an der Wand lehnten Fahrräder. Er öffnete die Tür und schlüpfte blitzschnell in den Eingang. Nur kurz winkte er mir, ihm zu folgen und schon haspelte er die steile hölzerne Treppe empor. Gelegentlich gibt es solche Altbauten noch in Berlin, Häuser in denen seit über hundert Jahren die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die Treppe und das Geländer waren aus dunklem, massivem Holz. Über mehrere Etagen folgte ich ihm, jede Stufe schien unter unseren Schritten zu knarren. Im vierten Stock blieb er stehen und öffnete eine Tür, die sich mit einem Quietschen öffnete. Er führte mich durch ein Vorzimmer, dessen Einrichtung ich kaum erkennen konnte, denn es war sehr dunkel. Nur ein wenig Mondlicht fiel durch die hohen Fenster, die jedoch zum größten Teil mit Vorhängen abgehängt waren. In einem angrenzenden Raum wies er hastig auf ein altes Biedermeiersofa mit einem grün-weiß gestreiften Bezug. „Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da.“ Der Raum war abgesehen von dem Sofa und einem wuchtigen alten Schreibtisch mit einem Stuhl vollkommen leer. Als er zurückkam, trug er in einer Hand einen siebenarmigen Leuchter mit brennenden Kerzen, in der anderen Hand hielt er einen Stapel beschriebenes Papier. Er begann sofort damit, mir vorzulesen und ich vergaß im Laufe der Geschichte, wo ich war und was ich eigentlich genau wollte. An den genauen Inhalt seiner Erzählung kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ging um einen jungen Mann, der in Berlin, dem Hungertod nahe, an einem Manuskript über einen Schriftsteller schrieb. Die einzige ihm bekannte Person war ein wunderschönes junges Mädchen. Die Tochter eines angesehenen Richters am Landgericht, die jedoch nur selten die Zeit hatte, sich mit dem jungen Schriftsteller zu treffen. Einmal, als ihren Eltern vereist sind, gelingt es ihr, ihn zu sich nach Hause einzuladen. Die beiden essen Tiefkühlpizza und reden über ihr Leben und ihre Liebe zueinander, als plötzlich die Eltern der beiden wiederkehren. Der Vater, wutentbrannt, verbietet dem jungen Schriftsteller das Haus und droht ihm mit der Polizei und so irrt der junge Mann nun ganz alleine durch die große unwirtliche Stadt. Vielleicht klingt die Geschichte ein wenig langweilig und bedeutungslos, ja sogar unplausibel, aber die ruhige Stimme, in der mir der Mann vorlas, hatte eine fast magische Wirkung auf mich. Er hatte, wie ich jetzt bemerkte, einen leicht süddeutschen Akzent. Vielleicht stammte er aus Heidelberg. Die Erzählung endet mit dem traurigen Tod des jungen Mannes. Er wandert vor lauter Einsamkeit in die Brandenburgische Winternacht und ersäuft sich in einem Ausläufer der Havel. Als das Mädchen von seinem Tod erfährt, verliert sie den Verstand und muss fortan in einer betreuten Wohngemeinschaft wohnen, wo um ihretwillen ein Zivildienstleistender nach dem anderen den Verstand verliert.
Nachdem der Mann geendet hatte, stand er auf und lief in den Nebenraum. Es raschelte ein wenig und nach ein paar Augenblicken kam er wieder zurück. Als ich ihn so vor mir stehen sah, er hatte sich wohl ein Taschentuch geholt, um seine Tränen fortzuwischen, da hatte ich fast das Gefühl, in die Augen von E. T. A. Hoffmann zu blicken. „Seid Ihr es?“ fragte ich daher schüchtern.