Monsieur Morgenrot und der Tote im Sand
Verfasst: 03.12.2006, 01:26
Lieber Leser, da ich für meine letzte kleine Geschichte kein eindeutiges "Zeichen" erhielt, welches zwangsläufig eine Fortsetzung mit sich gezogen hätte, möchte ich die Wartezeit mit einer anderen Erzählung überbrücken. Ich freue mich wieder sehr über Ihre Meinungen und Ideen zu diesem kleinen kriminologischen Reisebericht!
(Gibt es das Wort "kriminologisch" ?) Danke für ihre Aufmerksamkeit !
-Der Name "Graver" wird übrigens "Gravé" ausgesprochen ...
Monsieur Morgenrot befand sich im Flugzeug nach Bordeaux. Der berühmte Philosoph Richard Graver, ein exzentrischer, dickbäuchiger Herr, hatte ihm vor einigen Tagen eine Einladung gesandt. Graver hatte in jüngster Vergangenheit ein herausragendes Werk über die Verbindung zwischen dem Weiblichen und der Apokalypse veröffentlicht.
Die Einladung war eine Postkarte, auf welcher eine frische Auster abgebildet war. Graver hatte auf das milchfarbene Innere der Meeresfrucht das Wort „DESTIN“ („Schicksal“) gezeichnet.
Monsieur Morgenrot, der seinen Gurt mit einem Klicken schloss, sah in die weißen Spinnwebenwolken und grübelte über die Verbindung zwischen einer Auster und dem Schicksal.
„Was könnte der alte Graver wohl damit gemeint haben? Sicher spielte er auf die Perlen an…Aber wäre das nicht viel zu banal für einen Philosophen seines Prestiges? Vielleicht geht es ihm auch um den Akt des Öffnens einer Auster, das Ende eines kleinen, verhärteten Lebens.
-Nur dem Genuss oder dem Reichtum wegen.
Aber der Mord, der Genuss und der Reichtum…was haben diese drei mit dem Schicksal gemein? Nun, ist es vielleicht unser Schicksal reich oder arm, enthaltsam oder lustvoll zu leben. Dieses Schicksal ist ein Zufall, denn könnten wir nicht auch für immer eine geschlossene Auster bleiben, die niemals das Licht kennen lernt und von der niemand sagen wird sie sei voll von Genuss oder bringe Wohlstand?
Ich werde Graver am besten selbst fragen…hoffentlich fängt er nicht wieder mit seinem Zarathustra an…“
In Gedanken bei der Schicksalsauster und dem Mord aus Genusssucht oder Habgier…schlich sich die Müdigkeit an Monsieurs Fensterplatz heran und strich ihm zärtlich über den Nacken, bis sich seine Augenlider senkten.
In seinem attraktiven Kopf flogen noch Satzfetzen der blondlockigen Stewardess umher: „Während des Sitzens bitte angeschnallt bleiben! Fasten seat belt while seated! Schwimmweste unter ihrem Sitz! Life vest under your seat! …“
In dieser beruhigenden Gewissheit schlummerte Monsieur Morgenrot ein und träumte und träumte und träumte…
Graver hielt ihm ein scharfes, nasses Messer vor das Gesicht und summte monoton vor sich hin wie ein Rasenmäher oder jemand, der meditierte. Direkt vor seinem Oberkörper stand eine Wolke in der Luft, gegen die sich Gravers voluminöser Bauch drückte. Mit der freien Hand griff Graver in die Wolke wie in einen Zylinder und zog eine Auster heraus. Seine grauen Haare standen fettig und vom Wahnsinn durchweht in alle Himmelsrichtungen ab. Plötzlich unterbrach Graver sein Summen und rief lachend und spuckend in Monsieur Morgenrots Gesicht: „Und so sprach Zarathustra: Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken.“
Monsieur Morgenrot schreckte auf und atmete flach. Ob er vielleicht doch besser daheim geblieben wäre? Andererseits war Graver ein berühmter, anerkannter Kollege und er würde seinen Geist sicher bereichern… Vielleicht würde er in den elitären, französischen Philosophen-Zirkel aufgenommen werden, der sich jeden zweiten Mittwoch auf einer Sanddüne traf, um dort dem Denken nachzugehen.
So wachte und träumte Monsieur weiter, während man in den engen Gängen des Flugzeugs versuchte Goldkettchen und Duschgel zu verkaufen.
Monsieur Morgenrot flog eine weitere halbe Stunde in sich zusammengekauert über die Erde und das Meer, denn die Dame, welche vor ihm saß, hatte nach der Lektüre des Bordmagazins nur seufzend zu sich gesagt: „Ach, mich ödet hier alles an.“ und daraufhin ihren Sessel so weit es möglich war zurück geklappt.
