Ein Sommer lang, ein Leben...

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
scarlett

Beitragvon scarlett » 25.10.2006, 09:09

Ein Sommer lang, ein Leben...

Als sie damals, in der eisigen Dezembernacht vor gut einem Vierteljahrhundert den Zug bestiegen hatte, leichtfüßig und mit wehenden Gedanken, um zum ersten Mal in ihrem Leben die Landesgrenze zu überschreiten, war er nicht bei ihr.
Er hatte sich schon Tage zuvor von ihr verabschiedet, leise und umständlich.
Dem Abschiedsfest, einer rauschenden Party mit all ihren Freunden, war er danach fern geblieben, sie fragte nicht weiter nach dem Warum.
Er blieb in seinem Land, das bald nicht mehr das ihre sein sollte, er blieb in seiner Sprache, die sie nur geliehen hatte, er blieb zurück in der Dunkelheit, die sie mit jedem gefahrenen Kilometer hinter sich ließ. Wenn sie auch staatenlos und vogelfrei war, so ahnte sie doch, daß am Ende der langen Nachtfahrt Licht auf sie warten würde. Auf ihn hingegen wartete nichts als der rumänische Alltag des Jahres 1981.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“– Die Stimme der Stewardess holte sie aus ihren Träumen. Sie blickte auf die Uhr. Noch gut eine Stunde Flugzeit, dachte sie. Eine Stunde nur trennte sie noch von dem Land, das sie einst mit einem one-way-ticket verlassen hatte und das mittlerweile ein anderes geworden war. So zumindest hatte sie es den Medien und vielen Augenzeugenberichten entnommen. Trotzdem, so hatte sie beschlossen, wollte sie sich ihm aus sicherem Abstand näheren. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sie die Grenze, dieses grausame Stückchen Niemandsland im Nirgendmehr, wo mit kehliger Stimme bewaffnete Milchgesichter den Sozialismus sicherten, nie wieder überschreiten bzw. überfahren wollte. Nun also kam sie „von oben“ –
Und sie lächelte unwillkürlich, als ihr bewußt wurde, wie sehr die Redensart der Siebenbürger Sachsen in diesem Fall wörtlich zutraf: reisten sie nämlich nach Deutschland aus, dann sagten sie „nach oben“ und nach Rumänien fuhren sie dementsprechend von oben „hinunter“.

Sie machte es sich so gut es ging in dem engen Sitz der Maschine bequem und lauschte noch eine Weile dem Klappern der Servierwagen sowie dem gleichmäßigen, ruhigen Brummen der Motoren. Ab und an streiften Wortfetzen bemühter Konversation ihr Ohr, mal in dem breiten, etwas schwerfälligen Deutsch ihrer ehemaligen Landsleute, dann wieder im Dialekt, den sie zwar verstand aber nicht beherrschte und vereinzelt auch in der Sprache, in der sie einst wie in ihrer Muttersprache zu Hause war. Sie spürte, wie ihr Herz mit jedem verstandenen Wort heftiger zu schlagen begann.
„Alexandru“, flüsterte sie vor sich hin und spürte, wie sich ihre Gedanken in der blauen Tiefe verloren aus der jetzt die Bilder wieder aufstiegen...

Es war die Liebe zum Wort, zur Sprache, die sie einst zusammengeführt hatte.
Sie lebte damals am Rande einer kleinen, schmutzigen, rumänischen Industriestadt, die nur durch einen mit dichten Hecken und Bäumen bewachsenen Graben vom angrenzenden, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnten Dorf, getrennt war. Leben an der Grenze...Sie überquerte sie täglich, um in die deutsche Schule des Dorfes zu gehen.
Hinter den Wohnblocks erstreckten sich die Felder und Wiesen bis zu den Wäldern des siebenbürgischen Hochlandes. Die Tristesse des Städtchens, das nicht viel zu bieten hatte, schien sich hier, an ihrem Rande, aufzulösen.
Es war an einem dieser Tage, an dem der Sommer sich plötzlich und mit aller Macht über Mensch und Natur stülpte. Die Luft vibrierte und der schwere Duft blühender Akazien vermischte sich mit dem Leuchten der Wiesen, aus denen roter Mohn verheißungsvoll winkte.

