Er
Verfasst: 20.11.2006, 16:26
Er
Sie sitzt auf der Terrasse in der Nachmittagssonne und wartet. Das ist erst seit kurzem möglich, dass sie sich auf die Terrasse setzt. Früher ging es nicht, weil sie auf der Terrasse die Türklingel nicht hört und meistens auch das Telefon nicht, und wenn sie es dann doch einmal gehört hat, war sie oft zu langsam dort gewesen und der Anrufer hatte bereits wieder aufgelegt. Jetzt aber kann sie beruhigt die Sonne genießen. Sie hat sich vor kurzem eines von diesen neumodischen Telefonen installieren lassen, die man überall im Haus und auch im Garten mit sich herumtragen kann. Das steckt jetzt in ihrer Schürzentasche. Sollte er also anrufen, ist sie sofort für ihn erreichbar. Und wenn er klingelt und sie reagiert nicht, dann kann er sie anrufen. Er weiß ja sicher, dass sie immer zu Hause ist. Seit Rudi, ihr Mann, gestorben ist, hat sie das Haus kaum noch verlassen. Sie muss doch sicher sein, dass sie zu Hause ist, wenn er kommt. Man stelle sich vor: Er erreicht sie nicht, und sie muss noch länger warten, wer weiß wie lange, bis er es das nächste Mal versucht.
In ihrer Schürzentasche klingelt es. Aufgeregt nestelt sie den kleinen Apparat heraus, drückt die Taste mit dem grünen Hörer und meldet sich. Aber es ist nur Frau Martin von der anderen Straßenseite. Sie gehe jetzt einkaufen, ob sie ihr etwas mitbringen solle? Wieviel sie noch brauchen wird? Ob überhaupt ... .Ach ja, bringen Sie mir vielleicht ein wenig Wurst zum Abendessen, und etwas Milch, und das Brot geht auch zur Neige, also, noch einen Viertellaib von dem dunklen Roggenbrot, bitte. Wirklich praktisch, dieses Telefon. Sie kann immer noch hier in der Sonne sitzen und zugleich die Hilfsbereitschaft ihrer Nachbarin genießen, ohne dass diese extra zweimal zu ihr kommen müsste.
Sie könnte ja eigentlich auch selber einmal jemanden anrufen. Ihre Nichte zum Beispiel, die in Österreich lebt und die sie schon seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hat. Deren Kinder sind bestimmt auch schon größer. Der Älteste müsste ja schon sein Studium beendet haben ... Aber sie traut sich nicht. Seit langem schon traut sie sich nicht mehr, von sich aus jemanden anzurufen. Wenn genau in der Zeit, in der sie mit irgendjemandem spricht, er es versuchte, und es wäre besetzt ... er dächte dann bestimmt, sie habe gar kein Interesse an ihm. Obwohl ... gerade ist es eigentlich so wunderschön hier draußen, und sie hat jetzt wirklich Lust bekommen, ihre Nichte anzurufen – ach was, sie tut das jetzt einfach.
Nadine ist tatsächlich zu Hause und sie freut sich sehr, endlich wieder einmal etwas von der Tante zu hören. Sie selber habe sich ja gar nicht mehr getraut, bei ihr anzurufen, sie sei bei den letzten Telefonaten, die sie geführt hätten, immer so furchtbar kurz angebunden gewesen, so, als hätte sie noch etwas Wichtigeres zu erledigen. Das tut der Tante leid. So war das natürlich nicht gemeint gewesen. Ist nicht so schlimm, meint Nadine, aber möchte sie nicht einmal wieder zu ihr nach Österreich kommen? Die Abwechslung würde ihr bestimmt guttun, sie sitzt zu Hause ja doch nur herum und hat nicht viel zu tun. – Das ist wahr. Aber ... ich überlege es mir noch. Vielen Dank jedenfalls. – Ich danke dir für deinen Anruf. Und ich würde mich sehr freuen, dich einmal wieder zu sehen. Auf hoffentlich bald.
Nach Österreich? Ja, aber ... ob sie dort für ihn genausogut erreichbar wäre, wie hier zu Hause? Sie ist sich nicht so sicher. Da klingelt das Telefon schon wieder. Es ist wieder Frau Martin. Sie habe gerade geklingelt, aber es habe niemand geöffnet. Ob sie es jetzt noch einmal versuchen solle? – Nein, nein, danke, Sie müssen sich nicht noch einmal die Mühe machen. Ich komme zu Ihnen herüber. Schnell hat sie überlegt: das Telefon reicht angeblich hundert Meter weit, auch durch Hauswände hindurch. Wenn sie also das Telefon mit hinüber zu Frau Martin nimmt, und er ruft sie an, ist das bestimmt kein Problem. Sie kann dann ja immer noch schnell zurück nach Hause gehen. Und er wird sich bestimmt telefonisch anmelden, da ist sie sicher. Damals, vor fünf Jahren, hat er das ja auch gemacht.