Mit dem Gefühl von vielen kleinen Muskelzerrungen lief Monsieur schließlich, einen roten Lederkoffer hinter sich her ziehend, auf den französischen Parkplatz. Das erste, was Monsieur auffiel war der Geruch einer fremden Luft, angefüllt vom Dreck der beigen Straßen, von Kiefernwäldern, Meersalz und sandigen, schönen Frauen.
Doch leider kam ihm keine dieser sandigen Frauen entgegen, sondern Graver, welcher die Arme weit ausstreckte und immerzu „Pedro! Pedro, mon ami!“ rief. Monsieur Morgenrot musste sogleich an seinen Traum denken und fürchtete sich etwas vor dieser gewaltigen Welle aus Freundlichkeit, die jetzt auf ihn einbrach. Aber es war zu spät, um unterzutauchen, denn schon packten ihn Gravers Arme. Graver küsste den überraschten Monsieur auf beide Wangen und verströmte dabei einen starken Parfum- und Tabakduft.
Mit schwerem Akzent erfreute sich Graver über Monsieur Morgenrots Ankunft: „Mein verehrter Kollege, wie lange ist es nun her, dass wir uns getroffen haben? Ein Jahr, zehn Jahre, ein halbes Leben? Ich weiß es nicht und unweigerlich, bei ihrem Anblick, Monsieur, fällt mir Seneca ein.“
„Ach ja?“ fragte Monsieur Morgenrot geschmeichelt, während sich seine Stirn hob und seine Mundwinkel senkten.
„Ja, Monsieur, denn sprach Seneca nicht: <<Glückselig zu leben, mein Bruder Gallio, das wünschen alle, aber um zu durchschauen, was es sei, wodurch ein glückseliges Leben bewirkt werde, dazu sind sie zu blödsichtig.>>“
„-Was hat das mit mir zu tun?“
„Nun mein verehrter Kollege, Sie machen mir den Anschein ein Schlausichtiger zu sein. Ein bisschen wie ich. Aber um meine Größe zu erreichen, fehlt es Ihnen noch an Arroganz.“
„-An Arroganz?“
„Natürlich an Arroganz! Sie dürfen sich keine Freunde machen auf dieser Welt! Sie müssen aufhören andere zu verehren. Nehmen sie sich ein Beispiel an mir. Ich verehre nur mich und an schlechten Tagen Zarathustra.“
„-Ja, ich weiß. Aber man kann doch nicht jeden Menschen gegenüber arrogant auftreten! Was ist mit Liebe, Freundschaft und Mitgefühl? Das alles ist nicht möglich in der Arroganz.“
„Monsieur, ich erwähnte bereits: Ich bin mein eigener Freund, meine größte Liebe und das Mitgefühl der anderen ist meistens nur eine leuchtende Orangenschale, hinter der sich faules, zähes Fruchtfleisch versteckt!“
„Ich glaube sie irren sich da in einigen…“
-„Unsinn! Machen Sie keine Späße, Monsieur! Lassen sie uns lieber zum Wagen gehen! Lucien wird uns fahren.“
Monsieur Morgenrot nickte und zog es in Gravers Gesellschaft wie so oft vor zu schweigen und seinen Gedanken nachzuhängen.
Am nächsten Mittag schlug Graver vor einen Strandspaziergang zu unternehmen. Dabei wollte er Monsieur Morgenrot die wichtigsten Aspekte seiner Theorie über das Weibliche in Verbindung zur Apokalypse und die Folgen für jene Staaten mit einem Frauenanteil von über 60 Prozent erläutern.
Zu diesem Zweck erschien Graver auf der lichtbedeckten Veranda seiner weißen Villa. Er trug einen Schottenrock und ein schwarzes Hemd mit der eleganten gelben Aufschrift: „Sonne, ich muss gleich Dir „untergehen“, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.“ (Zarathustra)
„-Ein hübsches Hemd haben sie da.“ murmelte Monsieur Morgenrot leicht überbetont.
„Ich wusste es würde Ihnen gefallen!“
Die beiden Herren schlenderten den mittäglich leeren Strand entlang. Graver rannte schwerfällig zum Meer, nahm beide Hände voll Wasser und goss es sich über das graue Haar.
Monsieur Morgenrot konnte die Mischung aus Staunen und Entsetzen in seinem Gesicht kaum verbergen.
