In der Rue de la Promesse
Verfasst: 11.11.2006, 16:21
In der Rue de la Promesse
Demain le noir matin
Je fermerai ma porte
Dem Bildner P.F.
Der Aufenthalt in Paris schon zu Ende, aber nicht eigentlich dort, sondern im dreißig Kilometer nordöstlich gelegenen Meudon, wohin es den Reisenden verschlug, zu sehen noch einmal den großen Rodin, zu sehen die Rodinschen Fragmente, die wie gelöste Asteroiden in Katalogen und Hochglanzbroschüren schwirrten, mit beschreibenden Tafeln und Daten und Erläuterungen in kunstakademisch trockener Luft
zu spät gekommen, aus ungefährer Zerstreutheit viel zu spät, die Tore verschlossen, Rodins Atelier nach an die hundert Jahren verwaist, umsonst war der Reisende gekommen und fast umsonst, der Wärter der Schlüssel zu müde mit Blick auf die Gitter des Abends
derweil er sich noch einmal nach Nanterre sehnte, für eine Nacht und einen halben Tag, noch einmal Nanterre mit seinen endlosen Fluchten, noch einmal die endlosen Passagen unter nächtlichen Bogenlaternen zurück nach Nanterre, zurück zur schäbigsten aller Schlafstädte mit ihren heillosen Zeilen und verkommenen Hurenwinkeln
wo zwischen Betonplatten kein Grün mehr wächst und auf Balkonen vergessene Wäsche flattert, Nanterre, über der tagsüber riesige Krähenschwärme kreisen und Kinder inmitten gepflasterter Hinterhöfe plärren, Nanterre die Ausweglose, deren bärtige Männer ausnahmslos schon am frühen Morgen in Zimmerlokalen kauern, in abweisenden dunklen Räumen, und ein gerahmtes Foto ein Bild ein verblasstes vergilbtes, in seinen stechenden Umkehrfarben im Dunkel des Raums, im Sud des erkalteten Kaffees, der bittersüßen Minze, der erloschenen Zigarette, des sturen Schweigens
entwendetes Herz, wie du von der Sehnsucht lebst, die die Zeit nicht gibt, wie es nicht in den Karten steht und nicht in den Plänen und keinen Trost zu erinnern weiß, auch die Zeit nicht und die von ihr aufgefächerte Ordnung, in keinem Plan einer Ordnung
welche die Ordnung ist in den Schachteln der Vorstädte, die die Vorstädte sind zu anderen Vorstädten, erstarrt in lähmender Trauer, übermüdeter Reglosigkeit, ausgebrannten oder geplünderten Wagen an Gehsteigen, vergitterten ebenirdischen Fenstern, zertrümmerten Telefonkabinen, zerschmetterten zerschossenen Hinweistafeln, extrahiertes totes Nervengeflecht, Nervengeflecht des blauschwarzgelbroten Labyrinths von Metrolinien, Chiffren, Fäden letzten Bewußtseins, Nervenreste, Wortreste
Taschenspiegel Wolkenfetzen Himmelsbilder
was es ist und was nicht in seinem ausgebrannten Bewußtsein, seinem ausgebrannten Exil und seiner aschefarbenen Haut, seinem uralten Echo blecherner Mülltonnen, seinen Häusern und Plätzen wie Abreißkalender, seinem Gestank aus säuerndem Abfall und seiner steinernen Abfolge blickloser Stunden und Tage
Reisender, erkaltete Herzschrift, vielleicht um aufzustehen im grauen Morgen als trauerndes schwindsüchtig ruinöses Gespenst, zu spät gekommen zu spät gekommen in diesem Jahrhundert, als Reisender zu spät
Taschenspiegel Wolkenfetzen Himmelsbilder
Versäumender, des Vergessens gewahr in einer winzigen Pizzeria von Nanterre, im Exil steinerner Trauer die Sorgfalt beginnen und sorgfältig werden, zu vergessen dein nichtswürdig haltloses Leben, zu spät gekommen und alles verfehlt, alles zerstreut und falsch und sinnlos verfehlt, da dir die Zentren nicht blühten und mangelndes Licht wie Abglanz billigen Zaubers, dem Sinn nicht verständig, im Bettel der Lohn
