Eine neue Erfahrung
Verfasst: 09.08.2006, 12:47
Eine neue Erfahrung*
Es war spät geworden in der Nacht zuvor oder besser gesagt, früh am Morgen. Er hatte mit einigen Freunden und Kollegen in einer Kölner Nobeldisco seine Beförderung zum stellvertretenden Marketingleiter der Firma gefeiert, bei der er sich seit einigen Jahren langsam hochgearbeitet hatte. Nach einer Katzenwäsche war er ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Den lauten Streit aus dem Appartement über ihm sowie das endlose Telefonklingeln aus der Wohnung nebenan hatte er gar nicht mehr wahrgenommen. Die Geräusche dieses Hauses mit seinen dünnen Wänden störten ihn schon längst nicht mehr.
Um Punkt 10.15 meldete sich der Radiowecker mit einem Song von Robbie Williams in einer Lautstärke, die einen Toten zum Leben erweckt hätte. Er räkelte sich genüsslich und wippte mit den Zehen zum Takt der Musik. Erst um 15.30 hatte er einen dienstlichen Termin und er war entschlossen, die Zeit bis dahin zu genießen. Eigentlich wäre es der richtige Tag, dachte er, um sich endlich das Sakko zu kaufen, das er vor einer Woche flüchtig in der Reklame gesehen hatte. Dazu vielleicht noch ein oder zwei Hemden, ein paar schicke Krawatten. Anschließend ein leichtes Essen bei seinem Italiener. Das Wetter war schön, er würde draußen sitzen können. Mit diesen verlockenden Aussichten vor Augen blieb er noch einige Minuten liegen, bevor er sein allmorgendliches Ritual begann: zunächst schlurfte er ins Wohnzimmer, schaltete am Fernseher den Nachrichtensender ein, dann in die Küche, wo er die Kaffeemaschine füllte und in Gang setzte, und von dort aus direkt unter die Dusche. An der Armatur baumelte ein wasserfestes Radio. Die Musik, die daraus ertönte, klang zwar wie aus der Konservendose, aber sie half ihm, die ersten kalten Strahlen besser zu ertragen. Während des Frühstücks informierte ihn das Tv über die neuesten Katastrophen dieser Welt, derer er jedoch schnell überdrüssig wurde, und so legte er seine neueste CD in die Musikanlage.
Beim Verlassen des Hauses am Hohenzollernring schlug ihm der für diese Uhrzeit übliche Verkehrslärm entgegen - aus herunter gedrehten Autoscheiben laut wummernde Bässe, Hupen, quietschende Bremsen und im Leerlauf hochgejagte Motoren, die den Fahrern zwar auch nicht halfen, im Verkehrsgewühl schneller voran zu kommen, ihnen aber zumindest für einen weiteren Moment des Stillstandes ein gewisses Maß an seelischer Erleichterung verschafften - ergänzt um das Stakkato zweier Presslufthämmer einer Baustelle, die seit dem Vortag eingerichtet war. Er schob die kleinen Ohrstöpsel ein, schaltete seinen MP3 Player an, auf dem er mehr als 500 Musiktitel gespeichert hatte. Das sollte für den kurzen Weg in die Innenstadt wohl reichen. Er fuhr die Lautstärke hoch und betrat den U-Bahnschacht.
Im Kaufhof erstand er dann tatsächlich das Sakko nebst Hemden und Krawatten, während sich über alle Etagen der übliche Klangteppich aus kauflustfördernder Instrumentalmusik ausbreitete, lediglich unterbrochen von kryptischen Durchsagen wie: "98 bitte auf 17, 98 auf 17 bitte!" Als er nach dem Bezahlen auf den Ausgang zuging, hörte er das schrille Kreischen schon, bevor er die Gruppe von fünf Mädchen überhaupt sah. Waren das etwa noch die Nachwehen des Konzertes von "Tokyo Hotel", das am Vorabend in der Köln Arena stattgefunden hatte? Ohne den Grund für die Gruppenekstase entdecken zu können, verließ er den Kaufhof und schob sich durch die Menschenmassen der Fußgängerzone in Richtung Neumarkt. Ausgerechnet neben einem Obststand, an dem ein Verkäufer im Zweiminutentakt lautstark seine Produkte anpries, hatte sich ein weißrussisches Balalaikaensemble installiert und musizierte. Ihre Klänge vermischten sich schon nach wenigen Metern mit den Trommeln und Panflöten eines peruanischen Andentrios zu einer seltsamen internationalen Symphonie. Auf dem Neumarkt herrschte das ganz normale Gewusel von Passanten, endlosen Autoschlangen und Fahrradfahrern, deren Geklingel im Lärm unterging. Er mochte diesen Platz mit seiner quirligen Atmosphäre, auch wenn er zugeben musste, dass er nicht besonders schön war.