„Graver, was tun Sie da?“
„Ich erweitere meinen Horizont, Monsieur! Denn sehen sie, wenn das Meer meine Stirn berührt, müsste mein Geist dann nicht auch die Weite des Meeres in sich tragen?“
„-Ich bezweifle, dass Sie so…“
„Das soll nicht unser Thema sein, Monsieur! Ich wollte ihnen von der Verbindung zwischen dem Weiblichen und der nahenden Apokalypse berichten. Es verhält sich hierbei so, dass-“
Graver hielt inne. „Haben sie das gerade gehört, Monsieur?“
„-Was?“
„Dieses Geräusch.“
„Welches?“ Monsieur Morgenrot sah sich leicht erschrocken um.
„Es kommt aus dem Wasser!“
„-Was? Was kommt aus dem Wasser?“
„Schscht. Wir müssen ganz still sein. Dann kommt es vielleicht wieder.“
„-Das war bestimmt nur ein Fisch oder vielleicht ein U-Boot… Also ich habe rein gar nichts gehört, Graver! Sie müssen sich das einbilden!“
„Schscht!“
Das Wasser bahnte sich seinen Weg über den Hügel von Gravers Bauch und manchmal fiel ein Tropfen von seinen Nasenflügeln. Monsieur Morgenrot nahm die Hände in seine Hosentaschen und sah Graver fragend an.
Dieser versank leicht im Sand und horchte auf wie ein Löwe auf Antilopenjagd in Erwartung des Geräuschs.
Ein lautes Aufatmen von Monsieur Morgenrot zerbrach die Stille, beide Herren zuckten zusammen.
Plötzlich sahen sie Lucien, der den Strand entlang rannte und dabei aufgebracht mit den Armen ruderte.
„Da sehen sie nur, verehrter Kollege! Lucien ist uns gefolgt! Schauen Sie nur, welch eigenartige Form der körperlichen Ertüchtigung. Meinen Sie das mit den Armen würde auch mir gut tun?“
„Ich glaube er möchte uns etwas mitteilen, Graver.“
„Ja! Vielleicht ist die Post gekommen!“
Lucien trat atemlos an die beiden heran.
„Monsieur Morgenrot, eine junge Dame, welche behauptet dem Adelsgeschlecht der sagenumwobenen D`Oiseaus anzugehören, besteht darauf sie zu sprechen! Es scheint sehr dringlich zu sein! Sie will nicht eher von der Eingangshalle weichen, bis sie ein Wort mit ihnen gewechselt hat. Sie sprach sehr viel von einem äußerst wichtigen Ereignis im Februar.“
„Im Februar?“
Lucien nickte eifrig, Monsieur Morgenrot wollte Graver zum Aufbruch überreden, aber dieser wollte zunächst herausfinden, wer oder was das Geräusch aus dem Wasser entstehen ließ.
„Bis später, mein verehrter Kollege! Wir finden den Übeltäter schon noch, was?“
„-Ja, sicher.“ murmelte Monsieur ungläubig.
Während Monsieur Morgenrot und Lucien durch den mahlenden Sand in die Ferne gingen und am Ende so klein waren wie der felsige Teil der Bucht, untersuchte Graver den Strand.
Es war ihm mulmig und einsam zu Mute und fremde Frauen in seiner Villa waren ihm ein Gräuel. Jedoch war eine Oiseau sicherlich ein gutes Aushängeschild für die Presse. Zumal dieser Familie nachgesagt wurde, dass ihre weiblichen Mitglieder von äußerster Anmut und Laszivität waren.
„Mm…das Wasser sieht jetzt wieder ganz alltäglich aus. Die Wellen sind schlapp und schaffen nicht einmal einen halben Meter Strand anzufeuchten. Meine Güte, wenn ich eine Welle wäre…wenn meine Gedanken eine Welle wären! Sie würden ganz Europa durchnässen!“ Graver fing an über seinen Hochmut zu lachen.
„Ach Zarathustra, wenn Du mir jetzt mit Deiner Weisheit helfen könntest! Ich sollte besser mein Haus bewachen… <<Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag – „Du sollst“ – heißt der große Drache, aber der Geist des Löwen sagt: „Ich will.“ >>
Recht hast Du, Zarathustra! Nun WILL auch ich das Unbekannte ergründen! Nun WILL auch ich, Zarathustra! Nun auch ich!“
Graver setzte sich in den Sand und ließ eine Hand voll Körnchen auf seinen Bauch rieseln. Dabei starrte er in Gedanken bei Zarathustra auf den lang gezogenen Horizontfaden. Das ging eine halbe Stunde so weiter.
