Die Madonna von Coìn

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Sam

Beitragvon Sam » 05.12.2007, 06:44

Die Madonna von Coìn


Zwischen Coìn und Alhaurin, auf einem kargen, von alten Olivenbäumen bewachsenen Hügel, liegt das Kloster San Angel. Eine unscheinbare Ansammlung sandgelber Gebäude, die sich um eine mäßig imposante Kirche verteilen.
Im rechten Seitenschiff des Gotteshauses, barfüßig auf einem Sockel aus Marmor stehend, befindet sich eine reizende Marienstatue. Sie ist etwa zwei Meter groß, hält die Arme leicht ausgebreitet und den Oberkörper etwas nach vorn geneigt. Ihr Gesicht gleicht dem unzähliger anderer Marienbildnisse. Mitleidend, barmherzig, ein wenig entrückt und jener fatalistischen Einfalt, mit der auch ihr erstgeborener Sohn gerne dargestellt wird. Ein bis in die kleinsten Falten des langen Gewandes hinein kunstvoll gestaltetes Schnitzwerk aus Zedernholz. Es gibt Personen, die behaupten, sie sei die schönste Marienfigur zwischen Sevilla und Alicante.

Im Vatikan interessiert diese Statue niemanden. Wohl aber der Umstand, dass aus dem Kloster San Angel in den letzten siebzig Jahren mehr als ein Dutzend Mönche spurlos verschwunden ist. Um diese Vorkommnisse zu untersuchen, wird Pater Ezequiel nach Andalusien entsandt. Als Spezialist für Übersinnliches und Unerklärliches, aber auch für Grobes und Irdisches, ist er immer zur Stelle, wenn sich irgendwo ein vermeintliches Wunder ereignet. Oder, wenn unter den Gottesdienern ein Verbrechen geschah oder geschehen muss.

Pater Ezequiel verbringt über einen Monat in San Angel, führt Gespräche, untersucht und forscht. Das Verschwinden der Mönche jedoch bleibt ein Rätsel. Jeden Abend nach der Vesper betet er in der Kirche. Meist wirft er sich vor der Marienstatue nieder.
So auch in der letzten Nacht seiner Anwesenheit in San Angel. Als er nach seiner Gewohnheit die Fußspitzen der Statue küssen will, entdeckt er eine Lache zwischen ihren Füßen. Er taucht einen Finger in die Flüssigkeit und leckt ihn ab. Blut, ohne Zweifel. Der ihm vertraute Geschmack von Eisen und Rosshaar. Aber auch etwas Fremdes darin, wie eine Melodie, die aus der Ferne versucht, das Schlagen einer Axt zu übertönen.
Pater Ezequiel schiebt seine Hand langsam unter das Gewand der Statue. Er spürt die Feuchtigkeit des Blutes und Wärme. Behutsam tastet er sich vor, dem Rinnsaal nach, das Bein hinauf bis zum Knie. Ein eigenartiger Geruch strömt in seine Nase. Nur vordergründig der von Blut und Ausfluss. Dahinter etwas, das ihn an Erde erinnert und an die Haut seiner Mutter und seiner Schwestern.
Pater Ezequiel folgt dem Duft, presst sein Gesicht in das Blut, öffnet den Mund und lässt seine Zunge wandern, vom Stein zum Knöchel, zur Wade, der Spur folgend, sie aufsaugend bis hin zur Quelle. Beinahe vollständig ist er schon unter dem Gewand der Statue verschwunden. Sein Geschlecht erhebt sich, und das erste Mal scheint es recht zu sein. Genauso recht, wie diese Mitte, in die er sich mit seiner Nase drängt. Seine Zunge folgt dem Blut, sucht immer wieder diesen Geschmack einzufangen, leckt die glattrasierte Haut, tastet sich weiter bis zur bitter schmeckenden Rosette des Afters, aus der er hofft, es möge Kot dringen, um diesen zu essen, während er sich mit eigener Hand eine Befriedigung verschafft, die so zu verspüren er sich niemals erträumt hatte. Dabei schließt sich das Gewand der Statue um seinen Körper und es ist unmöglich zu sagen, ob das Letzte, was er verspürt jener Orgasmus ist oder einfach nur eklige Todesangst.
Zuletzt geändert von Sam am 17.12.2007, 07:03, insgesamt 1-mal geändert.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 12.12.2007, 22:14

Lieber Thomas (der Turm),

Aber die weichgespülten Reaktionen hierauf, gerade von Frauen, haben mich schon erstaunt. Ich weiß nicht, ob ich hier im Salon richtig bin, ich schau mir mal die Reaktionen an, dann gehe ich wahrscheinlich doch wieder.

