Lippenstift am Glasrand

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Klara
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Beitragvon Klara » 24.10.2006, 12:03

Lippenstift am Glasrand

Der Bass liegt quer auf den Brettern, dafür ein Klavier, ein Schlagzeug, Saxophon und Gitarre, der Eintritt umsonst, die Getränke teuer, der Club ist bekannt in der Stadt: Hier spielen nur die Versierten und die Verkannten. Auf der Bühne halten sie die Zeit an und sind doch im Takt, die ganze Zeit, immer intakt.

Ich wippe mit dem Fuß und lächle mit roten Lippen, mehr tue ich nicht, sind ja die anderen am Mikro, sind die anderen, die küssen, sich vergessen. Ich vergess nur die Zeit, zähl nicht mit, sondern lausche den Tonleitern, wie sie Akkorde kreuzen, genieße den feinen Witz darin: kein Trost, aber eine Wahrheit.

In der Pause hebt einer den Bass auf und bringt ihn weg. Schade, finde ich, denn schon der Anblick des Instruments pulsiert. Die Musiker hören trotzdem gut aufeinander, machen sich passend, und ich verehre ihre absolute Gegenwart, huldige ihrer Hingabe an das Vergehen. Irgendwann ist Schluss, wie immer. Ich bin betrogen und weiß nicht worum.

Draußen ist keine Welt, jedenfalls nicht meine. Niemand wartet, denn ich schaue nur zu, trinke aus dem schönsten Glas. Sitze nah am Ausgang, oder bleibe stehen, wenn es geht, damit ich sofort gehen kann, wenn’s mir nicht passt. Manchmal bleib ich länger, bis zum Morgengrauen, manchmal passe ich länger hin, doch ich hebe die Zeit nicht auf. Meinen Lippenstift am Glasrand wird der Barmann wegwischen. Der Bass hat gefehlt, denke ich. Würde gern wissen, wo die Akkorde sind zu meiner Melodie, und es fühlt sich an, als wär’ ich zu Gast in meinem eigenen Leben.
Zuletzt geändert von Klara am 02.11.2006, 19:36, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.10.2006, 14:20

Hallo Klara,

dein Text bewegt mich, lässt mich versinken in diese ganz besondere wehmütige Stimmung. Du zeichnest tolle Bilder, mal lebt sie beim Lesen, wird zum LI. Selbst die direkten WHs passen (wie hier:

sind die anderen, die küssen, sich vergessen. Ich vergess nur...


nur das

"genieße den feinen Witz darin" trifft es nicht so genau, finde ich.

Hab mich sehr gerne in diese Welt versetzt ;-)
Saludos
Gabriella
P.S. "Sitze nah am Ausgang, oder bleibe stehen...." Vor oder kein Komma.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.10.2006, 12:00

Liebe Klara,

in deinen Prosastil tauche ich gleich an, der harte, aber schmerzliche Stil trifft Satz für Satz. Und dann sind einige Sätze für sich, ab vom Stil, einfach sehr gelungen:

Ich wippe mit dem Fuß und lächle mit roten Lippen, mehr tue ich nicht, sind ja die anderen am Mikro, sind die anderen, die küssen, sich vergessen.


oder

Musiker hören trotzdem gut aufeinander, machen sich passend,


und
trinke aus dem schönsten Glas
(überhaupt ist der Titel eine schöne Referenz)

besonders:

doch ich hebe die Zeit nicht auf


Mit Stil und solchen Sätzen schaffst du es, die Unzugehörigkeit auszudrücken, die das lyr. Ich empfindet und zwar nicht äußerlich (obwohl du äußerlich beschreibst), sondern innerlich - ich für meinen teil habe sofort die Protagonistin vor Augen, den Typ, wie sie aussieht, was sie fühlt, ihren Gesichtsausdruck - das schaffst du.

