Auf dem Weg zu Harry

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 19.07.2007, 08:53

Auf dem Weg zu Harry


Dem Besuch der Lesungen von Herrn Rowohlt haften anscheinend immer noch reak- bzw. revolutionäre Züge an; anders kann ich es mir nicht erklären, wieso ich mit einem Doppelwhopper im Bauch, einer Dose KöPi und einem nulldreifünfer Gebinde Delikatess-Ouzo in der Jackentasche die S1 nach Bochum Langendreer bestieg. Seit dem Abflachen meiner Black-Sabbath-Phase und der allmählichen Architektwerdung hatte ich tunlichst das Ketchup-Kleckern in Bahnhofshallen und Anreißen von Ringpull-Verschlüssen in öffentlichen Verkehrsmitteln vermieden; heute aber war ich wild entschlossen, es wieder zu tun. Nüchtern zu Harry? Ne! Ich gehe ja auch nicht mit Socken in die Wanne.

    Im Zug verließ mich aber zwischenzeitlich mein Mut. Die ohnehin schon pikiert dreinblickende Dame neben mir und der junge dynamische Geschäftsmann mit der glattrasierten Dutzendfresse gegenüber strahlten ein solches Etepetete aus, dass es meiner Hand nicht gelang, das so dringend benötigte Bier aus der Tasche zu angeln. Erst, als in Essen-West eine offensichtlich stark alloholisierte Frau mit heruntergekommener und meilenweit nach Hering riechender Takelage durchs Abteil schwankte und die Mitreisenden um Almosen anschnorrte – worauf sich der Geschäftsloden zu einem entrüsteten Kopfschütteln und einem nicht minder empörten "tztztz" hinreißen ließ –, war es mit meiner Geduld vorbei. Ich ahmte sein Geräusch mittels des Bierdosenverschlusses nach, und ließ das kühle Nass deutlich hörbar in meinen Rachen gluckern. Die Heringsfrau erkannte in mir trotz trüber Augen offenbar einen Ihresgleichen und ließ mich als Einzigen unangeschnorrt. Die Pik-Dame neben mir wusste nun erst recht nicht mehr, wo sie hingucken sollte, und stieg vorsichtshalber an der nächsten Station aus. Als ich nun begann, den Kohlensäureüberschuss – mit ähnlichem Geräusch, ksssss – durch die Vorderkronen entweichen zu lassen, wurde es auch dem Luden zuviel; für ihn war in Essen-Steele Schluss. Die ganze Sitzgruppe für mich allein. Ich erwog kurz, schonmal das Anisvergorene zu verköstigen, besann mich aber eines Besseren. Zwei Stationen ohne schafft man immer. Der erste Schluck gehört grundsätzlich den Kameraden.

    Und da waren sie auch schon. Ich war zwar rechtzeitig, aber am falschen Ende dem Zug entsprungen. Sie erkannten mich aus der Ferne nicht sofort, weil ich - was sie nicht wissen konnten - zufällig gleichzeitig mit Harry auf die Idee gekommen war, mein Haupthaar zu scheren. Als ich aber winkte und mit dem Ouzo wedelte, war keine Verwechslung mehr möglich.

    Herby hustete anstandsgemäß nach dem ersten Schluck und verweigerte dann beharrlich jegliche weitere Aufnahme dieses Lustspenders; Jürgen war da schon etwas aufgeschlossener. Dafür versuchte er danach, durch den Briefschlitz eines autonomen Punkerladens, der gegenüber dem Veranstaltungsort lag, ins Innere desselben zu gelangen, weil er dort die Pulle Pils zu sechzig Cent im Frei-Haus-Verkauf wähnte. Sein Vorhaben gab er aber erst dann auf, als er erkannte, dass es sich bei der Beleuchtung nicht um die des Tresens und bei der im Halbdunkel nur undeutlich zu erkennenden Figur nicht um dem vermeintlichen Wirt, sondern lediglich um den Weihnachtsbaum handelte, von dem keinerlei Ausschankgebahren ausgingen.

    Also Fiege-Pils mit Plopp-Verschluss vonner Bude, und Fladenbrot mit gegrillter Sucuk und Sabbersoße vom Türken. Das ist heute schon das zweite Mal, dass ich alles vollkleckere. Als ich aber Jürgens schafskäseundcaciktapezierten Mantel betrachte, relativiert sich mein Schamempfinden. Und in Bochum kennt mich eh keine Sau. Jetzt aber schnell in die Halle, Harry harren.

    In der Pause - nach etlichen Kannen aus der Tüte und Gezapften von der Theke - lege ich mich noch kurz mit dem Hallenvorsteher und Kulturotto an, der uns wegen des mitgebrachten und somit verbotenen Bieres zur Rede stellt. Die Pullen sind für zuhuhausehause, weil ich gleich am Bahnhof nichts mehr bekommekomme! Er glaubt mir einfach nicht. Vor die Presse zerren werde ich ihn, jawohl! Arroganter Affe! Hab hier schon zwanzig Euro versoffen in dieser überteuerten Kulturbude! Und das bereits in der ersten Halbzeit! Ich frage ihn nach seinem Namen und kritzele ihn in mein schwarzes Notizbuch; das schindet Eindruck. Er verschwindet. Erstmal ne Pulle aufmachen.