Frau Martin freut sich sehr, dass die alte Dame sie nach so langer Zeit wieder einmal zu Hause besucht. Sehen Sie mal, sagt diese, das hier habe ich mir neu angeschafft. Eines von diesen ganz modernen Telefonen. Vor ein paar Wochen lag dieser Prospekt im Briefkasten, und als ich das gelesen habe, habe ich gedacht, endlich einmal etwas, was ich wirklich gebrauchen kann. Ich kann es im ganzen Haus mit mir herumtragen und sogar hierher zu Ihnen, und man kann mich immer noch anrufen. – Ja, ich kenne diese Apparate, wir haben schon seit längerem so einen. Zeigen Sie mal, welches Modell Sie haben. – Das Beste, was es gibt, hat der Mann gesagt, der es mir gebracht hat. – Ja, tatsächlich. Mit diesem können Sie sich sogar überall anrufen lassen. – Überall? Wirklich? Wie soll das gehen? – Naja, wenn Sie woanders hingehen, beispielsweise, jemanden besuchen, dann leiten Sie einfach Ihre Anrufe auf dessen Appparat um. Dann landet jeder ihrer Anrufe automatisch dort, wo Sie gerade sind.
Kopfschüttelnd vor Verwunderung verlässt sie später das Haus ihrer Nachbarin. Was dieses moderne Zeugs heute alles kann ... Sie denkt nach. Wenn sie all ihre Anrufe auf jeden beliebigen Apparat umleiten lassen kann, dann geht das bestimmt auch mit dem Telefon ihrer Nichte. Das heißt, sie könnte dort hinfahren und wäre trotzdem problemlos erreichbar, wenn er anriefe. Ein lange vermisstes Gefühl der Freiheit überkommt sie. Jahrelang war sie an ihr Haus gefesselt, jetzt plötzlich kann sie praktisch hinfahren, wo sie will. Da ist ja nicht nur ihre Nichte, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat, da sind auch noch alte Freundinnen und einige Gegenden, die sie schon immer mal hatte sehen wollen. Ja, sie wird einfach verreisen. Zuerst nach Österreich. Und dann ... na, sie wird noch sehen. Es gibt ja so viele Möglichkeiten. Und wenn er dann anruft, kann sie ihm sagen, dass sie gar nicht zu Hause ist, obwohl er sie doch unter ihrer Nummer erreicht hat. Ob er das versteht? Na, er wird schon. Und dann kann sie ihm sagen, wann sie wieder zurückkommt, und ihn bitten, noch so lange zu warten. Hoffentlich lässt er sich darauf ein. Eigentlich will sie sich ihre Reisen davon nicht verderben lassen.
Ihr geht noch einmal dieser Tag vor fünf Jahren durch den Kopf. Damals, als das Telefon läutete und ihr Mann dranging. Sie hat damals nicht gehört, was er geredet hat, sie ist gerade in der Küche gewesen und hat das Abendessen vorbereitet. Kurze Zeit später ist Rudi dann an der offenen Küchentür vorbei zur Haustür gegangen und hat sie geöffnet, obwohl sie es gar nicht klingeln gehört hat. Dann hat sie nur noch ein lautes, dumpfes Plumpsen gehört und einen heiseren Schrei ihres Mannes. Sie ist hingelaufen, aber es ist zu spät gewesen. Er sagte nur noch einmal ihren Namen, dann war er tot. Tja, Rudi konnte seitdem nicht mehr reisen, dabei hatte es auch für ihn einige Gegenden gegeben, die er noch hatte sehen wollen.
Wenn sie es sich genau überlegt – eigentlich will sie gar nicht mehr ständig für ihn erreichbar sein. Wenn sie weg ist oder das Telefon ist besetzt, dann ist es eben so, dann hat er eben Pech gehabt. Sie wird ihr neues Telefon von nun an immer im Haus lassen, an einem Platz, und sie wird ihre Anrufe auch nicht weiterleiten lassen, wenn sie weg ist. Vermutlich wird er sie ohnehin zur rechten Zeit finden, ganz gleich wie. Aber darauf braucht sie ja nicht extra zu warten.