Kurz hinter St. Aposteln fiel ihm ein kleines Ladenlokal auf, in dem vor kurzem noch ein Antiquariat seine Bücher verkauft hatte. Das Schaufenster war jetzt schwarz abgeklebt, was ihn im ersten Moment an ein Bestattungsinstitut denken ließ, aber es fehlte eine Beschriftung, die Aufschluss über die Art des Geschäftes oder den Betreiber gegeben hätte. Er war schon weitergegangen, doch etwas ließ ihn innehalten und schließlich umkehren. Vor der Tür stand ein Schild mit einer merkwürdigen Aufschrift, die seine Neugier weckte. Ihr Text war anders als die sonst üblichen Lockrufe der Werbung und des Einzelhandels, keine eingängigen Anglizismen, keine überdrehten Wortneuschöpfungen, keine grellen Farben. Er klang ruhig, fast bescheiden, wie aus einer anderen Zeit und gerade deshalb zog er ihn magisch an:
"Kommen Sie und machen Sie eine Erfahrung, die Ihr Leben verändern kann! Eintritt frei!"
Er wechselte die Straßenseite und trat ein. Die dicke, auf der Innenseite gepolsterte Holztüre fiel unhörbar hinter ihm zu. Er erschrak. Für den Bruchteil von Sekunden befürchtete er, taub geworden zu sein. Er hörte nichts mehr. Doch dann bemerkte er, dass er noch die Ohrstöpsel trug, obwohl sein Player gar nicht mehr lief. Aber auch, nachdem er sie abgenommen hatte, hörte er keinen Laut, absolut nichts. Er wurde unruhig. Nachdem sich seine Augen an die dämmerige Atmosphäre gewöhnt hatten, erkannte er, dass er sich in einem Raum mit gedämpftem Licht und vielen brennenden Kerzen befand, die in großen Windlichtern aus gelblichem Glas scheinbar wahllos über den Boden des Raumes verteilt waren. Dieser war mit einem dicken Teppichboden ausgelegt, dem man ansah, dass noch nicht viele Besucher über ihn gegangen waren. Das einzige Mobiliar dieses Raumes bestand aus diversen, bequem aussehenden Sesseln. In drei von ihnen saßen Personen, eine Frau und zwei Männer. Fand er schon die Möblierung und die Atmosphäre seltsam, so war das, was die Personen taten, für ihn noch weitaus befremdlicher: sie verharrten reglos in unterschiedlichen Körperhaltungen und schwiegen! Die Frau hatte ihre Augen geschlossen, die anderen beiden fixierten unsichtbare Punkte auf dem Teppichboden.
Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Wo war er hier gelandet? Es handelte sich weder um eine Kirche noch um einen Andachtsraum, wo dieses Verhalten der Menschen normal gewesen wäre. Auch gab es keinerlei Hinweis auf eine mögliche kirchliche oder kommunale Trägerschaft. Was also war das für ein Raum mitten in der City, wo Menschen mitten an einem Werktag wie Statuen saßen und nichts anderes taten als schweigen? Er fühlte sich unsicher. Instinktiv griff seine Hand in die Sakkotasche und umklammerte das Handy, so als könne es ihm Halt geben. Nervös schweiften seine Augen umher auf der Suche nach Orientierung und erste Wellen einer diffusen Angst stiegen in ihm auf, die sich rasch zu einem Gefühl der Panik steigerte. Er wollte raus, einfach nur raus, aber irgendetwas, das er sich nicht erklären konnte, hinderte ihn gleichzeitig daran. Auf seinen häufigen Reisen hatte er schon viele fremdartige Orte und Räume kennen gelernt, aber nie zuvor war er in einem Raum gewesen, der ihn derart irritierte und zugleich anzog wie dieser hier mitten in Köln, wo er eigentlich alles zu kennen glaubte.
Plötzlich fiel sein Blick auf ein Schriftband an der Querwand oberhalb des Fensters haften. Er starrte es ungläubig an. Es enthielt in kunstvoll verschnörkelter Schrift die Antwort auf seine Fragen, und doch brauchte er Minuten, bis er endlich begriff.
Wie von einer unsichtbaren Macht zu Boden gedrückt, sackte er in die Knie, krümmte sich und schrie. Er schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien und hielt sich dabei die Ohren zu.
Man rief die Polizei und den Notarzt.
Während man ihn nach einer Beruhigungsspritze auf einer Trage hinausrollte, las er noch einmal die drei allmählich verschwimmenden Worte an der Wand:
Raum der Stille
* Sprachliche Korrekturen anhand der Anmerkungen von Nifl, dem ich herzlich danke!
