Zugfahrt
Verfasst: 22.02.2006, 13:38
Zugfahrt
Sie war eine wirklich außergewöhnliche Frau, wie ich fand. Ich konnte einfach nicht umhin, sie ständig anzustarren. Ihre Nase war zu groß und das Kinn sehr ausgeprägt, doch sie hatte so schöne volle Lippen und ganz lange Wimpern. Ein richtig markantes Gesicht, wie ein Filmstar. Ich fragte mich, was sie wohl beruflich machte. Ob sie einen reichen Ehemann hatte? Oder vielleicht war sie gar nicht verheiratet und lebte in einer großen, alten Villa mit ihren vier Katzen und sieben Krähen. Nein, das war natürlich Unsinn. Auch wenn sie eindeutig etwas Faszinierendes an sich hatte, etwas Anziehendes, wie sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ und so beherrscht und elegant da saß und ihr Buch las. Sie las nun schon seit fast einer Stunde ununterbrochen. Da muss sie zugestiegen sein. Ich war gerade im Waschraum gewesen und als ich zurückgekommen war, saß sie schon auf dem Platz mir gegenüber und las konzentriert in ihrem 1000-Seiten-Roman. Es ging bestimmt um Sehnsucht und Liebe. Sie muss meinen Blick bemerkt haben, denn sie hob plötzlich ein wenig den Kopf und sah mich skeptisch und ein wenig verärgert aus ihren rehbraunen Augen an. Einen Moment lang erwiderte ich ihren Blick noch, doch dann wand ich mich schnell ab und sah angestrengt aus dem Fenster. Als ob es dort etwas Interessantes zu sehen gäbe außer Regen, grauen Wolken und einer verschwommenen Landschaft. Die Dame – ich war mir sicher, dass sie eine Frau war, die man einfach als Dame bezeichnen musste – senkte ihren Kopf wieder und las weiter. Ich drehte mich herum und sah mich im Abteil ein wenig um. Die Leute lasen, schliefen oder spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Es war sehr ruhig. Genau so stellte ich mir eine angenehme Zugfahrt vor. Ich mochte Zugfahren nicht besonders, weil man da leider nicht vor den kleinen Kindern fliehen konnte, die einem den letzten Nerv raubten, wenn sie mitten im Abteil fangen spielten oder die ganze Zeit quengelten. Auf dieser Fahrt hatte ich jedoch Glück gehabt, denn bisher habe ich noch kein einziges Kind gesehen oder gehört. Das lag daran, dass ich erster Klasse fuhr. Dass ich nicht früher auf diese Idee gekommen war! Anfangs dachte ich, dass nur reiche und vornehme Menschen säßen, doch es waren hauptsächlich ältere Pärchen und Geschäftsleute. Und die Dame, die mir gegenüber saß. Sie sah gar nicht so reich aus, aber sie hatte etwas Edles und Adeliges an sich. Auf dem freien Platz rechts von ihr, hatte sie eine Handtasche aus Krokodillederimitat liegen. Oder war sie echt? Ich kannte mich da nicht so aus. Was jedoch richtig wertvoll aussah, war ihre Frisur. Ihre halb hochgesteckten Haare saßen perfekt und wurden von einer perlenbesetzten Klammer zusammengehalten. Es sah so perfekt aus, als wäre es eine Perücke. Oder einfach nur mit viel Geschick gemacht worden. Wenn man genau hinsah – und das tat ich beileibe – konnte man sehen, dass sich ein paar einzelne Strähnen schon lösten und auch die Farbe schon herauszuwachsen begann. Unter dem gleichmäßigen, goldbraunen Farbton kam ein fahles Grau-Braun zum Vorschein. Ich schätze sie auf Ende vierzig. Auch, wenn sie mit Make-up versuchte, ihr Alter zu kaschieren, sah man trotzdem die hartnäckigen Fältchen um ihre Augen und Mundwinkel. Sie schien nicht eine von denen zu sein, die von den modernen Anti-Aging Produkten Gebrauch machte. Geldmangel? Ich suchte nach weiteren Indizien und bemerkte, dass sie nur wenig Schmuck trug. Sie hatte eine einfache goldene Kette an, an der ein kleiner, undefinierbarer Anhänger hing, und eine goldene Armbanduhr. Vielleicht war es ihr auch einfach zu gefährlich, sich auf einer Zugfahrt allzu sehr zu schmücken. Unauffällig schaute ich weiter, ob ich noch etwas entdeckte, was auf ihre Persönlichkeit schließen ließ, als sie auf einmal, viel zu laut wie mir schien, ihr Buch zuklappte. Sie stand auf und