Plötzlich hatte Graver einen genialen Einfall: „Das Geräusch kommt aus dem Wasser! Jemand oder etwas verursacht das Geräusch! Wenn ich das Meer nun trocken legen könnte, würde ich sehen, von wo das Geräusch stammt! Das ist es, Graver! Du alter Fuchs kannst es doch noch allen zeigen!“
Graver begann in seinem Wahn das Wasser zurück zu treten. Es spritzte an seinen Beinen hoch und schäumte in salzigen Wolken. Gravers Tritte wurden heftiger und schneller, doch das Wasser ließ sich nicht bezwingen. Die Sonne senkte sich gerade und rötete das bereits schwarze Meer. Graver sprang auf und schrie das letzte Tageslicht an:
„Woher stammt das Geräusch? Ich muss es wissen! Ich muss dieses Meer beiseite schaffen! Los, zeig Dich, fremde Gestalt! Ertöne, Du unbekannter Laut!“
Graver zitterte vor Anspannung. Auf seinen Schläfen glänzten Schweißperlen und er ballte seine Fäuste. Er musste das Geräusch ergründen. Bisher gab es nichts in seinem Leben, was ihm unergründlich erschien. Am Wenigsten die Liebe, welche für Graver reinste Zeitverschwendung bedeutete. Eine bedrohliche Stille schlang sich um den ganzen Strand und Graver horchte gelähmt vor Erwartung nach dem Geräusch. Das störende Meeresrauschen machte ihn tollwütig und beeinträchtigte seine perfekte Konzentration. Gravers Ohren spürten sensibel jeden gewohnten Klang der Umgebung auf. Seine Ohren waren zu Jägern geworden. Es fielen Kiefernzapfen, die Wellen brachen und manchmal rutschte Gravers Fuß im Sand. Aber nirgends fand sein Gehör das Geräusch vom Nachmittag wieder.
Plötzlich durchstach eine sehr junge Frauenstimme die Stille: „Monsieur Graver?“
Diese zwei Worte schossen in Gravers Ohren wie Pfeilspitzen. Ein unglaublicher Schmerz zog sich durch seinen Körper, der mit einem mal in den Sand fiel. Sandkörner fielen über Gravers Haare her und die Wellen verschlangen seine Beine. Seine Gesichtszüge verzogen sich in diesem Augenblick in ein erfülltes Lächeln und mit seiner letzten Kraft schrieb er in den Sand: „Gedanke“
Madame Oiseau, welche gehofft hatte Monsieur Morgenrot hier am Strand aufzuspüren (das lange Warten in der Eingangshalle hatte sie nervös gemacht) stand erschrocken vor Gravers leblosem Körper. Sie rannte sogleich über die Dünen hinweg in Richtung Strandpromenade, um Hilfe zu holen.
Monsieur Morgenrot, der noch einen braunen Haarschopf im Wind flattern sah, eilte zu Gravers Leiche.
„Monsieur Graver?“ Aber Monsieur Graver antwortete nicht mehr.
Monsieur wandte sich erneut nach den Dünen um, aber der braune Haarschopf war verschwunden. „Was war hier passiert? Hatte es etwas mit seinem Geräusch zu tun und wer war diese Frauengestalt auf den Dünen vorhin?“
Während Monsieur sich dies fragte, hinterließen seine (äußerst attraktiven) Fußsohlen einen Abdruck auf Gravers letztem Wort. Monsieur beschloss die Gestalt von der Düne ausfindig zu machen, um das Geschehen aufzuklären.
„Sollte Gravers letztes Werk vielleicht eine Prophezeiung gewesen sein?“
Monsieur Morgenrot begab sich in Richtung der Strandpromenade, als eine besonders starke Welle Gravers Schriftzüge fraß. Eben dieselbe Welle spülte eine Austernschale direkt neben Gravers geöffnete Hand.
Änderungen:
Vorher hieß es:
Im zweiten Absatz: "M.M., der soeben klickend seinen Gurt geschlossen hatte...."
Im ersten Absatz: Monsieur Morgenrot befand sich im Flugzeug nach Bordeaux, denn der berühmte Philosoph Richard Graver, ein exzentrischer, dickbäuchiger Herr, welcher in jüngster Vergangenheit ein herausragendes Werk über die Verbindung zwischen dem Weiblichen und der Apokalypse veröffentlicht hatte, sandte Monsieur vor einigen Tagen eine Einladung.
Es war eine Postkarte, auf welcher eine frische Auster abgebildet war. Graver hatte auf das milchfarbene Innere der Meeresfrucht das Wort „DESTIN“ („Schicksal“) gezeichnet.