Es war spät geworden in der Nacht zuvor oder besser gesagt, früh am Morgen. Er hatte mit einigen Freunden und Kollegen in einer Kölner Nobeldisco seine Beförderung zum stellvertretenden Marketingleiter der Firma gefeiert, bei der er sich seit einigen Jahren langsam hochgearbeitet hatte. Nach einer Katzenwäsche war er ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Den lauten Streit aus dem Appartement über ihm sowie das endlose Telefonklingeln aus der Wohnung nebenan hatte er gar nicht mehr wahrgenommen. Die Geräusche dieses Hauses mit seinen dünnen Wänden störten ihn schon längst nicht mehr.
Um Punkt 10.15 meldete sich der Radiowecker mit einem Song von Robbie Williams in einer Lautstärke, die einen Toten zum Leben erweckt hätte. Er räkelte sich genüsslich und wippte mit den Zehen zum Takt der Musik. Erst um 15.30 hatte er einen dienstlichen Termin und er war entschlossen, die Zeit bis dahin zu genießen. Eigentlich wäre es der richtige Tag, dachte er, um sich endlich das Sakko zu kaufen, das er vor einer Woche flüchtig in der Reklame gesehen hatte. Dazu vielleicht noch ein oder zwei Hemden, ein paar schicke Krawatten. Anschließend ein leichtes Essen bei seinem Italiener. Das Wetter war schön, er würde draußen sitzen können. Mit diesen verlockenden Aussichten vor Augen blieb er noch einige Minuten liegen, bevor er sein allmorgendliches Ritual begann: zunächst schlurfte er ins Wohnzimmer, schaltete am Fernseher den Nachrichtensender ein, dann in die Küche, wo er die Kaffeemaschine füllte und in Gang setzte, und von dort aus direkt unter die Dusche. An der Armatur baumelte ein wasserfestes Radio. Die Musik, die daraus ertönte, klang zwar wie aus der Konservendose, aber sie half ihm, die ersten kalten Strahlen besser zu ertragen. Während des Frühstücks informierte ihn das Tv über die neuesten Katastrophen dieser Welt, derer er jedoch schnell überdrüssig wurde, und so legte er seine neueste CD in die Musikanlage.
Beim Verlassen des Hauses am Hohenzollernring schlug ihm der für diese Uhrzeit übliche Verkehrslärm entgegen - aus herunter gedrehten Autoscheiben laut wummernde Bässe, Hupen, quietschende Bremsen und im Leerlauf hochgejagte Motoren, die den Fahrern zwar auch nicht halfen, im Verkehrsgewühl schneller voran zu kommen, ihnen aber zumindest für einen weiteren Moment des Stillstandes ein gewisses Maß an seelischer Erleichterung verschafften - ergänzt um das Stakkato zweier Presslufthämmer einer Baustelle, die seit dem Vortag eingerichtet war. Er schob die kleinen Ohrstöpsel ein, schaltete seinen MP3 Player an, auf dem er mehr als 500 Musiktitel gespeichert hatte. Das sollte für den kurzen Weg in die Innenstadt wohl reichen. Er fuhr die Lautstärke hoch und betrat den U-Bahnschacht.
Im Kaufhof erstand er dann tatsächlich das Sakko nebst Hemden und Krawatten, während sich über alle Etagen der übliche Klangteppich aus kauflustfördernder Instrumentalmusik ausbreitete, lediglich unterbrochen von kryptischen Durchsagen wie: "98 bitte auf 17, 98 auf 17 bitte!" Als er nach dem Bezahlen auf den Ausgang zuging, hörte er das schrille Kreischen schon, bevor er die Gruppe von fünf Mädchen überhaupt sah. Waren das etwa noch die Nachwehen des Konzertes von "Tokyo Hotel", das am Vorabend in der Köln Arena stattgefunden hatte? Ohne den Grund für die Gruppenekstase entdecken zu können, verließ er den Kaufhof und schob sich durch die Menschenmassen der Fußgängerzone in Richtung Neumarkt. Ausgerechnet neben einem Obststand, an dem ein Verkäufer im Zweiminutentakt lautstark seine Produkte anpries, hatte sich ein weißrussisches Balalaikaensemble installiert und musizierte. Ihre Klänge vermischten sich schon nach wenigen Metern mit den Trommeln und Panflöten eines peruanischen Andentrios zu einer seltsamen internationalen Symphonie. Auf dem Neumarkt herrschte das ganz normale Gewusel von Passanten, endlosen Autoschlangen und Fahrradfahrern, deren Geklingel im Lärm unterging. Er mochte diesen Platz mit seiner quirligen Atmosphäre, auch wenn er zugeben musste, dass er nicht besonders schön war.