    Hab dann später im Zug die frisch erworbene Lese-CD mit Harry und Wiglaf verloren. Und dem Schaffner erklärt, dass ich gerade von meiner Scheidung käme und deswegen ausnahmsweise im Abteil rauchen müsste, worauf er mich tatsächlich gewähren ließ. Und beinahe den Heimatbahnhof dösend überfahren. Aber das ist eine andere Geschichte.

    Denn jetzt muss ich erstmal zuhören. Bevor sisch mei Skrotum au no zusammeziehe tut. Prost, Harry!
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 29.11.2021, 13:50, insgesamt 5-mal geändert.
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Herby

Beitragvon Herby » 19.07.2007, 12:36

Hi Tom,

mir war nicht mehr gegenwärtig, dass schon Deine Hinfahrt derart feucht - fröhlich verlief. Ansonsten ist Dein Text aufs Beste dazu angetan, in mir Erinnerungen an einen wirklich tollen Abend wachzurufen, ja, der von mir aus noch Stunden hätte dauern können. Und Deine "Wegbeschreibung" hat mir heftig Lust gemacht, mal meine Version dieses Abends zu Papier bzw. zu Taste zu bringen. :engel:

Was las ich weiter oben .... Ouzo ein Lustbringer?? An den Anstandsschluck erinnere ich mich noch sehr genau - und es schüttelt mich heute noch in der Rückschau wie an jenem Tag in echt! Brrrrr.... ein wahrlich grauslich Gesöff!!!

Zwei Anmerkungen noch zum Text:

Und da waren sie auch schon.


Wenn ich richtig gelesen habe, wird bis zu dieser Stelle und auch in diesem Absatz nicht klar, wer "sie" ist, die Aufklärung kommt erst im folgenden Absatz. Vielleicht kannst Du da noch etwas nachbessern, z. B. zu Beginn des Textes.

Und an folgender Stelle trügt Dich Deine Erinnerung:

Und dem Schaffner erklärt, dass ich gerade von meiner Scheidung käme und deswegen ausnahmsweise im Abteil rauchen müsste,


Wie Du mir am folgenden Tag telefonisch mitteiltest, warst Du von einem jählings eingetretenen Sterbefall nervlich zerrüttet, woraufhin der Zugbegleiter Dich unter Kondolenzien gewähren ließ! ;-)

Liebe Grüße
Herby

Edit: Meine erste Anmerkung zum Text hat sich erledigt, Tom. Ich habe NICHT richtig gelesen - sorry!
Zuletzt geändert von Herby am 19.07.2007, 12:49, insgesamt 1-mal geändert.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 19.07.2007, 12:46

Hi Tom,

Gut geschrieben. Es macht immer wieder Spaß sich durch Deine Schreibe zu lesen. Peinlich, ausgerechnet meine Wenigkeit relativiert Dein Schamempfinden.

Eine Anmerkung, meine Aktion mit dem Briefschlitz kapiert so kein Mensch. Ich sah Licht und dachte, es wäre jemand vor Ort, aber es war lediglich vergessen worden, die Beleuchtung des Weihnachtsbaumes auszuschalten.
"Köpfschütteln" ist doch sicher ein Tippfehler.

Bis denne

Jürgen

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.07.2007, 13:06

Hi Tom,

köstlich geschrieben und offensichtlich seeehhrr authentisch *lach*

Kleine Anmerkungen:
eine offensichtlich stark alloholisierte Frau


alkoholisierte Frau (oder ist "alloholisierte" Absicht?)

Geschäftsloden zu einem entrüsteten Köpfschütteln und einem noch entrüstetern "tztztz" hinreißen ließ


Geschäftsluden und "entrüsteteren" müsste es heißen (schreckliches Wort und Zungenbrecher zugleich, vielleicht fällt dir ein Besseres ein?)

wurde es auch dem dem Luden zuviel


zwei Mal "dem"

mit Plopp-Verschluss vonner Bude,


dann würde ich oben im ersten Absatz auch schreiben: mit Socken inne Wanne (statt in die Wanne)

Mit Vergnügen gelesen,-)
Saludos
Mucki

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 19.07.2007, 15:06

Hehehe....

@Herby:
Naja, ob man bei einer einzigen Flasche Bier schon von 'feuchtfröhlich' sprechen mag, ist sicher eine Standpunktfrage :o) Bei uns heißt das ganz nüchtern 'Fahrbier' und ist eigentlich Standard.
Den 'Todesfall' habe ich geändert. Nicht weil ich mich dieser morbiden Lüge geschämt hätte, aber eine Scheidung kam mir hier einfach runder vor. Kleine literarische Freiheit. Musst doch nicht immer alles petzen, Mönsch!
Aber es wäre wirklich interessant, deine Version vom Abend zu lesen. Denn man los!