Thomas, ziemlich ratlos, und auch angewidert


PS Ich hab mich entschieden, bitte streicht mich aus der Mitgliederliste. Tom


Deine Reaktion erstaunt mich. Und es macht mich betroffen, wie schnell Du die Segel streichst. Ein Text unter vielen stößt Dich ab. Das ist Deine Meinung und Dein gutes Recht. Vielleicht sind Deine religiösen Gefühle verletzt. Dann schreibe das ruhig. Der Text ist sicher alles andere als leicht verdaulich. Aber deshalb wirklich gleich gehen? Überleg´s Dir bitte nochmal.

Mir scheint, Du siehst in dem Text nur Pornographie. Vergiss bitte nicht, dass der Priester in der Statue verschwindet, von ihr verschluckt wird. Da steckt m. E. was anderes hinter als Effekthascherei.

Schönen Abend

Jürgen

Sam

Beitragvon Sam » 13.12.2007, 05:24

Hallo TomderTurm,

dass du deine Meinung zum Text äußerst, finde ich sehr gut. (Ich schätze auch ablehnende Stellungnahmen - siehe smile). Nur auf andere draufzukloppen, weil sie deine Meinung nicht teilen, ist ein bisschen daneben. Aber Nicole und Jürgen haben dazu ja schon sehr gute Stellungnahmen geliefert.

Und was den Ekelfaktor dieser Geschichte angeht, so sind weder Menstruationsblut auflecken noch Kotessen ein Anleihe aus Bahnhofskinofimen, sondern aus der Literatur selber:

Ersteres: Philip Roth - Das sterbende Tier
Zweiteres: Thomas Pychon - Die Enden der Parabel

Da gibt es bestimmt noch einige mehr. Eine menstruierende Madonna gab es auch schon in der South-Park Serie.

Meiner Meinung nach, darfst du auf den Text schimpfen soviel du willst. Ihn und die Reaktionen anderer darauf aber als Anlass zu nehmen, den Salon zu verlassen, finde ich, ehrlich gesagt extrem kindisch.

Mit dem Streichen aus der Mitgliederliste würde ich übrigens warten. Denn die meisten kommen doch wieder zurück. Bist du erst einmal gelöscht, musste du schauen, wie du die Salonampel wieder auf Grün bekommst. ;-)


Hallo Nicole,

mit Schrecken habe ich festgestellt, dass ich auf einen Punkt deines ersten Kommentare nicht eingegangen bin. Den, ob bei der Beschreibung der Madonna nicht ein "von" fehlt. Ich glaube, der Satz funktioniert grammatikalisch auch so, erhält aber durch den Satzbau eine Art von Doppelbedeutung. Fatalistische Einfalt des Darstellenden und der Dargestellten. Vielleicht irre ich mich da aber auch.

Herzlichen Dank für deine beiden offenen und geistreichen Stellungnahmen zu dem Text.


Hallo Jürgen,

auch dir nochmals herzlichen Dank!


Liebe Grüße

Sam

Sam

Beitragvon Sam » 13.12.2007, 07:00

Hallo liebe Leser,

vielleicht noch ein Gedanke zum Thema Ekel in dieser Geschichte:

Natürlich ist es "ekelig", was hier beschrieben wird. Dessen war ich mir beim Schreiben durchaus bewusst. Man beachte aber bitte den letzten Satz der Geschichte:
Dabei schließt sich das Gewand der Statue um seinen Körper und es ist unmöglich zu sagen, ob das Letzte, was er verspürt jener Orgasmus ist oder einfach nur eklige Todesangst.

Ich verwende hier bewusst das Adjektiv eklig, aber in ganz anderem, ich erdreiste mich zu sagen, ungewöhnlichen Zusammenhang (ich habe die Kombination "eklige Todesangst" noch nie gelesen- gibt man es bei Google ein, kommt gleich der Link zu diesem Text - was aber natürlich noch nichts heißt).
Hier findet also eine Umkehrung statt, zwischen sagen wir "natürlichen" Regungen (Todesangst) und "unnatürlichen" (Kot essen wollen z.B.). Daraus kann der Leser seine eigenen Rückschlüsse darüber ziehen, inwieweit auf dem Gebiet der Religion ähnliche Umkehrungen zu beobachten waren und sind.