Sie war 15, kam von der Schule und da saß er, ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie früher kaum wahrgenommen hatte, auf der Bank vor ihrem Wohnblock. Sie grüßte und setzte sich zu ihm.
„Ich lese gerade ´ Sie tanzte nur einen Sommer ´ und du?“, fragte sie neugierig auf sein Buch schielend, das nun geschlossen auf seinen Knien lag. In seinen schwarzen, ernsten Augen jagten sich die Sonnenstrahlen, winzige Punkte waren das, die immer wieder aufblitzten, sobald er sprach. Und er sprach gern und viel.
Er war 19, stand kurz vor seinem Abitur und empfahl ihr Anna Karenina.
Und - er war Rumäne.


scarlett, 2006
Zuletzt geändert von scarlett am 06.11.2006, 19:27, insgesamt 2-mal geändert.

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 25.10.2006, 13:43

Liebe scarlett,

doch, auf jeden Fall weiterschreiben. Du kannst schön erzählen, man sieht die Bilder vor sich.

Ein paar Kleinigekeiten:

Mich haben die vielen Zeitangaben, besonders am Anfang verwirrt. Ich würde noch mal genau schauen, welche für das Verständnis der Geschichte wirklich nötig sind.

Dann sind einige sehr lange und verschachtelte Sätze drin, die es dem Leser nicht ganz leicht machen. Manche könnte man in zwei Sätze „auflösen“, z.B.
Als sie (damals), in der eisigen Dezembernacht (vor gut einem Vierteljahrhundert) den Zug bestiegen hatte, leichtfüßig und mit wehenden Gedanken, war er nicht bei ihr. Sie überschritt zum ersten Mal in ihrem Leben die Landesgrenze.

Ansonsten habe ich als Grundregel gelernt, das, was zusammengehört, auch nah beieinander stehen zu lassen, gerade in sehr langen Sätzen.
Z.B.
Sie lebte damals am Rande einer kleinen, schmutzigen, rumänischen Industriestadt, die nur durch einen mit dichten Hecken und Bäumen bewachsenen Graben getrennt war vom angrenzenden, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnten Dorf.

Das Wort „Nirgendmehr“ finde ich an der Stelle in einer Erzählung etwas gekünstelt.

Und mit Wiederholungen sparsam sein, weil sie das Hirn des Lesers manchmal langweilen und zum Abschalten verführen.
z.B. Er blieb in seinem Land, das bald nicht mehr das ihre sein sollte, er blieb in seiner Sprache, die sie nur geliehen hatte, (er blieb) zurück in der Dunkelheit, die sie mit jedem gefahrenen Kilometer hinter sich ließ.

Gern gelesen, liebe Grüße

leonie

scarlett

Beitragvon scarlett » 25.10.2006, 16:17

Huch, da fällt mir ja ein Stein vom Herzen, liebe leonie!

Lieben Dank, daß du meinen "Erstling" gelesen und gleich mit so wertvollen Kommentaren und Tips versehen hast.

Ja, die verschachtelten Sätze... da werd ich ich das, was du gesagt hast, ganz besonders beherzigen, da ich schon immer zu solchen "Monstersätzen" (Zitat meiner Deutschlehrerin) neigte.
Überhaupt hat mir alles, was du an Vorschlägen gebracht hast, sofort eingeleuchtet, und ich werde ändern.
(Hoffentlich krieg ich das hin mit dem Kenntlich-Machen der betreffenden Stellen :12: )

Ganz lieben Dank nochmal und Grüße,

scarlett

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 25.10.2006, 16:42

Liebe scarlett,
eine schöne, wehmütige Erinnerung hast du geschrieben. Ich bin mal drin mit einigen Anregungen. Wenn ich ein Wort nur markiere, ist es wegen Wortwiederholung. Einmal habe ich das Wort "vertraute" eingefügt.
Saludos
Gabriella

scarlett hat geschrieben:Ein Sommer lang, ein Leben...