blickte für einen kurzen Augenblick erhaben auf mich herab. Ich war ein wenig eingeschüchtert von ihrem Blick und konnte mir gut vorstellen, dass sie sehr streng war. Oder einfach genervt von mir? Sie wand sich elegant aus ihrem Sitz und schritt aus dem Abteil hinaus. Das Ganze war so schnell und ohne Vorwarnung gekommen, dass ich richtig enttäuscht war. Aber sie würde ja wieder kommen, beruhigte ich mich. Ich brauchte schließlich eine Beschäftigung für die nächsten zwei Stunden, die mir noch bevor standen und noch mehr so überaus interessante Fahrtgäste würden sicherlich nicht mehr zusteigen. Sie war bestimmt einen Happen essen gegangen. Ob sie Champagner bestellte? Seufzend drehte ich mich wieder zum Fenster und versuchte etwas in dem grau-schwarzen Nichts auszumachen. Meine Gedanken wanderten weiter, fort von der fremden Dame. Ich dachte daran, ob sie sich freuen würden, mich zu sehen. Es war fast ein Jahr her, dass ich meinen Patenonkel und seine Familie besucht hatte. Ob ihr vierjähriger Sohn mich noch kannte? Ich hatte ihm sogar noch Schokolade am Bahnhof gekauft. Ich mochte die Familie sehr gern, doch seit sie fortgezogen waren, sah ich sie nur noch selten. Hoffentlich hörte es bald auf zu regnen! Ein lautes Knurren ließ mich aus meinen Gedanken auffahren. Das war eindeutig mein Magen, der Hunger meldete. Ich wollte jedoch warten, bis die Dame wieder zurück war, denn ich fühlte mich ein wenig verantwortlich für ihre Sachen. Als ich jedoch einen Blick darauf warf, um mich zu vergewissern, dass noch alles da war, fiel mir auf, dass ihr dickes Buch einen französischen Titel trug. Vielleicht war sie ja Französin? Ja, das würde zu ihr passen. Das wurde immer spannender! Wenn sie tatsächlich Französin war, wohin fuhr sie und woher kam sie? Schade nur, dass ich sie nicht einfach fragen konnte. Nicht nur, weil ich kein Wort französisch sprechen konnte, nein, ich hätte auch nie den Mut aufgebracht, sie anzusprechen. Ich ließ ein paar Minuten unentschlossen verstreichen, bis ich mich schließlich erhob, um meine Reisetasche herunterzuholen. Solang die Dame ohnehin nicht hier war, konnte ich auch getrost ein wenig Musik hören oder lesen. Eigentlich hatte ich mir das Buch für die Rückfahrt aufgehoben, da diese mir immer viel länger vorkam, aber ich konnte mir ja ein neues Buch kaufen. Umständlich stopfte ich die Tasche wieder in das viel zu enge Gepäckfach über den Sitzen und machte es mir auf dem Erste-Klasse-Sitz so gemütlich wie möglich. Einmal angefangen zu lesen, bekam ich kaum etwas um mich herum mit. Da konnte ich die Dame gut nachvollziehen! Lang hielt ich es jedoch nicht aus, denn mein Magen knurrte nun unentwegt. Ich beschloss, noch fünf Minuten zu warten. Wenn sie dann nicht wieder zurück war, musste ich ihre Sachen wohl dem Schicksal überlassen. Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, kam sie jedoch wieder. Sie roch nach teurem Parfum und hatte noch einmal frisches Make-up aufgelegt. Vielleicht stieg sie bald aus? Sie sah mich wieder mit ihrem skeptischen Blick an und warf einen argwöhnischen Blick auf ihre Sachen. Ich sah nur entschuldigend zu ihr hoch, doch sie war schon wieder ganz mit sich beschäftigt, also stand ich auf und wankte ungeschickt in den Speisewagen. Ich fragte mich, wie sie mit ihren hochhackigen Pumps wohl so elegant laufen konnte, doch auch darauf würde ich wohl keine Antwort bekommen. Ich suchte mir einen bequemen Sitzplatz und bestellte eine Cola und ein Käsesandwich. Ich hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als hätte ich den Duft ihres Parfums in der Nase gehabt, doch ich konnte mich auch getäuscht haben. Nach meinem Snack machte ich mich schwankend wieder auf den Weg in mein Abteil. Dort saß meine unbekannte Dame wieder ganz stolz und kerzengerade und las in aller Seelenruhe unerschütterlich ihr Buch. Auch ich wollte noch ein wenig lesen, doch mir fehlte die Lust dazu. Ich beschloss, ein wenig die Augen zu schließen und entspannen. Zugfahren machte müde. Ich hörte dem gleichmäßigen Summen des fahrenden Zuges zu. Ich sah die Dunkelheit vor meinen Augen und spürte, wie mein Körper immer schlaffer wurde. Ein angenehm wohliges Gefühl überkam mich und schließlich bekam ich gar nichts mehr mit. Das nächste, was ich dann wieder mitbekam, war die schnarrende Stimme des Lokführers, die durch den Zug tönte: „Endstation, alles aussteigen bitte, der Zug endet hier!