Ich erwähne das nur, um den Vorwurf der Effekthascherei mal ein wenig zu entkräften.

Liebe Grüße

Sam

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.12.2007, 12:14

Moin Sam.

Erstmal eine kurze Fehlerkorrektur:

Um diese Vorkommnisse zu untersuchen, wird Pater Ezequiel nach Andalusien entsannt entsandt

Tja, ich habe jetzt alle Kommentare und den Text gar zwei mal gelesen, und bleibe unentschieden zurück. Ich versuche zu verstehen, was für dich dieser Pragmatismus bedeutet.
Aber selbst, wenn ich dies mit einbeziehe, gefallen mir nicht alle Sprachlichen Sprünge, zum Beispiel:
Meist wirft er sich vor der Marienstatue nieder.
tastet sich weiter bis zur bitter schmeckenden Rosette

Das ist mir zu umgangssprachlich, als dass es mit dem Rest in Einklang zu bringen wäre.
Auch finde ich die Sache mit dem Kot - und stimme da Lisa zu - eine Schüppe zu viel. Nicht aus ästhetischer, sondern aus dramaturgischer Sicht. Es entsteht dadurch nämlich immer noch keine wirkliche Überzeichnung bzw. Übertreibung, da man dem Text bis zum Schluss Glauben zu schenken geneigt ist.

Insofern kann ich in dem Text auch keine wirklich kritische oder gar satirische Ader erkennen. Dazu reicht die Tasache nicht aus, dass einem Geistlichen mal ein Horn wächst bzw. ihm einer flöten geht. Für mich ist das eine 'phantastische' oder gar 'erotische' Erzählung. Oder beides.

Dazu passte aber dann das Ende nicht. Dann müsste Herr Ezequiel selig und erfüllt abtreten.
Hinter deine Intention mit der 'ekligen Todesangst' komme ich leider immer noch nicht.


@TomderTurm:
Ich finde nicht, dass dieser Text in irgendeiner Weise religiöse Gefühle der freien Welt verletzt. Das alleinige Vorkommen von erotischen oder fäkalerotischen Gefühlen bzw. Ausdrücken in Zusammenhang mit Geistlichen kann dafür kein Indiz sein. Und wer die Existenz von erotischen Gefühlen welcher Prägung auch immer bei ebendiesen Menschen - denn um solche handelt es sich auch bei im Zölibat lebenden - leugnet, der hört die Glocken auch nicht läuten.

Natürlich ist es deine eigene Entscheidung, ob du im Salon bleibst oder nicht, aber wenn hier kein Platz mehr bleibt für unterschiedliche Sichtweisen - zumal in der hiesigen Rubrik, und du wegen anderslautenden Meinungen die Segel streichen willst, zeugt das nicht gerade von Diskussionskultur.

DerAndereTom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Beitragvon Thomas Milser » 13.12.2007, 13:14

Nicole hat geschrieben:Keine Ahnung, ob es hier entsprechende Benimmregeln gibt- wenn ja, sind sie mir noch nicht bekannt.


Werte Nicole: Und ob es die gibt!

Darf ich höflich auf die grün markierte Zeile in der ersten Rubrik der Indexseite "Vor dem Registrieren bitte unbedingt das Regelwerk lesen!" - dort unter 'Regelwerk' - verweisen?

Auch zu erreichen über diesen Link:

http://www.blauersalon.net/online-liter ... .php?t=163

EinfachNurTom :o-}
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Nicole

Beitragvon Nicole » 13.12.2007, 13:33

Werter Herr Milser,

seid bedankt für diesen Hinweis!

Nun, diese Zeilen sind mir nicht entgangen, weder vor, noch nach meiner Registrierung. Wenn es darüber hinaus nichts gibt, was ich wissen muß (ich dachte da mehr an Benimmregeln, wie ein Herrn Knigge sie aufstellt hat), ist es ja gut.

Kratzfuß, Nicole
Zuletzt geändert von Nicole am 13.12.2007, 13:47, insgesamt 1-mal geändert.