Als sie damals, in der eisigen Dezembernacht vor gut einem Vierteljahrhundert den Zug bestiegen hatte, leichtfüßig, und mit wehenden Gedanken, um zum ersten Mal in ihrem Leben die Landesgrenze überschritt, zu überschreiten, war er nicht bei ihr. (Der Satz ist etwas lang, ich würde zwei daraus machen)
Er hatte sich schon Tage zuvor von ihr verabschiedet, leise und umständlich. (das "umständlich" beschreiben, wie gestaltete sich das?)
Dem Abschiedsfest, einer rauschenden Party mit all ihren Freunden, war er danach fern geblieben, sie fragte nicht weiter nach dem Warum.
Er blieb in seinem Land, das bald nicht mehr das ihre sein sollte, er blieb in seiner Sprache, die sie nur geliehen hatte, er blieb zurück in der Dunkelheit, die sie mit jedem gefahrenen Kilometer hinter sich ließ. Wenn sie auch staatenlos und vogelfrei war, so ahnte (vieleicht besser: hoffte, da es ja ein trauriger Abschied für sie ist) sie doch, dassß am Ende der langen Nachtfahrt Licht auf sie warten würde. Auf ihn hingegen wartete nichts als der rumänische Alltag des Jahres 1981.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“ Die Stimme der Stewardess holte sie aus ihren Träumen. Sie blickte auf die Uhr. Noch gut eine Stunde Flugzeit (Ihre Gedanken würde ich kursiv schreiben), dachte sie. Eine Stunde nur trennte sie noch von dem Land, das sie einst mit einem one-way-ticket verlassen hatte und das mittlerweile ein anderes geworden war. So zumindest hatte sie es den Medien und vielen Augenzeugenberichten entnommen. (Diesen Passus, dass das Land sich verändert hatte, würde ich anders schreiben, als ihre Gedanken. Im Sinne von: Heute sieht es dort bestimmt ganz anders aus .... und wieder in Kursiv )Trotzdem, so hatte sie beschlossen, wollte sie sich ihm aus sicherem Abstand zu nähern. näheren. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sie die Grenze, dieses grausame Stückchen Niemandsland im Nirgendmehr, in dem wo mit kehliger Stimme bewaffnete Milchgesichter den Sozialismus sicherten, nie wieder überschreiten bzw. überfahren wollte. Nun also kam sie „von oben“ –
Und Ssie lächelte unwillkürlich, als ihr bewussßt wurde, wie sehr die Redensart der Siebenbürger Sachsen in diesem Fall wörtlich zutraf: reisten sie nämlich nach Deutschland aus, dann sagten sie „nach oben“ und nach Rumänien fuhren sie dementsprechend von oben „hinunter“. (Diesen Passus von oben und das danach würde ich rauslassen, es zieht den Leser raus aus der Stimmung, in der sie sich befindet)

[s]Sie [/s]machte es sich so gut es ging in dem engen Sitz der Maschine bequem und lauschte noch eine Weile dem Klappern der Servierwagen sowie dem gleichmäßigen, ruhigen Brummen der Motoren. Ab und an streiften Wortfetzen bemühter Konversation ihr Ohr, mal in dem breiten, etwas schwerfälligen Deutsch ihrer ehemaligen Landsleute, dann wieder im Dialekt, den sie zwar verstand, jedoch aber nicht beherrschte und vereinzelt auch in der Sprache, in der sie einst wie in ihrer Muttersprache zu Hause war. (ab "in der" ist es holprig formuliert) Sie spürte, wie ihr Herz mit jedem verstandenen Wort heftiger zu schlagen begann.
„Alexandru“, flüsterte sie vor sich hin und spürte, wie sich ihre Gedanken in der blauen Tiefe verloren, aus der jetzt die vertrauten Bilder wieder aufstiegen... (Hier jetzt keinen Absatz, weil ja das Folgende die Bilder sind, die in ihr aufsteigen)