-Der Gurt-Satz wurd mehrfach verändert !
-Der Morgen wurde zum Mittag
+ viele andere Kleinigkeiten, die Nifl bemerkte...
(Gibt es das Wort "kriminologisch" ?) Danke für ihre Aufmerksamkeit !
-Der Name "Graver" wird übrigens "Gravé" ausgesprochen ...
Monsieur Morgenrot befand sich im Flugzeug nach Bordeaux. Der berühmte Philosoph Richard Graver, ein exzentrischer, dickbäuchiger Herr, hatte ihm vor einigen Tagen eine Einladung gesandt. Graver hatte in jüngster Vergangenheit ein herausragendes Werk über die Verbindung zwischen dem Weiblichen und der Apokalypse veröffentlicht.
Die Einladung war eine Postkarte, auf welcher eine frische Auster abgebildet war. Graver hatte auf das milchfarbene Innere der Meeresfrucht das Wort „DESTIN“ („Schicksal“) gezeichnet.
Monsieur Morgenrot, der seinen Gurt mit einem Klicken schloss, sah in die weißen Spinnwebenwolken und grübelte über die Verbindung zwischen einer Auster und dem Schicksal.
„Was könnte der alte Graver wohl damit gemeint haben? Sicher spielte er auf die Perlen an…Aber wäre das nicht viel zu banal für einen Philosophen seines Prestiges? Vielleicht geht es ihm auch um den Akt des Öffnens einer Auster, das Ende eines kleinen, verhärteten Lebens.
-Nur dem Genuss oder dem Reichtum wegen.
Aber der Mord, der Genuss und der Reichtum…was haben diese drei mit dem Schicksal gemein? Nun, ist es vielleicht unser Schicksal reich oder arm, enthaltsam oder lustvoll zu leben. Dieses Schicksal ist ein Zufall, denn könnten wir nicht auch für immer eine geschlossene Auster bleiben, die niemals das Licht kennen lernt und von der niemand sagen wird sie sei voll von Genuss oder bringe Wohlstand?
Ich werde Graver am besten selbst fragen…hoffentlich fängt er nicht wieder mit seinem Zarathustra an…“
In Gedanken bei der Schicksalsauster und dem Mord aus Genusssucht oder Habgier…schlich sich die Müdigkeit an Monsieurs Fensterplatz heran und strich ihm zärtlich über den Nacken, bis sich seine Augenlider senkten.
In seinem attraktiven Kopf flogen noch Satzfetzen der blondlockigen Stewardess umher: „Während des Sitzens bitte angeschnallt bleiben! Fasten seat belt while seated! Schwimmweste unter ihrem Sitz! Life vest under your seat! …“
In dieser beruhigenden Gewissheit schlummerte Monsieur Morgenrot ein und träumte und träumte und träumte…
Graver hielt ihm ein scharfes, nasses Messer vor das Gesicht und summte monoton vor sich hin wie ein Rasenmäher oder jemand, der meditierte. Direkt vor seinem Oberkörper stand eine Wolke in der Luft, gegen die sich Gravers voluminöser Bauch drückte. Mit der freien Hand griff Graver in die Wolke wie in einen Zylinder und zog eine Auster heraus. Seine grauen Haare standen fettig und vom Wahnsinn durchweht in alle Himmelsrichtungen ab. Plötzlich unterbrach Graver sein Summen und rief lachend und spuckend in Monsieur Morgenrots Gesicht: „Und so sprach Zarathustra: Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken.“
Monsieur Morgenrot schreckte auf und atmete flach. Ob er vielleicht doch besser daheim geblieben wäre? Andererseits war Graver ein berühmter, anerkannter Kollege und er würde seinen Geist sicher bereichern… Vielleicht würde er in den elitären, französischen Philosophen-Zirkel aufgenommen werden, der sich jeden zweiten Mittwoch auf einer Sanddüne traf, um dort dem Denken nachzugehen.
So wachte und träumte Monsieur weiter, während man in den engen Gängen des Flugzeugs versuchte Goldkettchen und Duschgel zu verkaufen.
Monsieur Morgenrot flog eine weitere halbe Stunde in sich zusammengekauert über die Erde und das Meer, denn die Dame, welche vor ihm saß, hatte nach der Lektüre des Bordmagazins nur seufzend zu sich gesagt: „Ach, mich ödet hier alles an.“ und daraufhin ihren Sessel so weit es möglich war zurück geklappt.