Kurz hinter St. Aposteln fiel ihm ein kleines Ladenlokal auf, in dem vor kurzem noch ein Antiquariat seine Bücher verkauft hatte. Das Schaufenster war jetzt schwarz abgeklebt, was ihn im ersten Moment an ein Bestattungsinstitut denken ließ, aber es fehlte eine Beschriftung, die Aufschluss über die Art des Geschäftes oder den Betreiber gegeben hätte. Er war schon weitergegangen, doch etwas ließ ihn innehalten und schließlich umkehren. Vor der Tür stand ein Schild mit einer merkwürdigen Aufschrift, die seine Neugier weckte. Ihr Text war anders als die sonst üblichen Lockrufe der Werbung und des Einzelhandels, keine eingängigen Anglizismen, keine überdrehten Wortneuschöpfungen, keine grellen Farben. Er klang ruhig, fast bescheiden, wie aus einer anderen Zeit und gerade deshalb zog er ihn magisch an:
"Kommen Sie und machen Sie eine Erfahrung, die Ihr Leben verändern kann! Eintritt frei!"
Er wechselte die Straßenseite und trat ein. Die dicke, auf der Innenseite gepolsterte Holztüre fiel unhörbar hinter ihm zu. Er erschrak. Für den Bruchteil von Sekunden befürchtete er, taub geworden zu sein. Er hörte nichts mehr. Doch dann bemerkte er, dass er noch die Ohrstöpsel trug, obwohl sein Player gar nicht mehr lief. Aber auch, nachdem er sie abgenommen hatte, hörte er keinen Laut, absolut nichts. Er wurde unruhig. Nachdem sich seine Augen an die dämmerige Atmosphäre gewöhnt hatten, erkannte er, dass er sich in einem Raum mit gedämpftem Licht und vielen brennenden Kerzen befand, die in großen Windlichtern aus gelblichem Glas scheinbar wahllos über den Boden des Raumes verteilt waren. Dieser war mit einem dicken Teppichboden ausgelegt, dem man ansah, dass noch nicht viele Besucher über ihn gegangen waren. Das einzige Mobiliar dieses Raumes bestand aus diversen, bequem aussehenden Sesseln. In drei von ihnen saßen Personen, eine Frau und zwei Männer. Fand er schon die Möblierung und die Atmosphäre seltsam, so war das, was die Personen taten, für ihn noch weitaus befremdlicher: sie verharrten reglos in unterschiedlichen Körperhaltungen und schwiegen! Die Frau hatte ihre Augen geschlossen, die anderen beiden fixierten unsichtbare Punkte auf dem Teppichboden.
Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Wo war er hier gelandet? Es handelte sich weder um eine Kirche noch um einen Andachtsraum, wo dieses Verhalten der Menschen normal gewesen wäre. Auch gab es keinerlei Hinweis auf eine mögliche kirchliche oder kommunale Trägerschaft. Was also war das für ein Raum mitten in der City, wo Menschen mitten an einem Werktag wie Statuen saßen und nichts anderes taten als schweigen? Er fühlte sich unsicher. Instinktiv griff seine Hand in die Sakkotasche und umklammerte das Handy, so als könne es ihm Halt geben. Nervös schweiften seine Augen umher auf der Suche nach Orientierung und erste Wellen einer diffusen Angst stiegen in ihm auf, die sich rasch zu einem Gefühl der Panik steigerte. Er wollte raus, einfach nur raus, aber irgendetwas, das er sich nicht erklären konnte, hinderte ihn gleichzeitig daran. Auf seinen häufigen Reisen hatte er schon viele fremdartige Orte und Räume kennen gelernt, aber nie zuvor war er in einem Raum gewesen, der ihn derart irritierte und zugleich anzog wie dieser hier mitten in Köln, wo er eigentlich alles zu kennen glaubte.
Plötzlich fiel sein Blick auf ein Schriftband an der Querwand oberhalb des Fensters haften. Er starrte es ungläubig an. Es enthielt in kunstvoll verschnörkelter Schrift die Antwort auf seine Fragen, und doch brauchte er Minuten, bis er endlich begriff.
Wie von einer unsichtbaren Macht zu Boden gedrückt, sackte er in die Knie, krümmte sich und schrie. Er schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien und hielt sich dabei die Ohren zu.
Man rief die Polizei und den Notarzt.
Während man ihn nach einer Beruhigungsspritze auf einer Trage hinausrollte, las er noch einmal die drei allmählich verschwimmenden Worte an der Wand:
Raum der Stille
* Sprachliche Korrekturen anhand der Anmerkungen von Nifl, dem ich herzlich danke!