Es war die Liebe zum Wort, zur Sprache, die sie einst zusammengeführt hatte.
Sie lebte damals am Rande einer kleinen, schmutzigen, rumänischen Industriestadt, die nur durch einen mit dichten Hecken und Bäumen bewachsenen Graben vom angrenzenden, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnten Dorf, getrennt war. (Zu langer Satz, mach zwei draus.)Leben an der Grenze...Sie überquerte sie täglich, um in die deutsche Schule des Dorfes zu gehen.
Hinter den Wohnblocks erstreckten sich die Felder und Wiesen bis zu den Wäldern des siebenbürgischen Hochlandes. Die Tristesse des Städtchens, das nicht viel zu bieten hatte, schien sich hier, an ihrem Rande, aufzulösen.
Es war an einem dieser Tage, an dem der Sommer sich plötzlich und mit aller Macht über Mensch und Natur stülpte. (Zu "mächtig" formuliert für einen kommenden Sommer) Die Luft vibrierte, und der schwere Duft blühender Akazien vermischte sich mit dem Leuchten der Wiesen, aus denen roter Mohn verheißungsvoll winkte.

Sie war fünfzehn 15, kam von der Schule und da saß er, ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie früher kaum wahrgenommen hatte, auf der Bank vor ihrem Wohnblock und las. Sie grüßte und setzte sich zu ihm.
„Ich lese gerade ´ Sie tanzte nur einen Sommer ´ und du?“, fragte sie neugierig.
In seinen schwarzen, ernsten Augen jagten sich die Sonnenstrahlen, winzige Punkte, waren das, die immer wieder aufblitzten, sobald er sprach. Und er sprach gern und viel.
Er war neunzehn 19, stand kurz vor seinem Abitur und empfahl ihr Anna Karenina.
Und - er war Rumäne.


scarlett, 2006

maxl

Beitragvon maxl » 25.10.2006, 17:27

Hallo Scarlett.

finde deine Geschichte gut.

Als sie damals, in der eisigen Dezembernacht vor gut einem Vierteljahrhundert den Zug bestiegen hatte, leichtfüßig und mit wehenden Gedanken, um zum ersten Mal in ihrem Leben die Landesgrenze zu überschreiten, war er nicht bei ihr.


Als Einstieg ist der Satz zu lang. Etwa so: In der eisigen Dezembernacht war er nicht mehr bei ihr. Vor einem guten Vierteljh hatte sie den Zug bestiegen, um ... Damals war sie leichtfüßig und voller wehender Gedanken.

Noch gut eine Stunde Flugzeit, dachte sie. Eine Stunde nur trennte sie noch von dem Land


Hier genügt es einmal zu schreiben. Es ist aus ihrer Sicht. dachte sie, erübrigt sich.

Mir fielen noch ein paar so Sachen auf, aber ich weiß jetzt nicht, ob es dir Recht ist ...

Wie gesagt, guter Erstling!

lg
maxl

scarlett

Beitragvon scarlett » 25.10.2006, 20:07

Liebe magic,

hui, du hast dir ja ganz shcön viel Arbeit gemacht (und mir jetzt auch :-) )- herzlichen Dank für die intensive Beschäftigung mit meinem Erstlingswerk (zumindest einem Teil davon).
Tja, jetzt erst sehe ich, wie viel doch an Wdh drin ist, was mir bisher gar nicht so sehr aufgefallen ist.

Hallo maxl,

auch dir herzliches Dankeschön - und natürlich ist es mir recht, wenn ich auf Verbesserunswürdiges hingewiesen werde.

Jetzt hab ich erstmal wieder viel zu tun- ich mach mich dann mal ran...