Außerdem gefällt mir das der Text trotz seiner Kürze in sich abgeschlossen wirkt, alles erzählt, was man von ihm erwartet.

Ich habe diesen ausgereiften Text sehr gern gelesen!

Liebe Grüße,
Lisa

--------------Anmerkungen---------------
Der Bass liegt quer auf den Brettern, dafür ein Klavier, ein Schlagzeug, Saxophon und Gitarre, der Eintritt umsonst, die Getränke teuer, der Club ist bekannt in der Stadt: Hier spielen nur die Versierten und die Verkannten. Auf der Bühne halten sie die Zeit an und sind doch im Takt, die ganze Zeit, immer intakt.


ich habe kein richtiges Gefühl zum Wort versiert...trifft es das im Kontext Musik? (ist eine Frage, nicht suggestiv gemeint)

Ich wippe mit dem Fuß und lächle mit roten Lippen, mehr tue ich nicht, sind ja die anderen am Mikro, sind die anderen, die küssen, sich vergessen. Ich vergess nur die Zeit, zähl nicht mit, sondern lausche den Tonleitern, wie sie Akkorde kreuzen, genieße den feinen Witz darin: kein Trost, aber eine Wahrheit.


ich würde zähle sagen, da zwar vergess, aber danach lausche, zähle erzeugt einen schöneren Rhythmus, finde ich.

In der Pause hebt der Chef den Bass auf und bringt ihn weg. Schade, finde ich, denn schon der Anblick des Instruments pulsiert. Die Musiker hören trotzdem gut aufeinander, machen sich passend, und ich verehre ihre absolute Gegenwart, huldige ihrer Hingabe an das Vergehen. Irgendwann ist Schluss, wie immer. Ich bin betrogen und weiß nicht worum.


der Chef?...hat zwar den richtigen Klang an Kühle/Distanziertheit, passt aber für mich trotzdem nicht in den Kontext, das Wort...

verehren und huldigen - du willst an dieser Stelle ausdrücken, was das lyr. Ich so strak abgrenzt von den Musikern/der Musik...und du willst auch selbstspöttisch sein, ein bisschen ironisch, letzlich aber doch ernsthaft im Gefühl..."nicht Teil dieser Welt/dieses Moemnts zu sein", nicht in der Lage zu sein, so zu sein - die religiöse Superlativ ist mir hier ein bisschen zu viel, kippt mit "huldigen" - entfernt sich vom Schmerz...hm, ach vielleicht muss das auch so /bin unsicher.......ich lass das trotzdem mal stehen.


Draußen ist keine Welt, jedenfalls nicht meine. Niemand wartet, denn ich schaue nur zu, trinke aus dem schönsten Glas. Sitze nah am Ausgang, oder bleibe stehen, wenn es geht, damit ich sofort gehen kann, wenn’s mir nicht passt. Manchmal bleib ich länger, bis zum Morgengrauen, manchmal passe ich länger hin, doch ich hebe die Zeit nicht auf. Meinen Lippenstift am Glasrand wird der Barmann weg wischen. Der Bass hat gefehlt, denke ich. Würde gern wissen, wo die Akkorde sind zu meiner Melodie, und es fühlt sich an, als wär’ ich zu Gast in meinem eigenen Leben.


Einige Komma, weiß ich nicht, ob extra oder nicht, zum Beispiel: ~vor oder dritte Zeile dieses Absatzes

wegwischen zusammen...
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Klara
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Beitragvon Klara » 25.10.2006, 15:28

Dank dir, Lisa.
Du liest sehr genau.
Versiert: "auf einem bestimmten Gebiet durch längere Erfahrung gut Bescheid wissend und daher gewandt, geschickt" (Meyers Taschenlexikon)
Aber das weißt du doch besser als ich! Was für ein Problem hast du mit dem (allgemeinen) Wort?
Vielleicht trifft es den Musik-Kontext nicht ausschließlich, aber den Gegensatz: Ich-Erzählerin ist nicht versiert und bleibt ihr Leben lang, wenn sie Glück hat, verkannt.
Grüße
Klara

