Abendstimmung
Verfasst: 18.12.2005, 18:27
Ich schiebe mir langsam einen Johannisbeerdrop in den Mund und lasse ihn auf der Zunge zergehen. Solange, bis nur noch der Zucker übrig geblieben ist. Ich schlucke ihn schnell hinunter. Eine Träne rollt leise über meine Wange. Ganz unauffällig. Ich wische sie mit dem Handrücken ab. Noch ein Johannisbeerdrop. Mein Handy liegt neben mir. Es gibt keinen Ton von sich. Ich starre es eine Weile an, als ob es dadurch anfangen würde zu vibrieren. Aber es rührt sich nicht. Der Fernseher summt, jemand hat vergessen, ihn ganz auszuschalten. Ich stehe auf und drücke auf den großen schwarzen Knopf. Dann lasse ich mich zurück aufs Bett fallen und wickel die Wolldecke fest um mich. Sie ist so warm und gemütlich. Sie gibt einem das Gefühl von Geborgenheit. Sie ist ein bisschen zu klein für meine langen Beine. Deswegen ziehe ich die Füße ganz nah an meinen Körper. Es hilft nichts. Ich zittere immer noch. Ganz von alleine fängt mein Körper an, sich hin und her zu bewegen. Vor und zurück. Vor und zurück. Wie eine Wiege. Meine Haare fallen mir in die Augen. Ich setze mich wieder auf und streiche sie aus dem Gesicht. Ziehe die Nase hoch. Ich greife mir ein Taschentuch vom Nachttisch. Es sind gute Taschentücher, so schön weich. Sie stecken in einer Schachtel, die mit schneebedeckten Bäumen bedruckt ist. Dort bei den Bäumen ist es bestimmt genauso kalt wie jetzt gerade in meinem Zimmer. Ich starre auf die Wand. Sie ist so weiß wie der Schnee auf der Taschentücherkiste. Bloß dass an der Wand lauter Bilder hängen. Bilder, die ich in der Schule gemalt hab, früher. Und Urkunden. Ne Menge Urkunden. Urkunden für jeden Scheiß. Zeltlager, Kinderchor, Malwettbewerb. Eine Werbeanzeige hängt auch da. „Der Kampf gegen die Dummheit hat gerade erst begonnen“ steht darauf. Ich habe keinen Hunger mehr auf Johannisbeerdrops. Ich rolle die Tüte zusammen, damit der Zucker nicht herauskrümelt. Aber das Plastik faltet sich wieder auseinander, sobald ich die Tüte loslasse. Ich nehme das Handy in die Hand und rufe das Telefonbuch auf, scrolle durch das Verzeichnis, bis ich zu deinem Namen komme. Ich spreche ihn laut aus. Er klingt gut. Meine Finger spielen mit dem Knopf für „Nachricht senden“, aber ich drücke das Menü schnell weg und lege das Handy wieder neben mich. Mein Hinterkopf schlägt an die Wand. Ich schaue zur Decke. Dotze den Kopf immer wieder gegen die Wand, solange bis es wehtut. Die Tränen laufen über mein Gesicht. Eine bleibt an der Nasespitze hängen und tropft langsam auf meine Unterlippe. Vorsichtig lecke ich sie mit der Zunge auf. Sie schmeckt salzig. Dort, wo die Decke mein Kinn berührt, hat sich ein nasser Fleck gebildet. Ich trockne ihn ein bisschen mit einem Taschentuch. Das macht es auch nicht besser. Mein Bein ist eingeschlafen. Vorsichtig strecke ich es unter der Decke hervor und lasse es ein wenig in der Luft baumeln. Ich versuche das Kribbeln zu ignorieren. Mein Knie knackst, als ich das Bein wieder anziehen will. Jetzt ist mein Fuß ganz kalt. Ich versuche ihm mit der Hand warm zu reiben, aber es nützt nicht viel. „Männer haben eine dickere Haut als Frauen, deswegen ist ihnen niemals kalt“, hast du mir mal erklärt. Damals. „Dann kannst du mir ja was von deiner Wärme abgeben“, hab ich gesagt und wir haben gelacht. Du hast mich in den Arm genommen und gesagt „Soviel wie du willst“. Jetzt könnte ich welche gebrauchen.