da der Patron dir Glas um Glas füllt, das fleckige Weinglas immer schon leer, zu trinken in den erstickten Aufschrei deines zerbrauchten Gesichts, entronnen, denn hier bist du fremd, hier hast du dein Fremdsein genossen wie ein gewohntes Geschwür, entronnen den Gassen verstellt von geschwürigen Hunden, die dir den Weg freigäben, wärest du nicht wie sie, du aber würdest gerettet werden, hier und nirgendwo sonst, und keinen Augenblick würdest glauben du an die verschlossenen Tore, an deine immerwährende Verspätung, keinen Augenblick an die Einlaß verwehrenden Pforten von Meudon
notgerade nur Platz für zwei Tische und ebenso viele Hocker, nacktes Licht und Wörter so nah wie ein beginnender Traum, fiebernd der Fehler in deinem Auge, als begänne die Einsicht in eine Erzählung
in das gesteigerte Bild, deinen Atem, weil keine Gäste zugegen und nur der Hund sich hinter dem Tresen schüttelt, der Patron in Kreuzworträtsel versunken, betrunken endlich betrunken wie du dich andächtig schaust, denn draußen ist nichts und vor den Toren der Welt doch etwas, was wie ein grellflackernder Riß durch deine Augen geht
denn etwas wie Tränen ist von deinen Fingern getropft etwas wie Tränen zerronnen so still, als du einziger Gast bist bis Mitternacht, einziger deiner Sache und der Patron mit müder Bewegung auf seinen Hund deutet, dich schwankend erhebst, mit großem Umstand bezahlst, zur Tür stürzt und dich beim Niederreißen des Hockers entschuldigst
entschuldigst noch einmal für alles was war und für all den zerschundenen Mangel deines Lebens, Reisender, deines so in den härtesten Abdruck gelegten Lebens, lang glüht der Mond über der Seine und breit steht die Pisse unter den Brücken, gut dieses Wasser und lang die Schatten der Zukunft, denn das Wort bleibt in Nanterre bei dem alten knollennassigen glatzköpfigen Patron, der dir schweigend Glas um Glas bringt, bleibt dort, bei dir
in dir
in der Rue de la Promesse.
Schreib es auf, jetzt, schreib es auf!
Demain le noir matin
Je fermerai ma porte
Dem Bildner P.F.
Der Aufenthalt in Paris schon zu Ende, aber nicht eigentlich dort, sondern im dreißig Kilometer nordöstlich gelegenen Meudon, wohin es den Reisenden verschlug, zu sehen noch einmal den großen Rodin, zu sehen die Rodinschen Fragmente, die wie gelöste Asteroiden in Katalogen und Hochglanzbroschüren schwirrten, mit beschreibenden Tafeln und Daten und Erläuterungen in kunstakademisch trockener Luft
zu spät gekommen, aus ungefährer Zerstreutheit viel zu spät, die Tore verschlossen, Rodins Atelier nach an die hundert Jahren verwaist, umsonst war der Reisende gekommen und fast umsonst, der Wärter der Schlüssel zu müde mit Blick auf die Gitter des Abends
derweil er sich noch einmal nach Nanterre sehnte, für eine Nacht und einen halben Tag, noch einmal Nanterre mit seinen endlosen Fluchten, noch einmal die endlosen Passagen unter nächtlichen Bogenlaternen zurück nach Nanterre, zurück zur schäbigsten aller Schlafstädte mit ihren heillosen Zeilen und verkommenen Hurenwinkeln
wo zwischen Betonplatten kein Grün mehr wächst und auf Balkonen vergessene Wäsche flattert, Nanterre, über der tagsüber riesige Krähenschwärme kreisen und Kinder inmitten gepflasterter Hinterhöfe plärren, Nanterre die Ausweglose, deren bärtige Männer ausnahmslos schon am frühen Morgen in Zimmerlokalen kauern, in abweisenden dunklen Räumen, und ein gerahmtes Foto ein Bild ein verblasstes vergilbtes, in seinen stechenden Umkehrfarben im Dunkel des Raums, im Sud des erkalteten Kaffees, der bittersüßen Minze, der erloschenen Zigarette, des sturen Schweigens
entwendetes Herz, wie du von der Sehnsucht lebst, die die Zeit nicht gibt, wie es nicht in den Karten steht und nicht in den Plänen und keinen Trost zu erinnern weiß, auch die Zeit nicht und die von ihr aufgefächerte Ordnung, in keinem Plan einer Ordnung