Niko

Beitragvon Niko » 13.12.2007, 13:34

hallo sam!
selten lese ich ja nun in der prosa. aber dein titel hat mich doch nach längerem überredet, mal reinzulesen.
ich finder gerade die steigerung vom etwas nüchternen über das detailliert erzählende bis hin zur beschreibung von extase gut gelungen. der anfang fesselt trotz aller nüchternheit, weil er mich gleich fragen lässt, was es wohl mit der madonna auf sich hat und dass ich das unbedingt jetzt wissen will.
den grammatikalischen einwand von nicole: Mitleidend, barmherzig, ein wenig entrückt und jener fatalistischen Einfalt, mit der auch ihr erstgeborener Sohn gerne dargestellt wird.
dem müsste meiner meinung ein "mit" oder "voll" oder ähnliches vor "jener" eingeschoben werden. oder war das von dir schon abgehandelt? dann hab ich´s überlesen.
tom: deine überaus heftige reaktion kann ich nicht ganz nachvollziehen. zum einen musst du den kram nicht lesen, wenn du nicht magst. wenn du quasi da reingeschliddert bist, dann könnte man es auch einfach abhaken nach dem motto" nicht mein ding, sowas muss ich nicht haben" und es gut sein lassen. der text löst anscheinend etwas in dir aus, dem du auf den grund gehen solltest. zwar wird es am ende derbe und auf die ein oder andere stelle könnte ich auch getrost verzichten, aber es geht doch nicht um einzelne stellen, sondern darum was der autor in seiner gesamtheit sagen will. daran kann man meckern, wenn man will. unsd dann im detail nachhaken warm, wieso, weshalb.
so kommen mir deine harschen reaktionen inclusive löschungswunsch sehr überzogen vor.
lieben gruß: Niko

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 13.12.2007, 13:39

Huch, Niko,

jetzt dachte ich kurz, du meintest mich... Der Name 'Tom' scheint sich gerade etwas zu inflationieren :o) Oder auch nicht ...

Hatte ich erwähnt, dass es mich tierisch freut, deine Rauchervisage wieder zu sehen?

EinfachNurTom
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 14.12.2007, 06:06

Moin Sam.

Sam hat geschrieben:Der Erzähler ist in erster Linie Kulissensteller, und, wenn er gut ist, Fallensteller. Am abträglichsten wäre es, wenn man sofort merkt, in welche Richtung einen der Erzähler stupsen will. Das ist dann eine harmlose Form von Meinungsfreiheitsberaubung, die der Leser meist mit Misfallen quittiert.

Ich denke, ich habe Deine Denkweise über "Wertung" und Literaturqualität nun weitgehend verstanden. Danke für Deine Geduld. Bild

Außerdem glaube ich jetzt auch zu verstehen, warum Du Expressionismus nicht besonders magst: Expressionismus ist wertend, er wird aufgrund seiner Spontaneität nicht bereinigt von emotionalen, also wertenden, Symbolen. Du hingegen ziehst es vor, einen Text sorgfältig soweit durchzukämmen, bis fast nur noch die reine Sachlichkeit übrig bleibt. Umso mehr Interpretationen werden dadurch den verschiedenen Lesern verfügbar. Arams Text "kein betreff" hat Dir gefallen, und zwar vermutlich gerade deshalb, weil Aram, so vermuten wir, diese Bereinigung emotionaler Fusseln bis an die Grenze trieb. Nun frage ich mich natürlich, wie weit kann man die Abwesenheit von emotionalen wertenden Symbolen treiben, ohne zugleich den Leser durch diese Gefühlskälte auf Dauer zu langweilen. Man kann ja nicht sämtliche Buchregale nur mit skelettösen Kulissen besetzen.

Wenn Du sagst, "Der Fänger im Roggen" von Salinger (kenne ich nicht) sei in seiner extremen Subjektivität besonders reizvoll, nehme ich an, dass Du durchaus nicht nur sachliche wertfreie Literatur für gute Literatur hälst. (Das wäre ja auch furchtbar, wenn es für rotzfreche Literatur keine Anerkennung mehr geben würde.) Das "Werten" alleine ist also noch kein hinreichender Grund, wenn Du einen wertenden Text ablehnst. Was mich daher brennend interessieren würde: Kannst Du einen "wertenden" Text eventuell dann akzeptieren, wenn er statt aus der Erzähler- aus der Ich-Perspektive vermittelt wird? Wenn Du Deinen "Madonna-Text" in der Ich-Form schriebest, mit wertenden emotionalen Adjektiven, würde dann diese Wertung noch überheblich klingen? Nicht Wertung allein, sondern "Wertung plus Erzähler-Perspektive"; ist es diese Kombination, die einen Text für Dich überheblich macht?