Sie sitzt auf der Terrasse in der Nachmittagssonne und wartet. Das ist erst seit kurzem möglich, dass sie sich auf die Terrasse setzt. Früher ging es nicht, weil sie auf der Terrasse die Türklingel nicht hört und meistens auch das Telefon nicht, und wenn sie es dann doch einmal gehört hat, war sie oft zu langsam dort gewesen und der Anrufer hatte bereits wieder aufgelegt. Jetzt aber kann sie beruhigt die Sonne genießen. Sie hat sich vor kurzem eines von diesen neumodischen Telefonen installieren lassen, die man überall im Haus und auch im Garten mit sich herumtragen kann. Das steckt jetzt in ihrer Schürzentasche. Sollte er also anrufen, ist sie sofort für ihn erreichbar. Und wenn er klingelt und sie reagiert nicht, dann kann er sie anrufen. Er weiß ja sicher, dass sie immer zu Hause ist. Seit Rudi, ihr Mann, gestorben ist, hat sie das Haus kaum noch verlassen. Sie muss doch sicher sein, dass sie zu Hause ist, wenn er kommt. Man stelle sich vor: Er erreicht sie nicht, und sie muss noch länger warten, wer weiß wie lange, bis er es das nächste Mal versucht.
In ihrer Schürzentasche klingelt es. Aufgeregt nestelt sie den kleinen Apparat heraus, drückt die Taste mit dem grünen Hörer und meldet sich. Aber es ist nur Frau Martin von der anderen Straßenseite. Sie gehe jetzt einkaufen, ob sie ihr etwas mitbringen solle? Wieviel sie noch brauchen wird? Ob überhaupt ... .Ach ja, bringen Sie mir vielleicht ein wenig Wurst zum Abendessen, und etwas Milch, und das Brot geht auch zur Neige, also, noch einen Viertellaib von dem dunklen Roggenbrot, bitte. Wirklich praktisch, dieses Telefon. Sie kann immer noch hier in der Sonne sitzen und zugleich die Hilfsbereitschaft ihrer Nachbarin genießen, ohne dass diese extra zweimal zu ihr kommen müsste.
Sie könnte ja eigentlich auch selber einmal jemanden anrufen. Ihre Nichte zum Beispiel, die in Österreich lebt und die sie schon seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hat. Deren Kinder sind bestimmt auch schon größer. Der Älteste müsste ja schon sein Studium beendet haben ... Aber sie traut sich nicht. Seit langem schon traut sie sich nicht mehr, von sich aus jemanden anzurufen. Wenn genau in der Zeit, in der sie mit irgendjemandem spricht, er es versuchte, und es wäre besetzt ... er dächte dann bestimmt, sie habe gar kein Interesse an ihm. Obwohl ... gerade ist es eigentlich so wunderschön hier draußen, und sie hat jetzt wirklich Lust bekommen, ihre Nichte anzurufen – ach was, sie tut das jetzt einfach.
Nadine ist tatsächlich zu Hause und sie freut sich sehr, endlich wieder einmal etwas von der Tante zu hören. Sie selber habe sich ja gar nicht mehr getraut, bei ihr anzurufen, sie sei bei den letzten Telefonaten, die sie geführt hätten, immer so furchtbar kurz angebunden gewesen, so, als hätte sie noch etwas Wichtigeres zu erledigen. Das tut der Tante leid. So war das natürlich nicht gemeint gewesen. Ist nicht so schlimm, meint Nadine, aber möchte sie nicht einmal wieder zu ihr nach Österreich kommen? Die Abwechslung würde ihr bestimmt guttun, sie sitzt zu Hause ja doch nur herum und hat nicht viel zu tun. – Das ist wahr. Aber ... ich überlege es mir noch. Vielen Dank jedenfalls. – Ich danke dir für deinen Anruf. Und ich würde mich sehr freuen, dich einmal wieder zu sehen. Auf hoffentlich bald.
Nach Österreich? Ja, aber ... ob sie dort für ihn genausogut erreichbar wäre, wie hier zu Hause? Sie ist sich nicht so sicher. Da klingelt das Telefon schon wieder. Es ist wieder Frau Martin. Sie habe gerade geklingelt, aber es habe niemand geöffnet. Ob sie es jetzt noch einmal versuchen solle? – Nein, nein, danke, Sie müssen sich nicht noch einmal die Mühe machen. Ich komme zu Ihnen herüber. Schnell hat sie überlegt: das Telefon reicht angeblich hundert Meter weit, auch durch Hauswände hindurch. Wenn sie also das Telefon mit hinüber zu Frau Martin nimmt, und er ruft sie an, ist das bestimmt kein Problem. Sie kann dann ja immer noch schnell zurück nach Hause gehen. Und er wird sich bestimmt telefonisch anmelden, da ist sie sicher. Damals, vor fünf Jahren, hat er das ja auch gemacht.