welche die Ordnung ist in den Schachteln der Vorstädte, die die Vorstädte sind zu anderen Vorstädten, erstarrt in lähmender Trauer, übermüdeter Reglosigkeit, ausgebrannten oder geplünderten Wagen an Gehsteigen, vergitterten ebenirdischen Fenstern, zertrümmerten Telefonkabinen, zerschmetterten zerschossenen Hinweistafeln, extrahiertes totes Nervengeflecht, Nervengeflecht des blauschwarzgelbroten Labyrinths von Metrolinien, Chiffren, Fäden letzten Bewußtseins, Nervenreste, Wortreste
Taschenspiegel Wolkenfetzen Himmelsbilder
was es ist und was nicht in seinem ausgebrannten Bewußtsein, seinem ausgebrannten Exil und seiner aschefarbenen Haut, seinem uralten Echo blecherner Mülltonnen, seinen Häusern und Plätzen wie Abreißkalender, seinem Gestank aus säuerndem Abfall und seiner steinernen Abfolge blickloser Stunden und Tage
Reisender, erkaltete Herzschrift, vielleicht um aufzustehen im grauen Morgen als trauerndes schwindsüchtig ruinöses Gespenst, zu spät gekommen zu spät gekommen in diesem Jahrhundert, als Reisender zu spät
Taschenspiegel Wolkenfetzen Himmelsbilder
Versäumender, des Vergessens gewahr in einer winzigen Pizzeria von Nanterre, im Exil steinerner Trauer die Sorgfalt beginnen und sorgfältig werden, zu vergessen dein nichtswürdig haltloses Leben, zu spät gekommen und alles verfehlt, alles zerstreut und falsch und sinnlos verfehlt, da dir die Zentren nicht blühten und mangelndes Licht wie Abglanz billigen Zaubers, dem Sinn nicht verständig, im Bettel der Lohn
da der Patron dir Glas um Glas füllt, das fleckige Weinglas immer schon leer, zu trinken in den erstickten Aufschrei deines zerbrauchten Gesichts, entronnen, denn hier bist du fremd, hier hast du dein Fremdsein genossen wie ein gewohntes Geschwür, entronnen den Gassen verstellt von geschwürigen Hunden, die dir den Weg freigäben, wärest du nicht wie sie, du aber würdest gerettet werden, hier und nirgendwo sonst, und keinen Augenblick würdest glauben du an die verschlossenen Tore, an deine immerwährende Verspätung, keinen Augenblick an die Einlaß verwehrenden Pforten von Meudon
notgerade nur Platz für zwei Tische und ebenso viele Hocker, nacktes Licht und Wörter so nah wie ein beginnender Traum, fiebernd der Fehler in deinem Auge, als begänne die Einsicht in eine Erzählung
in das gesteigerte Bild, deinen Atem, weil keine Gäste zugegen und nur der Hund sich hinter dem Tresen schüttelt, der Patron in Kreuzworträtsel versunken, betrunken endlich betrunken wie du dich andächtig schaust, denn draußen ist nichts und vor den Toren der Welt doch etwas, was wie ein grellflackernder Riß durch deine Augen geht
denn etwas wie Tränen ist von deinen Fingern getropft etwas wie Tränen zerronnen so still, als du einziger Gast bist bis Mitternacht, einziger deiner Sache und der Patron mit müder Bewegung auf seinen Hund deutet, dich schwankend erhebst, mit großem Umstand bezahlst, zur Tür stürzt und dich beim Niederreißen des Hockers entschuldigst
entschuldigst noch einmal für alles was war und für all den zerschundenen Mangel deines Lebens, Reisender, deines so in den härtesten Abdruck gelegten Lebens, lang glüht der Mond über der Seine und breit steht die Pisse unter den Brücken, gut dieses Wasser und lang die Schatten der Zukunft, denn das Wort bleibt in Nanterre bei dem alten knollennassigen glatzköpfigen Patron, der dir schweigend Glas um Glas bringt, bleibt dort, bei dir
in dir
in der Rue de la Promesse.
Schreib es auf, jetzt, schreib es auf!