@Jürgen:
Tja, solange der Autor sich selbst nicht davon ausnimmt, kann wohl jeder sein Fett wegbekommen (auch wenn's aufm Mantel ist). Muss uns Literaten wirklich was peinlich sein? Ich glaube nicht. Von nix kommt nix. :o)
'Köpfschütteln' ist natürlich vertippt. Kommt davon, wenn man auf winzigen Computern in schummrigen Etablissements tippt.
Die Stelle mit dem Briefschlitz ist natürlich eine Übertreibung, die ich gerne so ließe. Ich habe aber mal den darauffolgenden Nebensatz dergestalt geändert, dass die Sinnestäuschung etwas klarer wird. Ich hoffe, das schnallt man jetzt?

@Mucki:
'Alloholisiert' ist eine Phonetik und somit sehr wohl beabsichtigt. Sag's mal laut :o)
Der 'Geschäftsloden' ist eine Anlehnung an den typischen Mantel - ein Wortspiel - und führt sprachlich erst am Ende des Absatzes zum 'Luden'. Ist auch gewollt.
'Dem dem' natürlich nicht. Übereifer!
Das mit dem Ruhrdeutsch 'inne Wanne' usw. mag ich nicht überstrapazieren, weil man dann schnell auf die Klippe der Mundarttexte gerät, welche ich ziemlich glitschig finde. Dann würde ich lieber das 'vonner' wieder rausnehmen. Passt vielleicht wirklich nicht hier rein - Verzeihung - hier hinein.
Bei 'entrüsteteteterten' habe ich mir echt einen abgebrochen. Muss ich auch ändern, stimmt.

@alle:
Finde ich prima, dass ihr so schnell Hand anlegt und den Letztschliff macht. Ich stehe etwas in der Bredouille mit der Nachlieferung von Kolumnen, und da dies hier der bislang einzige Text in dieser Richtung ist, muss der bis Sonntag feddich sein. Ist sowieso mehr oder weniger rasch runtergeschrieben, aber es muss ja nicht immer was Hochtrabendes sein, nöch? Sicherlich könnte man noch die eine oder andere Wendung verfeinern, aber zum endlosen Textschrauben fehlt mir einfach im Moment die Geduld. Außerdem liegt der Text schon ewig auf Eis, und wen ich ihn jetzt nicht raustue, wird's nie mehr was damit.

Jedenfalls besten Dank fürs Hingucken, und es freut mich natürlich, wenn's ein bisschen Spaß gemacht hat.

Tom
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.10.2007, 19:02

Lieber Tom,

da ich doch um die Bande zwischen dir und Harry weiß: Gestern im Zug habe ich jemandem gegenüber gesessen, der die ZEIT las und da entdeckt, dass Harry Rowohlt dort wohl eine wöchentliche Sparte hat, genannt: Pooh's Corner! Vielleicht was für dich? Da ich dahcte, dass du mal was zu Rowohlt in die Fundgrube gestellt hast (war aber Malmi), fand ich diesen Text hier und hänge dass hier einfach mal unten dran ohne aber noch weiter unten dranzuhängen, dass mich wundert, dass ich zu diesem Text ie was geschrieben habe, denn er ist erstens köstlich ("Dutzendfresse") und zweitens war ich auch schon mal (laaangweilig nüchtern) auf einer Lesung beim Harry. Und ich bin auch nicht bis zuletzt geblieben .-( (bist du denn? wieso ist das nicht Thema des textes?? @sagenumwoben doch).

Jedenfalls genossen!

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 30.10.2007, 19:11

LieLi,

Es gibt ein ganzes dickes Buch mit Harrys Zeit-Kolumnen 'Pooh's Corner' von früher. Hat er wieder damit angefangen? Ich lese die Zeit so selten in letzter Zeit. Keine Zeit.
Da werde ich mal online gucken. Danke für den Tipp.

Die Lesung ist nicht Thema dieses Textes, weil ich so einen Text schonmal geschrieben habe, von einer anderen Lesung. Siehe 'Und ich trank Whiskey aus der Pulle mit dem Mann ...' Den müsstest du aber kennen, du hast ihn ja selbst bei unseren Kolumnen eingestellt.

Außerdem wollte, wenn ich mich recht erinnere, Gevatter Herby zu dieser Lesung noch was schreiben? Er war ja schließlich noch von Sinnen ...ähm .... mit Sinnen ...oder so ...

Jedenfalls danke für das späte Komplomint.

Tom
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 17.06.2015, 12:35

R.I.P.

Kommt ja selten vor, aber ich könnte echt heulen.
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 17.06.2015, 13:25

"Mein Neurologe hatte mir gesagt, ich dürfe mir vier Mal pro Jahr gepflegt die Kante geben". Seitdem habe ich natürlich eine Heidenangst, dass ich den Termin verpasse ..."
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 17.06.2015, 13:40

Ich finds auch sehr traurig.

A.


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