Mit dem Gefühl von vielen kleinen Muskelzerrungen lief Monsieur schließlich, einen roten Lederkoffer hinter sich her ziehend, auf den französischen Parkplatz. Das erste, was Monsieur auffiel war der Geruch einer fremden Luft, angefüllt vom Dreck der beigen Straßen, von Kiefernwäldern, Meersalz und sandigen, schönen Frauen.
Doch leider kam ihm keine dieser sandigen Frauen entgegen, sondern Graver, welcher die Arme weit ausstreckte und immerzu „Pedro! Pedro, mon ami!“ rief. Monsieur Morgenrot musste sogleich an seinen Traum denken und fürchtete sich etwas vor dieser gewaltigen Welle aus Freundlichkeit, die jetzt auf ihn einbrach. Aber es war zu spät, um unterzutauchen, denn schon packten ihn Gravers Arme. Graver küsste den überraschten Monsieur auf beide Wangen und verströmte dabei einen starken Parfum- und Tabakduft.
Mit schwerem Akzent erfreute sich Graver über Monsieur Morgenrots Ankunft: „Mein verehrter Kollege, wie lange ist es nun her, dass wir uns getroffen haben? Ein Jahr, zehn Jahre, ein halbes Leben? Ich weiß es nicht und unweigerlich, bei ihrem Anblick, Monsieur, fällt mir Seneca ein.“
„Ach ja?“ fragte Monsieur Morgenrot geschmeichelt, während sich seine Stirn hob und seine Mundwinkel senkten.
„Ja, Monsieur, denn sprach Seneca nicht: <<Glückselig zu leben, mein Bruder Gallio, das wünschen alle, aber um zu durchschauen, was es sei, wodurch ein glückseliges Leben bewirkt werde, dazu sind sie zu blödsichtig.>>“
„-Was hat das mit mir zu tun?“
„Nun mein verehrter Kollege, Sie machen mir den Anschein ein Schlausichtiger zu sein. Ein bisschen wie ich. Aber um meine Größe zu erreichen, fehlt es Ihnen noch an Arroganz.“
„-An Arroganz?“
„Natürlich an Arroganz! Sie dürfen sich keine Freunde machen auf dieser Welt! Sie müssen aufhören andere zu verehren. Nehmen sie sich ein Beispiel an mir. Ich verehre nur mich und an schlechten Tagen Zarathustra.“
„-Ja, ich weiß. Aber man kann doch nicht jeden Menschen gegenüber arrogant auftreten! Was ist mit Liebe, Freundschaft und Mitgefühl? Das alles ist nicht möglich in der Arroganz.“
„Monsieur, ich erwähnte bereits: Ich bin mein eigener Freund, meine größte Liebe und das Mitgefühl der anderen ist meistens nur eine leuchtende Orangenschale, hinter der sich faules, zähes Fruchtfleisch versteckt!“
„Ich glaube sie irren sich da in einigen…“
-„Unsinn! Machen Sie keine Späße, Monsieur! Lassen sie uns lieber zum Wagen gehen! Lucien wird uns fahren.“
Monsieur Morgenrot nickte und zog es in Gravers Gesellschaft wie so oft vor zu schweigen und seinen Gedanken nachzuhängen.
Am nächsten Mittag schlug Graver vor einen Strandspaziergang zu unternehmen. Dabei wollte er Monsieur Morgenrot die wichtigsten Aspekte seiner Theorie über das Weibliche in Verbindung zur Apokalypse und die Folgen für jene Staaten mit einem Frauenanteil von über 60 Prozent erläutern.
Zu diesem Zweck erschien Graver auf der lichtbedeckten Veranda seiner weißen Villa. Er trug einen Schottenrock und ein schwarzes Hemd mit der eleganten gelben Aufschrift: „Sonne, ich muss gleich Dir „untergehen“, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.“ (Zarathustra)
„-Ein hübsches Hemd haben sie da.“ murmelte Monsieur Morgenrot leicht überbetont.
„Ich wusste es würde Ihnen gefallen!“
Die beiden Herren schlenderten den mittäglich leeren Strand entlang. Graver rannte schwerfällig zum Meer, nahm beide Hände voll Wasser und goss es sich über das graue Haar.
Monsieur Morgenrot konnte die Mischung aus Staunen und Entsetzen in seinem Gesicht kaum verbergen.