Ciao,

scarlett

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 25.10.2006, 20:13

Liebe scarlett,

Hi,hi, das ist die Crux, wenn ich mich mit einem Text intensiv beschäftige, bekommt der Autor Arbeit, so er sich auf meine Anregungen einlässt :-) Aber ich finde, dein Text ist es wert! Sonst hätte ich nicht so darin rumgewuselt.
Übrigens: mit den Wiederholungen. Mir geht es bei meinen eigenen Texten genauso. Man ist irgendwie "betriebsblind". Bei anderen seh ich es sofort. Bei meinen? :pfeifen:
Also, ich bin gespannt, was du aus deiner wunderbaren Geschichte machst:-)
Saludos
Gabriella

Gast

Beitragvon Gast » 26.10.2006, 02:08

Liebe scarlett,
ich glaube es war leonies Anmerkung, der ich entnommen habe, dass diese Geschichte Teil eines größeren Projekts ist.
Ich war sofort mittendrin, habe nicht kritisch gelesen, das kann ich auch nicht immer, manchmal möchte ich rein zum Vergnügen lesen. ;-)
Ich habe sie merkwürdigerweise so gelesen, als ob ich sie kennen würde, oder sie kam mir bekannt vor.
Da ich aber sicher bin, dass du nicht bei Nicole Kraus (Die Geschichte der Liebe) abgeschrieben hast, vermute ich, dass es vielleicht die Art der Erzählung ist und die Umstände, die sich ähneln, die mir das Gefühl gaben, ich läse noch einmal bei Kraus in deren wunderbaren Buch, obwohl es in einer anderen Zeit spielt.
Bitte fasse das als ein Kompliment auf, denn du hast mich berührt und für die Geschichte einvernommen.
Ja, schreib weiter.

Liebe nächtliche Grüße
Gerda

scarlett

Beitragvon scarlett » 26.10.2006, 06:44

Liebe Gerda,

ich danke dir für deine Zeilen und es freut mich, daß du meine Geschichte so gern gelesen hast.
Ich bin dabei, sie etwas zu überarbeiten und natürlich - weiterzuschreiben. Eure "Aufmunterung" hat mir so gut getan-

Liebe Grüße,

scarlett

P.S. Ich kenne Nicole Kraus nicht, nie von ihr gehört, sorry.

Gast

Beitragvon Gast » 26.10.2006, 11:29

Schön, dass du dich angeregt fühlst, liebe scarlett.
Zu N. Kraus habe ich dir eine PN gesandt und poste gleich etwas dazu in der Fundgrube.

LGG

scarlett

Beitragvon scarlett » 04.11.2006, 09:18

Ein Sommer lang, ein Leben...

Als sie in jener eisigen Dezembernacht den Zug bestiegen hatte, leichtfüßig, mit wehenden Gedanken, um zum ersten Mal die Landesgrenze zu überschreiten, war er nicht bei ihr.
Er hatte sich schon Tage zuvor von ihr verabschiedet, leise und umständlich.
Dem Fest mit all ihren Freunden war er danach fern geblieben, sie fragte nicht nach dem Warum.
Er blieb in seinem Land, das bald nicht mehr das ihre sein sollte, in seiner Sprache, die sie nur geliehen hatte, blieb zurück in der Dunkelheit, die sie mit jedem gefahrenen Kilometer hinter sich ließ. Wenn auch staatenlos und vogelfrei, so hoffte sie doch, daß am Ende der langen Nachtfahrt Licht auf sie warten würde. Auf ihn hingegen wartete nichts als der rumänische Alltag des Jahres 1981.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“– Die Stimme der Stewardess holte sie aus ihren Erinnerungen. Sie blickte auf die Uhr.
Gut eine Stunde Flugzeit trennte sie noch von dem Land, das sie vor einem Vierteljahrhundert mit einem one-way-ticket verlassen hatte und das mittlerweile ein anderes geworden war. So zumindest war es den Medien und vielen Augenzeugenberichten zu entnehmen aber ob das wohl stimmte? Trotzdem wollte sie sich ihm aus sicherem Abstand nähern. Nicht zuletzt, weil sie die Grenze nie wieder überschreiten wollte, dieses grausame Stückchen Niemandsland, an dem mit kehliger Stimme bewaffnete Milchgesichter den Sozialismus sicherten. Nun also kam sie „von oben“ –
Sie lächelte unwillkürlich, als ihr bewußt wurde, wie sehr die Redensart der Siebenbürger Sachsen in diesem Fall wortwörtlich zutraf: reiste man nämlich nach Deutschland aus, dann sagte man „nach oben“ und nach Rumänien fuhr man dementsprechend von oben „hinunter“.

