Routinefall

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 22.02.2006, 11:37

Routinefall

Marlene Geselle

Neben dem Tor kann ich, wenn ich die Augen anstrenge, den dunklen Umriss eines Menschen erkennen, der dort an die Wand gelehnt sitzt oder sich schlafend zusammengerollt hat. Nur für einen kleinen Moment stutze ich. Mann oder Frau?
Jeden Morgen, auf dem Weg zur Frühschicht, gehe ich durch dieses Tor. Dass hier jemand übernachtet, einer von denen, wie man so unschön sagt, kommt im Sommer öfter vor. Aber heute, heute ist Anfang März.
Es hat gefroren über Nacht. Und es weht noch immer ein kalter Wind: durch die Straße, durch das Tor, über mein Gesicht. Wirklich nicht das richtige Wetter, um hier ein Schläfchen abzuhalten.
Meine Füße tragen mich zu der Gestalt am Boden. Ein alter, abgewetzter Armeeparka, schmuddelige Wollmütze, ebensolcher Schal. Habe ich wirklich was anderes erwartet? Soll ich ihn/sie einfach ansprechen?
„Hallo, Sie da! Da haben Sie sich aber einen miesen Platz zum Schlafen ausgesucht.“
Meine vorlaute Klappe hat die Regie übernommen. Die Hände rütteln an der Schulter, folgen meinem Mundwerk nur nach.
„Scheiße, der ist tot!“
Käsehaut, filziger Bart. Beides überzogen mit einer feinen Schicht Raureif. Das Gesicht hart und kalt wie Putenfleisch aus der Tiefkühltruhe. Spüre, wie ich zittere.
Die Hände greifen von alleine nach dem Handy; wählen automatisch die 110. Eine freundliche routinierte Stimme Polizistenstimme lotst mich durch den Fragebogen. Alles klar! Bitte warten Sie auf das Eintreffen der Polizeibeamten!
Zwei Minuten später ist der Streifenwagen da. Die Wache ist nur drei Straßen weiter, fällt mir ein. Die Polizeibeamten taxieren mich mit einem einzigen Blick, bitten mich zu warten, falls es noch Fragen gibt. Die Ambulanz ist auch schon da. Kurzer Blick des Notarztes auf die Gestalt am Boden, wenige Worte an die Polizisten. Der Arzt klettert zurück in den Rettungswagen und fährt wieder ab. Wenig später ist schon der Leichenwagen da.
Der ältere der beiden Polizeibeamten winkt den Männern mit der Zinkwanne. Sehe zum ersten Mal wie das gemacht wird, wenn einer abgeholt wird.
Die beiden Polizisten haben keine weiteren Fragen an mich. Ich bekomme noch die übliche Karte mit dem Namen des sachbearbeitenden Beamten, der Telefonnummer des zuständigen Reviers usw. Müssen weiter, die Beiden, winken mir zum Abschied kurz zu. Alles erledigt, meine Daten haben sie; ein Routinefall.
Die Männer mit der Zinkwanne sind jetzt auch fertig. Rein in den Wagen, Türe zu. Ich sehe den beiden Autos nach, wie sie durch das Tor fahren. Stille.
Schrecke zusammen, als ich die Turmuhr von St. Johann höre. Muss los, zur Frühschicht. Stecke die Visitenkarte des Polizisten ein, laufe das letzte Stück Weg.
Eigentlich wollte ich noch zum Einkaufen vor der Schicht. Das muss jetzt warten. Keine Lust, drinnen am Band blöde Fragen zu beantworten. Noch dazu, wenn mir die Antworten sowieso keiner glaubt. Wer findet auch einen Erfrorenen auf dem Weg zur Arbeit! Keinen Bock auf Abzug, wenn ich zu spät komme. Will den Alten nicht fragen, ob ich tauschen kann. Werde dem armen Kerl also nicht die „letzte Ehre“ erweisen können. In der Personalabteilung haben sie schon genug rumgezickt, als die Kleine krank wurde und ich unbezahlte Freistellung nehmen musste.
Nächste Woche ist Spätschicht. Morgens frei, wenn die Kleine in der Schule ist. Kann ja dann mal zum Friedhof hin und gucken gehen.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 22.02.2006, 17:30

Liebe Marlene Gesell

Es ist eine erschütternde Realität. Menschen erfrieren in einem Land, das doch so wohlhabend zu sein scheint. Schön, dass Du das Thema aufgegriffen hast.

Beim ersten Lesen empfand ich die Ich-Erzählerin zu teilnahmslos, um anschließend den Entschluss zu fassen, den Toten auf dem Friedhof zu besuchen. (Sie denkt an Arbeit/Einkaufen/Kind). Inzwischen glaube ich aber, dass die Beschreibung sehr gut passt. Der Tote war der Erzählerin schließlich nicht bekannt. Die meisten Menschen würden auch überhaupt nicht auf die Idee kommen, einen Friedhofsbesuch zu planen.

Ist es eine erfundene Geschichte?

Ich habe sie gerne gelesen.

Jürgen

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 23.02.2006, 08:41

Hallo Jürgen,

zuerst einmal meinen Dank für die schnelle Antwort.

Etwas Ähnliches hab ich vor ein paar Jahren im Urlaub mitbekommen. Ein Obdachloser brach auf offener Straße zusammen, und hastenichtgesehen wie schnell wurde der Ärmste abtransportiert. Das ging so flink, dass man glauben konnte, die Leute täten den ganzen Tag nichts anderes. Die Zuschauer standen starr wie Lots Weib daneben (kann und will mich da nicht ausschließen), guckten zu. Kaum war der Leichenwagen fort, zerstreute sich auch die Zuschauermenge.

Für die Geschichte habe ich mir eine Fabrikarbeiterin ausgesucht, die ständig unter Druck steht, immer Angst haben muss, dass ihr nächster Fehler zum Absturz führt. Diese dauernde Angst im Hinterkopf sorgt dafür, dass sie sich gefühlsmäßig abschottet. Zuerst einmal wird funktioniert, danach guckt man weiter. Wobei für Letzteres kaum noch Kraft übrig bleibt. Sie muss Geld verdienen, sich ums Kind kümmern. Alles, was dazwischenkommt, kriegt sie kaum auf die Reihe. Hilfe hat sie keine zu erwarten.

Liebe Grüße
Marlene

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 24.02.2006, 16:46

Ich finde diese kurze Geschichte sehr gut.
Gerade die "sachliche Schilderung" und der Kniff der "Präsenz"-Erzählweise verleiht ihr die Wirkung.

Gruß

Maija

Beitragvon Maija » 24.02.2006, 17:39

Hallo Marlene,

Für mich interessanter, wenn eine Geschichte wirklich so passiert ist. Ansonsten finde ich die Erzählform nicht schlecht und es liest sich flüssig. Das Thema ist tragisch und traurig und leider noch aktuell.

Gruß Maija

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 28.02.2006, 18:39

Hallo Franktireur,
Hallo Jaija,

vielen Dank. In der ersten Version (unveröffentlicht) hatte ich noch die Vergangenheitsform genommen. Da kam die Situation der Frau, die ja so in Hetze ist, unter Druck steht, gar nicht rüber.

Im übrigen bin ich ganz froh, dass die Sache mit dem Obdachlosen "nur" ähnlich war. Ein erschreckender Gedanke, nur deshalb blitzschnelle Hilfe zu bekommen, damit andere nichts Unschönes zu sehen kriegen.

Liebe Grüße
Marlene


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