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.10.2006, 22:27

Liebe Klara,

ich finde - darüber bin ich mir jetzt erst klar - es passt nicht zum Kontext "Musik". Musiker können/müssen technisch perfekt sein, trotzdem ist mir versiert zu zielgerichtet, gerade, weil du in deinem Text die Musik als etwas nimmst, in der diese Menschen, anders als das Ich, abtauchen/eintauchen, mithilfe von ihr "schweben"..."Zeit erfinden, weil sie sie nicht empfinden"....

Das ist mein reines Wortgefühl ~ muss also nicht stimmen. Ich denke an Tatkraft und Projektleiter. Passender vielleicht (um auch die ~Alliteration zu retten): die Könner und die Verkannten? Hmmm...ich frag mal lichel, den Musikexperten, vielleicht weiß er da was...

Chef
und zähl(e) egal?

Liebe Grüße,
Lisa
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Jürgen

Beitragvon Jürgen » 01.11.2006, 09:15

Hallo zusammen.

Zu dem Wort versiert; Ein versierter Musiker, das kenne ich so als Begriff. Überhaupt finde ich den Satz " Hier spielen nur die Versierten und die Verkannten" sehr stark. Das weckt die Assoziation zu einer Szenekneipe, in der exzellente Musiker für wenig Lohn spielen.

Überhaupt ein sehr atmosphärischer Text. Habe ich sehr gern gelesen.

MfG

Jürgen

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Beitragvon Lisa » 01.11.2006, 10:35

Hallo Gurke,
also wenn du das sagst, dann muss das stimmen (leichter Wink Richtung avatar)! Um so besser, dann kann die ~Alliteration weiter wirken :wub:

Mit dem Chef habe ich mich (zwecks mangelnder Perspektive) auch schon angefreundet. bliebt das zähle? :-)

Liebe Grüße,
Lisa
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Klara
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Beitragvon Klara » 01.11.2006, 11:26

Hallo,
danke, Jürgen, für dein Lob.

Lisa: Mir gefällt nach wie vor "zähl" besser als "zähle", gerade weil "ich" (den Takt, die Zeit...) nicht mitzählt :-)

Über den Chef hab ich auch noch nachgedacht, da hast du Recht, bin noch nicht zufrieden. Im Entwurf stand da "der Chef des Clubs",und dieser Genetiv kam mir so holprig vor, so unpassend, wenn man schon Alkohol getrunken hat, da würde man eher sagen "der Chef vom Club", das kann ich aber nicht schreiben °knirsch°, geht eben nicht.
Auch das Wort "Chef" gefällt mir als solches nicht. Vielleicht entferne ich mich von der realen Vorlage, nehme diese dritte näher benannte Person (Chef) raus, und lasse den Barmann den Bass aufheben. Was meinst du?

LG Klara

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Beitragvon Lisa » 02.11.2006, 19:01

Liebe Klara,
Barmann wollte ich auch erst vorschlagen, aber dann haben wir zu unten eine Wiederholung, die zu wenig originell klingt und so den Anschein erhebt, der Urheber des Textes kenne sich in der "Szene nicht aus", find ich zumindest. Der text ist ja relativ kurz, da fallen solche Häufungen immer auf, ob nun zurecht oder zu unrecht.

Meine Ideen:

In der Pause hebt einer/jemand/der Bandleader/der Gitarrist den Bass auf und bringt ihn weg.


Achso: wegwischen immer noch zusammen <---vergessen :-)

Liebe Grüße,
Lisa
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Klara
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Beitragvon Klara » 02.11.2006, 19:37

Danke.
Hab jetzt erstmal "Chef" durch "einer" ersetzt. Und wegwischen zusammen geschrieben (zusammengeschrieben??) ;-)
Grüße
Klara


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