Sie machte es sich so gut es ging in dem engen Sitz der Maschine bequem und lauschte noch eine Weile dem Klappern der Servierwagen sowie dem gleichmäßigen, ruhigen Brummen der Motoren. Ab und an streiften Wortfetzen ihr Ohr, mal in dem breiten, etwas schwerfälligen Deutsch ihrer ehemaligen Landsleute, dann wieder im Dialekt, den sie zwar verstand, jedoch nicht beherrschte und vereinzelt auch in der Sprache, in der sie einst zu Hause war. Mit jedem verstandenen Wort begann ihr Herz heftiger zu schlagen.

„Alexandru“, flüsterte sie vor sich hin und spürte, wie sich ihre Gedanken in der blauen Tiefe verloren aus der jetzt die vertrauten Bilder wieder aufstiegen...
Es war die Liebe zum Wort, zur Sprache, die sie beide zusammengeführt hatte.
Sie lebte damals am Ende einer kleinen, schmutzigen, rumänischen Industriestadt, die nur durch einen mit dichten Hecken und Bäumen bewachsenen Graben getrennt war vom angrenzenden, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnten Dorf. Leben an der Grenze...Täglich mußte sie diese überqueren, um in die deutsche Schule des Dorfes zu gehen.
Hinter den Wohnblocks erstreckten sich die Felder und Wiesen bis zu den Wäldern des siebenbürgischen Hochlandes. Die Tristesse des Städtchens schien sich hier, an ihrem Rande, aufzulösen.
Es war an einem dieser Tage, an dem der Sommer sich plötzlich und mit aller Macht über Mensch und Natur stülpte. Die Luft vibrierte, der schwere Duft blühender Akazien vermischte sich mit dem Leuchten der Wiesen, aus denen roter Mohn verheißungsvoll winkte.

Sie war fünfzehn, kam gerade von der Schule und da saß er, ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie früher kaum wahrgenommen hatte, auf der Bank vor ihrem Wohnblock und las. Sie setzte sich zu ihm.
„Ich lese gerade ´ Sie tanzte nur einen Sommer ´, und du?“ Neugierig schielte sie zu ihm hinüber.
In seinen schwarzen, ernsten Augen jagten sich die Sonnenstrahlen, winzige kleine Punkte, die immer wieder aufblitzten, sobald er sprach. Und er sprach gern und viel.
Er war neunzehn, stand kurz vor dem Abitur und empfahl ihr Anna Karenina.
Und – er war Rumäne.


Hier nun eine "Überarbeitung" - liebe Magic, ich habe nicht alle deine Vorschläge aufgenommen, vor allem die Beschreibungen (im Flugzeug und der Einbruch des Sommers) müssen m M nach bleiben -

Ist es etwas besser geworden???

Liebe leonie, lieber Maxl, liebe Gerda auch euch nochmal Danke!

Grüße,

scarlett

Änderungen s. maxls posting - DANKE!
Zuletzt geändert von scarlett am 05.11.2006, 11:40, insgesamt 4-mal geändert.

maxl

Beitragvon maxl » 04.11.2006, 11:10

Liebe Scarlett,

Ich mag ja deinen Text sehr, du weißt.