“ Ich schrak hoch und war im ersten Moment einfach nur verwirrt. Ich war tatsächlich eingeschlafen und hätte meinen Bahnhof beinahe verpasst! Zum Glück war hier Endstation! Ich warf einen eiligen Blick auf den Platz mir gegenüber, während ich meine Sachen zusammensuchte und musste enttäuscht feststellen, dass die Dame nicht mehr da war. Wahrscheinlich war sie einfach schon zur Tür vorgegangen. Ich rappelte mich hoch und holte meine Tasche herunter. Schnell packte ich das Buch und den Walkman ein und eilte zur Tür. Der Zug hatte soeben gehalten und das Gedränge war groß. Die fremde Dame konnte ich nirgends entdecken. Auch als ich schließlich draußen war und mich umblickte, sah ich sie nirgends. Dafür kam meine Patentante auf mich zu gerannt und umarmte mich. Auch die beiden Kinder kamen angestürmt und sprangen um mich herum, während mein Onkel meine Tasche nahm. Es war ein schönes Wiedersehen und sogar der Kleinste hatte mich noch erkannt. Bis zum Abend verschwendete ich keinen Gedanken mehr an die Dame aus dem Zug. Erst, als ich abends auf dem Gästebett saß und meine eigene Halskette ablegte, fiel sie mir wieder ein. Ich fragte mich, ob ich das alles nur geträumt hatte. Ob ich schon viel früher eingeschlafen war und mir diese Dame nur fantasiert habe. Seufzend legte ich mich. Ich würde es wohl leider nie herausfinden. Wenigstens war die Zugfahrt angenehmer gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte. Und wer wusste, wem ich auf der Rückfahrt begegnen würde?
Sie war eine wirklich außergewöhnliche Frau, wie ich fand. Ich konnte einfach nicht umhin, sie ständig anzustarren. Ihre Nase war zu groß und das Kinn sehr ausgeprägt, doch sie hatte so schöne volle Lippen und ganz lange Wimpern. Ein richtig markantes Gesicht, wie ein Filmstar. Ich fragte mich, was sie wohl beruflich machte. Ob sie einen reichen Ehemann hatte? Oder vielleicht war sie gar nicht verheiratet und lebte in einer großen, alten Villa mit ihren vier Katzen und sieben Krähen. Nein, das war natürlich Unsinn. Auch wenn sie eindeutig etwas Faszinierendes an sich hatte, etwas Anziehendes, wie sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ und so beherrscht und elegant da saß und ihr Buch las. Sie las nun schon seit fast einer Stunde ununterbrochen. Da muss sie zugestiegen sein. Ich war gerade im Waschraum gewesen und als ich zurückgekommen war, saß sie schon auf dem Platz mir gegenüber und las konzentriert in ihrem 1000-Seiten-Roman. Es ging bestimmt um Sehnsucht und Liebe. Sie muss meinen Blick bemerkt haben, denn sie hob plötzlich ein wenig den Kopf und sah mich skeptisch und ein wenig verärgert aus ihren rehbraunen Augen an. Einen Moment lang erwiderte ich ihren Blick noch, doch dann wand ich mich schnell ab und sah angestrengt aus dem Fenster. Als ob es dort etwas Interessantes zu sehen gäbe außer Regen, grauen Wolken und einer verschwommenen Landschaft. Die Dame – ich war mir sicher, dass sie eine Frau war, die man einfach als Dame bezeichnen musste – senkte ihren Kopf wieder und las weiter. Ich drehte mich herum und sah mich im Abteil ein wenig um. Die Leute lasen, schliefen oder spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Es war sehr ruhig. Genau so stellte ich mir eine angenehme Zugfahrt vor. Ich mochte Zugfahren nicht besonders, weil man da leider nicht vor den kleinen Kindern fliehen konnte, die einem den letzten Nerv raubten, wenn sie mitten im Abteil fangen spielten