Frau Martin freut sich sehr, dass die alte Dame sie nach so langer Zeit wieder einmal zu Hause besucht. Sehen Sie mal, sagt diese, das hier habe ich mir neu angeschafft. Eines von diesen ganz modernen Telefonen. Vor ein paar Wochen lag dieser Prospekt im Briefkasten, und als ich das gelesen habe, habe ich gedacht, endlich einmal etwas, was ich wirklich gebrauchen kann. Ich kann es im ganzen Haus mit mir herumtragen und sogar hierher zu Ihnen, und man kann mich immer noch anrufen. – Ja, ich kenne diese Apparate, wir haben schon seit längerem so einen. Zeigen Sie mal, welches Modell Sie haben. – Das Beste, was es gibt, hat der Mann gesagt, der es mir gebracht hat. – Ja, tatsächlich. Mit diesem können Sie sich sogar überall anrufen lassen. – Überall? Wirklich? Wie soll das gehen? – Naja, wenn Sie woanders hingehen, beispielsweise, jemanden besuchen, dann leiten Sie einfach Ihre Anrufe auf dessen Appparat um. Dann landet jeder ihrer Anrufe automatisch dort, wo Sie gerade sind.
Kopfschüttelnd vor Verwunderung verlässt sie später das Haus ihrer Nachbarin. Was dieses moderne Zeugs heute alles kann ... Sie denkt nach. Wenn sie all ihre Anrufe auf jeden beliebigen Apparat umleiten lassen kann, dann geht das bestimmt auch mit dem Telefon ihrer Nichte. Das heißt, sie könnte dort hinfahren und wäre trotzdem problemlos erreichbar, wenn er anriefe. Ein lange vermisstes Gefühl der Freiheit überkommt sie. Jahrelang war sie an ihr Haus gefesselt, jetzt plötzlich kann sie praktisch hinfahren, wo sie will. Da ist ja nicht nur ihre Nichte, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat, da sind auch noch alte Freundinnen und einige Gegenden, die sie schon immer mal hatte sehen wollen. Ja, sie wird einfach verreisen. Zuerst nach Österreich. Und dann ... na, sie wird noch sehen. Es gibt ja so viele Möglichkeiten. Und wenn er dann anruft, kann sie ihm sagen, dass sie gar nicht zu Hause ist, obwohl er sie doch unter ihrer Nummer erreicht hat. Ob er das versteht? Na, er wird schon. Und dann kann sie ihm sagen, wann sie wieder zurückkommt, und ihn bitten, noch so lange zu warten. Hoffentlich lässt er sich darauf ein. Eigentlich will sie sich ihre Reisen davon nicht verderben lassen.
Ihr geht noch einmal dieser Tag vor fünf Jahren durch den Kopf. Damals, als das Telefon läutete und ihr Mann dranging. Sie hat damals nicht gehört, was er geredet hat, sie ist gerade in der Küche gewesen und hat das Abendessen vorbereitet. Kurze Zeit später ist Rudi dann an der offenen Küchentür vorbei zur Haustür gegangen und hat sie geöffnet, obwohl sie es gar nicht klingeln gehört hat. Dann hat sie nur noch ein lautes, dumpfes Plumpsen gehört und einen heiseren Schrei ihres Mannes. Sie ist hingelaufen, aber es ist zu spät gewesen. Er sagte nur noch einmal ihren Namen, dann war er tot. Tja, Rudi konnte seitdem nicht mehr reisen, dabei hatte es auch für ihn einige Gegenden gegeben, die er noch hatte sehen wollen.
Wenn sie es sich genau überlegt – eigentlich will sie gar nicht mehr ständig für ihn erreichbar sein. Wenn sie weg ist oder das Telefon ist besetzt, dann ist es eben so, dann hat er eben Pech gehabt. Sie wird ihr neues Telefon von nun an immer im Haus lassen, an einem Platz, und sie wird ihre Anrufe auch nicht weiterleiten lassen, wenn sie weg ist. Vermutlich wird er sie ohnehin zur rechten Zeit finden, ganz gleich wie. Aber darauf braucht sie ja nicht extra zu warten.