„Graver, was tun Sie da?“
„Ich erweitere meinen Horizont, Monsieur! Denn sehen sie, wenn das Meer meine Stirn berührt, müsste mein Geist dann nicht auch die Weite des Meeres in sich tragen?“
„-Ich bezweifle, dass Sie so…“
„Das soll nicht unser Thema sein, Monsieur! Ich wollte ihnen von der Verbindung zwischen dem Weiblichen und der nahenden Apokalypse berichten. Es verhält sich hierbei so, dass-“
Graver hielt inne. „Haben sie das gerade gehört, Monsieur?“
„-Was?“
„Dieses Geräusch.“
„Welches?“ Monsieur Morgenrot sah sich leicht erschrocken um.
„Es kommt aus dem Wasser!“
„-Was? Was kommt aus dem Wasser?“
„Schscht. Wir müssen ganz still sein. Dann kommt es vielleicht wieder.“
„-Das war bestimmt nur ein Fisch oder vielleicht ein U-Boot… Also ich habe rein gar nichts gehört, Graver! Sie müssen sich das einbilden!“
„Schscht!“
Das Wasser bahnte sich seinen Weg über den Hügel von Gravers Bauch und manchmal fiel ein Tropfen von seinen Nasenflügeln. Monsieur Morgenrot nahm die Hände in seine Hosentaschen und sah Graver fragend an.
Dieser versank leicht im Sand und horchte auf wie ein Löwe auf Antilopenjagd in Erwartung des Geräuschs.
Ein lautes Aufatmen von Monsieur Morgenrot zerbrach die Stille, beide Herren zuckten zusammen.
Plötzlich sahen sie Lucien, der den Strand entlang rannte und dabei aufgebracht mit den Armen ruderte.
„Da sehen sie nur, verehrter Kollege! Lucien ist uns gefolgt! Schauen Sie nur, welch eigenartige Form der körperlichen Ertüchtigung. Meinen Sie das mit den Armen würde auch mir gut tun?“
„Ich glaube er möchte uns etwas mitteilen, Graver.“
„Ja! Vielleicht ist die Post gekommen!“
Lucien trat atemlos an die beiden heran.
„Monsieur Morgenrot, eine junge Dame, welche behauptet dem Adelsgeschlecht der sagenumwobenen D`Oiseaus anzugehören, besteht darauf sie zu sprechen! Es scheint sehr dringlich zu sein! Sie will nicht eher von der Eingangshalle weichen, bis sie ein Wort mit ihnen gewechselt hat. Sie sprach sehr viel von einem äußerst wichtigen Ereignis im Februar.“
„Im Februar?“
Lucien nickte eifrig, Monsieur Morgenrot wollte Graver zum Aufbruch überreden, aber dieser wollte zunächst herausfinden, wer oder was das Geräusch aus dem Wasser entstehen ließ.
„Bis später, mein verehrter Kollege! Wir finden den Übeltäter schon noch, was?“
„-Ja, sicher.“ murmelte Monsieur ungläubig.
Während Monsieur Morgenrot und Lucien durch den mahlenden Sand in die Ferne gingen und am Ende so klein waren wie der felsige Teil der Bucht, untersuchte Graver den Strand.
Es war ihm mulmig und einsam zu Mute und fremde Frauen in seiner Villa waren ihm ein Gräuel. Jedoch war eine Oiseau sicherlich ein gutes Aushängeschild für die Presse. Zumal dieser Familie nachgesagt wurde, dass ihre weiblichen Mitglieder von äußerster Anmut und Laszivität waren.
„Mm…das Wasser sieht jetzt wieder ganz alltäglich aus. Die Wellen sind schlapp und schaffen nicht einmal einen halben Meter Strand anzufeuchten. Meine Güte, wenn ich eine Welle wäre…wenn meine Gedanken eine Welle wären! Sie würden ganz Europa durchnässen!“ Graver fing an über seinen Hochmut zu lachen.
„Ach Zarathustra, wenn Du mir jetzt mit Deiner Weisheit helfen könntest! Ich sollte besser mein Haus bewachen… <<Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag – „Du sollst“ – heißt der große Drache, aber der Geist des Löwen sagt: „Ich will.“ >>
Recht hast Du, Zarathustra! Nun WILL auch ich das Unbekannte ergründen! Nun WILL auch ich, Zarathustra! Nun auch ich!“
Graver setzte sich in den Sand und ließ eine Hand voll Körnchen auf seinen Bauch rieseln. Dabei starrte er in Gedanken bei Zarathustra auf den lang gezogenen Horizontfaden. Das ging eine halbe Stunde so weiter.