oder die ganze Zeit quengelten. Auf dieser Fahrt hatte ich jedoch Glück gehabt, denn bisher habe ich noch kein einziges Kind gesehen oder gehört. Das lag daran, dass ich erster Klasse fuhr. Dass ich nicht früher auf diese Idee gekommen war! Anfangs dachte ich, dass nur reiche und vornehme Menschen säßen, doch es waren hauptsächlich ältere Pärchen und Geschäftsleute. Und die Dame, die mir gegenüber saß. Sie sah gar nicht so reich aus, aber sie hatte etwas Edles und Adeliges an sich. Auf dem freien Platz rechts von ihr, hatte sie eine Handtasche aus Krokodillederimitat liegen. Oder war sie echt? Ich kannte mich da nicht so aus. Was jedoch richtig wertvoll aussah, war ihre Frisur. Ihre halb hochgesteckten Haare saßen perfekt und wurden von einer perlenbesetzten Klammer zusammengehalten. Es sah so perfekt aus, als wäre es eine Perücke. Oder einfach nur mit viel Geschick gemacht worden. Wenn man genau hinsah – und das tat ich beileibe – konnte man sehen, dass sich ein paar einzelne Strähnen schon lösten und auch die Farbe schon herauszuwachsen begann. Unter dem gleichmäßigen, goldbraunen Farbton kam ein fahles Grau-Braun zum Vorschein. Ich schätze sie auf Ende vierzig. Auch, wenn sie mit Make-up versuchte, ihr Alter zu kaschieren, sah man trotzdem die hartnäckigen Fältchen um ihre Augen und Mundwinkel. Sie schien nicht eine von denen zu sein, die von den modernen Anti-Aging Produkten Gebrauch machte. Geldmangel? Ich suchte nach weiteren Indizien und bemerkte, dass sie nur wenig Schmuck trug. Sie hatte eine einfache goldene Kette an, an der ein kleiner, undefinierbarer Anhänger hing, und eine goldene Armbanduhr. Vielleicht war es ihr auch einfach zu gefährlich, sich auf einer Zugfahrt allzu sehr zu schmücken. Unauffällig schaute ich weiter, ob ich noch etwas entdeckte, was auf ihre Persönlichkeit schließen ließ, als sie auf einmal, viel zu laut wie mir schien, ihr Buch zuklappte. Sie stand auf und blickte für einen kurzen Augenblick erhaben auf mich herab. Ich war ein wenig eingeschüchtert von ihrem Blick und konnte mir gut vorstellen, dass sie sehr streng war. Oder einfach genervt von mir? Sie wand sich elegant aus ihrem Sitz und schritt aus dem Abteil hinaus. Das Ganze war so schnell und ohne Vorwarnung gekommen, dass ich richtig enttäuscht war. Aber sie würde ja wieder kommen, beruhigte ich mich. Ich brauchte schließlich eine Beschäftigung für die nächsten zwei Stunden, die mir noch bevor standen und noch mehr so überaus interessante Fahrtgäste würden sicherlich nicht mehr zusteigen. Sie war bestimmt einen Happen essen gegangen. Ob sie Champagner bestellte? Seufzend drehte ich mich wieder zum Fenster und versuchte etwas in dem grau-schwarzen Nichts auszumachen. Meine Gedanken wanderten weiter, fort von der fremden Dame. Ich dachte daran, ob sie sich freuen würden, mich zu sehen. Es war fast ein Jahr her, dass ich meinen Patenonkel und seine Familie besucht hatte. Ob ihr vierjähriger Sohn mich noch kannte? Ich hatte ihm sogar noch Schokolade am Bahnhof gekauft. Ich mochte die Familie sehr gern, doch seit sie fortgezogen waren, sah ich sie nur noch selten. Hoffentlich hörte es bald auf zu regnen! Ein lautes Knurren ließ mich aus meinen Gedanken auffahren. Das war eindeutig mein Magen, der Hunger meldete. Ich wollte jedoch warten, bis die Dame wieder zurück war, denn ich fühlte mich ein wenig verantwortlich für ihre Sachen. Als ich jedoch einen Blick darauf warf, um mich zu vergewissern, dass noch alles da war, fiel mir auf, dass ihr dickes Buch einen französischen Titel trug. Vielleicht war sie ja Französin? Ja, das würde zu ihr passen. Das wurde immer spannender! Wenn sie tatsächlich Französin war, wohin fuhr sie und woher kam sie? Schade nur, dass ich sie nicht einfach fragen konnte. Nicht nur, weil ich kein Wort französisch sprechen konnte, nein, ich hätte auch nie den Mut aufgebracht, sie anzusprechen. Ich ließ ein paar Minuten