(Wenn ich beispielsweise meinen Text über die "vermeintliche Ersatzbefriedigung" aus der Ich-Perspektive geschrieben hätte, aus der des Affen, dem ich mich übrigens seelisch hingezogen fühle, wie überheblich würdest Du die im Text enthaltenden Wertungen dann empfinden? -- Ich frage, wie immer, um zu lernen. Ich finde das hochinteressant.)


Cheers

Pjotr

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 14.12.2007, 08:38

Hallo Pjotr,

ich lese die Diskussion hier interessiert mit. Der "Fänger im Roggen" ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Ich kann mir kaum einen Text vorstellen, der in erster Person Singular geschrieben ist, aber Wertungen vermeidet. Mir fällt dafür kein Beispiel ein - falls es einen solchen Text gibt, ist er (als Experiment) vielleicht ganz interessant zu lesen, fordert aber bestimmt nicht zur Empathie auf, ebensowenig wie etwa ein Text aus der Sicht eines "schrägen" Erzählers (Krimi aus der Sicht des Axtmörders, zum Beispiel).

Grüße
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Sam

Beitragvon Sam » 17.12.2007, 06:34

Hallo und Tschuldigung, dass es mal wieder ein wenig gedauert hat, bis ich mich melde.



Hallo Pjotr,


herzlichen Dank für deine Antwort und deine Gedanken zum Thema Wertungen. Die bringen mich dazu, meine eigene Meinung und auch meine Aussagen zu überdenken (u.A. wie man das Wort Wertungen gebraucht).

Ich habe überhaupt nichts gegen Wertungen. Wie du richtig erwähnst, gibt es wunderbare Texte, die voller Wertungen sind. (Neben Salinger wäre da unter anderem auch Philip Roth zu nennen. In erster Linie Sabbaths Theater & Portnoys Beschwerden) Wenn der Autor sein Handwerk versteht, und die rein subjektive Erzählperspektive nicht verlässt, gefällt mir so etwas ausgesprochen gut. Voraussetzung ist hier, dass mich die Person genug interessiert, aus deren Perspektive ich die Welt zu betrachten habe. Dies aber geschieht, zugegebener Maßen, nicht sehr oft. Oder besser gesagt nicht MEHR sehr oft. Mittlerweile tendiere ich, was meine Lesegewohnheiten angeht, mehr zum faktischen und ich ziehe einen interessanten Essay einer fiktiven Geschichte vor.

In meinen Geschichten, glaube ich findet man beides. Die extrem subjektive, wertende Sichtweise (Olaf will in den Süden, Elsbeth hat ein Problem), wie auch das nüchterne, faktische (Zehn Menschen) Beides interessiert mich, beides hat seinen Reiz. Hätte ich mehr erzählerisches Talent, würde ich vielleicht einen Weg finden, der die beiden Extreme verbindet.

Aber weiter zu deiner Frage:
Kannst Du einen "wertenden" Text eventuell dann akzeptieren, wenn er statt aus der Erzähler- aus der Ich-Perspektive vermittelt wird?

und
Wenn ich beispielsweise meinen Text über die "vermeintliche Ersatzbefriedigung" aus der Ich-Perspektive geschrieben hätte, aus der des Affen, dem ich mich übrigens seelisch hingezogen fühle, wie überheblich würdest Du die im Text enthaltenden Wertungen dann empfinden?