Plötzlich hatte Graver einen genialen Einfall: „Das Geräusch kommt aus dem Wasser! Jemand oder etwas verursacht das Geräusch! Wenn ich das Meer nun trocken legen könnte, würde ich sehen, von wo das Geräusch stammt! Das ist es, Graver! Du alter Fuchs kannst es doch noch allen zeigen!“
Graver begann in seinem Wahn das Wasser zurück zu treten. Es spritzte an seinen Beinen hoch und schäumte in salzigen Wolken. Gravers Tritte wurden heftiger und schneller, doch das Wasser ließ sich nicht bezwingen. Die Sonne senkte sich gerade und rötete das bereits schwarze Meer. Graver sprang auf und schrie das letzte Tageslicht an:
„Woher stammt das Geräusch? Ich muss es wissen! Ich muss dieses Meer beiseite schaffen! Los, zeig Dich, fremde Gestalt! Ertöne, Du unbekannter Laut!“
Graver zitterte vor Anspannung. Auf seinen Schläfen glänzten Schweißperlen und er ballte seine Fäuste. Er musste das Geräusch ergründen. Bisher gab es nichts in seinem Leben, was ihm unergründlich erschien. Am Wenigsten die Liebe, welche für Graver reinste Zeitverschwendung bedeutete. Eine bedrohliche Stille schlang sich um den ganzen Strand und Graver horchte gelähmt vor Erwartung nach dem Geräusch. Das störende Meeresrauschen machte ihn tollwütig und beeinträchtigte seine perfekte Konzentration. Gravers Ohren spürten sensibel jeden gewohnten Klang der Umgebung auf. Seine Ohren waren zu Jägern geworden. Es fielen Kiefernzapfen, die Wellen brachen und manchmal rutschte Gravers Fuß im Sand. Aber nirgends fand sein Gehör das Geräusch vom Nachmittag wieder.
Plötzlich durchstach eine sehr junge Frauenstimme die Stille: „Monsieur Graver?“
Diese zwei Worte schossen in Gravers Ohren wie Pfeilspitzen. Ein unglaublicher Schmerz zog sich durch seinen Körper, der mit einem mal in den Sand fiel. Sandkörner fielen über Gravers Haare her und die Wellen verschlangen seine Beine. Seine Gesichtszüge verzogen sich in diesem Augenblick in ein erfülltes Lächeln und mit seiner letzten Kraft schrieb er in den Sand: „Gedanke“
Madame Oiseau, welche gehofft hatte Monsieur Morgenrot hier am Strand aufzuspüren (das lange Warten in der Eingangshalle hatte sie nervös gemacht) stand erschrocken vor Gravers leblosem Körper. Sie rannte sogleich über die Dünen hinweg in Richtung Strandpromenade, um Hilfe zu holen.
Monsieur Morgenrot, der noch einen braunen Haarschopf im Wind flattern sah, eilte zu Gravers Leiche.
„Monsieur Graver?“ Aber Monsieur Graver antwortete nicht mehr.
Monsieur wandte sich erneut nach den Dünen um, aber der braune Haarschopf war verschwunden. „Was war hier passiert? Hatte es etwas mit seinem Geräusch zu tun und wer war diese Frauengestalt auf den Dünen vorhin?“
Während Monsieur sich dies fragte, hinterließen seine (äußerst attraktiven) Fußsohlen einen Abdruck auf Gravers letztem Wort. Monsieur beschloss die Gestalt von der Düne ausfindig zu machen, um das Geschehen aufzuklären.
„Sollte Gravers letztes Werk vielleicht eine Prophezeiung gewesen sein?“
Monsieur Morgenrot begab sich in Richtung der Strandpromenade, als eine besonders starke Welle Gravers Schriftzüge fraß. Eben dieselbe Welle spülte eine Austernschale direkt neben Gravers geöffnete Hand.
Änderungen:
Vorher hieß es:
Im zweiten Absatz: "M.M., der soeben klickend seinen Gurt geschlossen hatte...."
Im ersten Absatz: Monsieur Morgenrot befand sich im Flugzeug nach Bordeaux, denn der berühmte Philosoph Richard Graver, ein exzentrischer, dickbäuchiger Herr, welcher in jüngster Vergangenheit ein herausragendes Werk über die Verbindung zwischen dem Weiblichen und der Apokalypse veröffentlicht hatte, sandte Monsieur vor einigen Tagen eine Einladung.
Es war eine Postkarte, auf welcher eine frische Auster abgebildet war. Graver hatte auf das milchfarbene Innere der Meeresfrucht das Wort „DESTIN“ („Schicksal“) gezeichnet.
-Der Gurt-Satz wurd mehrfach verändert !
-Der Morgen wurde zum Mittag
+ viele andere Kleinigkeiten, die Nifl bemerkte...