Es ist knapper geworden und genauer. Sehr gut.
Ein paar Dinge noch, mM.:
Er hatte sich schon Tage zuvor von ihr verabschiedet, leise und umständlich.
Dem Abschiedsfest mit all ihren Freunden war er danach fern geblieben

Dem Fest würde reichen, ich finde es klar mir dem 'danach', dass es Abschied ist.

aus ihren Träumen

Sind es Träume? Eher Erinnerungen, oder?

Gut eine Stunde Flugzeit trennte sie noch von dem Land, das sie vor gut einem Vierteljahrhundert

Das 2. 'gut' würde ich streichen. Manchmal sind WH. gut, aber hier braucht man sie nicht.

Trotzdem wollte sie sich ihm aus sicherem Abstand näheren.


nähern

Ab und an streiften Wortfetzen bemühter Konversation ihr Ohr

Warum bemüht? Hat das einen Einfluss auf die Geschichte? Würde ich streichen.
Ab und an streiften Wortfetzen ihr Ohr reicht mM.

Sie lebte damals am Ende einer kleinen, schmutzigen, rumänischen Industriestadt, die nur durch einen mit dichten Hecken und Bäumen bewachsenen Graben getrennt war vom angrenzenden, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnten Dorf.

Der Satz ist zu lang. Du könntest schreiben: Damals lebte sie am Rand einer kleinen, schmutzigen Industriestadt. (rumänisch kann weg, das ist schon bekannt) Das angrenzende Dorf, vorwiegend von deutschstämmigen Sachsen bewohnt, war durch einen dicht bewachsenen Graben abgetrennt.

Die Tristesse des Städtchens, das nicht viel zu bieten hatte, schien sich hier, an ihrem Rande, aufzulösen.

Die Einfügung: das nicht viel zu bieten hatte würde ich weglassen.

aus denen roter Mohn verheißungsvoll winkte.

Das empfinde ich als Stilbruch in deiner Geschichte.
Du schreibst den Text mit tiefen Gefühlen. Dagegen klingt die Zeile platt.

Nur ein Vorschlag:
Die Luft vibrierte, der schwere Duft von Akazienblüten vermischte sich mit dem Anblick des roten Mohns, der in den Wiesen leuchtete. (Wobei ich mich frage, ob man Duft und Sicht vermischen kann)

ein Junge aus der Nachbarschaft, den sie früher kaum wahrgenommen hatte, auf der Bank vor ihrem Wohnblock und las


Und warum hat sie ihn früher kaum und jetzt schon? Da fehlt mir etwas.

und las. Sie setzte sich zu ihm.
„Ich lese gerade ´


mit einem Buch auf der Bank? Dann kann er das mit dem Lesen sagen.

Das war es von mir. Eine sehr schöne, melancholische Geschichte!

lg
maxl

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 04.11.2006, 13:35

Hallo scarlett,

ja, sie gefällt mir jetzt noch besser;-)
Die Anmerkungen von maxl sind berechtigt. Diese Passagen würde ich noch ändern.
Saludos
Gabriella

scarlett

Beitragvon scarlett » 05.11.2006, 11:47

Lieber Maxl,

danke nochmal für die aufmerksame Lektüre - ja, ich habe korrigiert, bis auf zwei Dinge ist alles einsichtig, nachvollziehbar für mich.
Der Mohn - diese Stelle muß ich noch länger wirken lassen und in mich hineinhören, wie ich sie denn nun genau haben will. Tatsache ist, daß sie wichtig ist (auch für den Schluß, den Titel sowieso) und daß es auch wichtig ist, WIE dieser Mohn beschrieben wird - er hat ja was mit der Liebe zu tun...

Die letzte Anmerkung bez. des "ich lese..." habe ich nicht verstanden. Geht es um die Wiederholung?
Oder ist nicht klar, daß er zwar auf der Bank sitzend liest, SIE aber den Anfang macht und von ihrer Lektüre spricht???

Liebe Magic, danke auch dir!

Grüße,

scarlett


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 19 Gäste