Ich hatte es glaube schon einmal erwähnt. Mit meiner Kritik an deinem Text bezog ich mich nicht auf die Diskussionsinhalte und die Meinungen (Wertungen) die dort von den Protagonisten vorgenommen wurden. Das Problem war die Erzählhaltung die du gewählt hast. Es hätte ein unbeteiligter, rein beobachtender Erzähler sein sollen (nehme ich mal an). Diese Perspektive hast du aber nicht durchgehalten, weil der Erzähler eben nicht nur beobachtet, sondern auch erklärt und interpretiert (bewertet) hat.
Hinzu kam, dass alle Beteiligten in der Geschichte gleich geredet haben. Darin lagen meine Hauptkritikpunkte. Also nicht das Bewerten an sich, sondern wie deine Erzählperspektive angelegt war. Ein rein handwerkliches Problem, meiner Meinung nach und weniger die Frage, ob Ich-Erzähler oder nicht. Meiner Meinung nach ist ein rein beobachtender Erzähler für diese Geschicht genau richtig. Ein Ich-Erzähler oder auch ein "bewertender" Erzähler in der dritten Person müsste sich zwangläufig ein wenig mit dem Orang Utan als Moderator auseinandersetzen. Der aber wirkt gerade dadurch, dass sein Auftreten als völlig selbstverständlich hingenommen wird.

Konnte ich mich verständlich machen? Ich hoffe es. Natürlich habe nichts gegen Wertungen. Ich bewerte ja selber ständig in meinen Kommentaren und in meinen Texten. Aber solche Wertungen, oder der Anteil an Subjektivität in einem Text, ist ein Stilmittel, dass man geschickt oder ungeschickt einsetzen kann. Ob das gelingt, entscheidet mal wieder nur der Leser.

Danke für diese spannende Diskussion und deine Geduld!


Servus Tom,

Merci für das Fehlerfinden. Ich werde es nachher ausbessern.

Meist wirft er sich vor der Marienstatue nieder.
tastet sich weiter bis zur bitter schmeckenden Rosette

Das ist mir zu umgangssprachlich,

Ich möchte behaupten, dass der Ausdruck "sich vor etwas/jemanden niederwerfen" wie auch Rosette (Afterrosette) nicht umgangsprachlich sind, sondern auch in der Schriftsprache fest verankerte Beschreibungen.


Auch finde ich die Sache mit dem Kot - und stimme da Lisa zu - eine Schüppe zu viel. Nicht aus ästhetischer, sondern aus dramaturgischer Sicht. Es entsteht dadurch nämlich immer noch keine wirkliche Überzeichnung bzw. Übertreibung, da man dem Text bis zum Schluss Glauben zu schenken geneigt ist.

Überzeichnung muss ja nicht bis zur Unglaubwürdigkeit gehen. Überhaupt sagst du, der Kot wäre zuviel, aber im gleichen Atemzug meinst du es wäre keine wirkliche Überzeichnung. Also das Kotessen weglassen und dafür eine Vergewaltigung oder Kannibalismus? Oder hätte er lieber mit ihr einen Walzer tanzen sollen? Man kann das ja nach allen Richtungen weiterspinnen. Mir ging es um extreme Steigerung sexueller Lust. Und die wird in der Literatur, wie ich bei TomderTurm schon angemerkt habe, auch mit dem Wunsch des Kotessens ausgedrückt.

Hinter deine Intention mit der 'ekligen Todesangst' komme ich leider immer noch nicht.

Schade. Anders erklären wie oben kann ich es nicht. Und würde der Pater selig abtreten, naja, dann wär’s vielleicht wirklich nur eine platte, effekthaschende Phantasiegeschichte mit Erotiktouch. So aber, behaupte ich, hat sie genug Ecken und Kanten, genug Details, die die Bezeichnug Kritsch/Satirisch rechtfertigen.

Hallo Nico,

auch dir vielen Dank! Auf den Grammatikeinwand bin ich bei Nicole schon mal eingegangen.


Liebe Grüße an euch

Sam

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Beitragvon Pjotr » 17.12.2007, 08:53

Hallo Sam,

ja, ich glaube, ich habe Dich nun komplett verstanden.

Übrigens, da gibt es ja noch ein gutes Mittel gegen Überheblichkeits-Effekte, das nicht zu verachten ist: Der wertende Erzähler (oder das wertende Ich) zeigt immer wieder auch die eigene Fehlbarkeit oder sonstige Schwäche, damit die Augenhöhen gleich sind.


Salute

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Beitragvon Pjotr » 13.03.2018, 06:56

Bei der Suche nach einem bestimmten Text von Sam bin ich gerade auf diesen hier wieder gestoßen. Ich muss heute nach über zehn Jahren sagen, dass ich den Text, so wie er ist, perfekt finde.


Ahoy

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