unentschlossen verstreichen, bis ich mich schließlich erhob, um meine Reisetasche herunterzuholen. Solang die Dame ohnehin nicht hier war, konnte ich auch getrost ein wenig Musik hören oder lesen. Eigentlich hatte ich mir das Buch für die Rückfahrt aufgehoben, da diese mir immer viel länger vorkam, aber ich konnte mir ja ein neues Buch kaufen. Umständlich stopfte ich die Tasche wieder in das viel zu enge Gepäckfach über den Sitzen und machte es mir auf dem Erste-Klasse-Sitz so gemütlich wie möglich. Einmal angefangen zu lesen, bekam ich kaum etwas um mich herum mit. Da konnte ich die Dame gut nachvollziehen! Lang hielt ich es jedoch nicht aus, denn mein Magen knurrte nun unentwegt. Ich beschloss, noch fünf Minuten zu warten. Wenn sie dann nicht wieder zurück war, musste ich ihre Sachen wohl dem Schicksal überlassen. Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, kam sie jedoch wieder. Sie roch nach teurem Parfum und hatte noch einmal frisches Make-up aufgelegt. Vielleicht stieg sie bald aus? Sie sah mich wieder mit ihrem skeptischen Blick an und warf einen argwöhnischen Blick auf ihre Sachen. Ich sah nur entschuldigend zu ihr hoch, doch sie war schon wieder ganz mit sich beschäftigt, also stand ich auf und wankte ungeschickt in den Speisewagen. Ich fragte mich, wie sie mit ihren hochhackigen Pumps wohl so elegant laufen konnte, doch auch darauf würde ich wohl keine Antwort bekommen. Ich suchte mir einen bequemen Sitzplatz und bestellte eine Cola und ein Käsesandwich. Ich hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als hätte ich den Duft ihres Parfums in der Nase gehabt, doch ich konnte mich auch getäuscht haben. Nach meinem Snack machte ich mich schwankend wieder auf den Weg in mein Abteil. Dort saß meine unbekannte Dame wieder ganz stolz und kerzengerade und las in aller Seelenruhe unerschütterlich ihr Buch. Auch ich wollte noch ein wenig lesen, doch mir fehlte die Lust dazu. Ich beschloss, ein wenig die Augen zu schließen und entspannen. Zugfahren machte müde. Ich hörte dem gleichmäßigen Summen des fahrenden Zuges zu. Ich sah die Dunkelheit vor meinen Augen und spürte, wie mein Körper immer schlaffer wurde. Ein angenehm wohliges Gefühl überkam mich und schließlich bekam ich gar nichts mehr mit. Das nächste, was ich dann wieder mitbekam, war die schnarrende Stimme des Lokführers, die durch den Zug tönte: „Endstation, alles aussteigen bitte, der Zug endet hier!“ Ich schrak hoch und war im ersten Moment einfach nur verwirrt. Ich war tatsächlich eingeschlafen und hätte meinen Bahnhof beinahe verpasst! Zum Glück war hier Endstation! Ich warf einen eiligen Blick auf den Platz mir gegenüber, während ich meine Sachen zusammensuchte und musste enttäuscht feststellen, dass die Dame nicht mehr da war. Wahrscheinlich war sie einfach schon zur Tür vorgegangen. Ich rappelte mich hoch und holte meine Tasche herunter. Schnell packte ich das Buch und den Walkman ein und eilte zur Tür. Der Zug hatte soeben gehalten und das Gedränge war groß. Die fremde Dame konnte ich nirgends entdecken. Auch als ich schließlich draußen war und mich umblickte, sah ich sie nirgends. Dafür kam meine Patentante auf mich zu gerannt und umarmte mich. Auch die beiden Kinder kamen angestürmt und sprangen um mich herum, während mein Onkel meine Tasche nahm. Es war ein schönes Wiedersehen und sogar der Kleinste hatte mich noch erkannt. Bis zum Abend verschwendete ich keinen Gedanken mehr an die Dame aus dem Zug. Erst, als ich abends auf dem Gästebett saß und meine eigene Halskette ablegte, fiel sie mir wieder ein. Ich fragte mich, ob ich das alles nur geträumt hatte. Ob ich schon viel früher eingeschlafen war und mir diese Dame nur fantasiert habe. Seufzend legte ich mich. Ich würde es wohl leider nie herausfinden. Wenigstens war die Zugfahrt angenehmer gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte. Und wer wusste, wem ich auf der Rückfahrt begegnen würde?