Der Junge im Zug

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 19.03.2006, 22:41

Er stieg in Halle ein. Er war zu schwach, um die Abteiltür zu öffnen und ein junger Mann, der ihm helfen wollte, schaffte es auch nicht. Ich stand also, da ich der einzig im Abteil war, auf und öffnete die Tür.
„Ist doch gar nicht so schwer“, sagte ich unnötigerweise. Er setzte sich umständlich auf einen der grünlichen Klappstühle, denn sein Gewicht reichte kaum aus, um den Sitz aufzuklappen und er musste mit der ganzen Kraft seiner Arme gegen die Sitzfläche drücken. Dann stellte er seinen schwarzen Rucksack neben sich auf den Boden und schaute durch das Fenster, wo sein Vater stand.
Sein Vater blieb am Fenster stehen und winkte, bis der Zug losfuhr. Der Junge war vielleicht acht oder neun Jahre alt, vielleicht auch schon älter. Ich kann das Alter von Kindern nicht so gut einschätzen, da ich keine Kinder habe und auch kaum jemanden kenne, der einen Sohn oder eine Tochter hat. Er trug eine Jeanshose und ein blau-weiß gestreiftes Oberteil mit langen Ärmeln. Seine Haare waren lang, glatt und blond – die Prinz-Eisenherz-Frisur.
Der Zug fuhr langsam an, rollte an den eingefallenen Gebäuden vorbei, die die Bahnstrecke säumen. Die ersten zehn Minuten sagte er nichts, sondern kramte nur in seinem Rucksack herum. Er nahm eine Stulle aus seinem Brotdöschen und aß davon. Es war ein Wurstbrot. Ich hatte nichts gegessen und der Geruch stieg mir mit unerträglicher Stärke in die Nase.
„Bis wohin fahren Sie?“
Er hatte eine angenehme Stimme und seine Aussprache war hochdeutsch. Da war nicht die Spur eines Hallenser Akzentes.
„Ich fahre nach Berlin.“
„Ich auch.“
Ich hatte keine Lust, mit dem Jungen zu reden. Also schaute ich aus dem Fenster. Trotz der strahlenden Sonne, die die blühenden Landschaften, die draußen an mir vorüberglitten, mit goldenem Glanz überzog.
Der Junge nahm ein Buch aus seiner Tasche und las ein wenig. Ich konnte nicht genau erkennen, was für ein Buch das war, ich glaube es hatte irgendetwas mit Kindern und Agenten zu tun. Es war eines von den Büchern, die kleine Kinder eben gerne lesen. Der Junge legte sein Buch wieder beiseite, schaute aus dem Fenster und begann zu zappeln. Er trommelte auf die Sitzfläche seines Klappsitzes und ließ den Sitz, indem er sich auf die Arme stütze unter sich hochklappen, um sich dann wieder auf ihn fallen zu lassen, so dass er gegen die Metallhalterung knallte. Ich schwieg und hing meinen finsteren Gedanken nach. Der Junge ging mir dabei mit seinem Gezappel und dem ständigen Klopfen, Klappern und Wackeln gehörig auf die Nerven.
Wir hielten in Dessau, aber niemand setzte sich zu uns ins Abteil. An einem Montagmorgen um elf Uhr war der Zug besonders leer. Die Strecke zwischen Dessau und Berlin Wannsee ist der längste Abschnitt ohne Halt und er zog sich diesmal besonders in die Länge, denn die Anwesenheit des Jungen, mit dem ich nicht reden konnte, und mein Hunger quälten mich. Ich hätte mir beim Bäcker etwas kaufen sollen, dachte ich.
„Ist es noch weit bis nach Berlin?“
„Wir haben jetzt halb zwölf. In ungefähr einer Viertelstunde sind wir in Wannsee.“
„Hat der Schaffner Sie denn schon kontrolliert?“
„Ja.“
„Mich hat er noch nicht kontrolliert.“
„Vielleicht hat er dich übersehen?“
„Aber wie soll er dann nachprüfen, ob ich eine Fahrkarte habe?“
„Er hat scheinbar nicht aufgepasst.“
„Kann ich dann die Fahrkarte noch einmal benutzen?“
„Ich glaube nicht. Vielleicht kannst du sie deinen Eltern geben und die können sie dann umtauschen.“
Während ich das sagte fielen mir die hohen Stornogebühren der Bahn ein. Bei einer Fahrt von Halle nach Berlin würde es sich kaum lohnen, eine Fahrkarte umzutauschen.
„Sie würden das Geld zurückbekommen?“
„Vielleicht einen Teil…“
„Das wäre gut, meine Eltern haben nämlich nicht viel Geld.“
Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte.
„Mein Vater ist arbeitslos.“
Es überraschte mich, dass der Junge so offen mit mir über seine Sorgen sprach. Aber wie sollte ich darauf reagieren?
„Ich bin auch arbeitslos.“
Das war keine sehr schlaue Antwort. Er war sichtlich enttäuscht.
„Und was machst du denn dann?“
Seine Stimme klang ängstlich. Ich versuchte, meiner schlechten Laune Herr zu werden und bemühte mich, zu lächeln.
„Ich schreibe Bewerbungen und hoffe, dass mich jemand nimmt.“
„Das macht mein Vater auch.“ Hoffnungsloser hätte ich meine Situation nicht einschätzen können. Seine Stimme klang unendlich traurig.
„Ich fahre nach Berlin, zu meiner Oma.“
„Hast du Osterferien?“
„Ja.“
Er schwieg einen Moment und schaute aus dem Fenster.
„Das ist doch schön, dass du deine Ferien bei so schönem Wetter in Berlin verbringen kannst. Wie lange hast du denn noch Ferien?“
„Eine Woche.“
„Wo musst du denn aussteigen?“ fragte ich ihn, denn plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsse für ihn Sorge tragen.
Er zögerte einen Moment. Misstraute er mir?
„Am Ostbahnhof.“
„Das sind dann noch drei Haltestellen: Wannsee, Zoo, Ostbahnhof.“
„Wo musst du denn aussteigen?“
„Am Zoo. Und dann steige ich um und fahre zum Alexanderplatz.“
„Da wohnt meine Oma auch. Aber meine Mutter hat gesagt, ich soll bis zum Ostbahnhof fahren.“
„Wo wohnst du denn?“
Ich wusste nicht so recht, ob ich sagen sollte, dass ich in der Danziger Straße wohne. Ich hatte vom Alexanderplatz gesprochen, um es nicht so kompliziert zu machen. Der Zug hielt mittlerweile am Wannsee. Der See glitzerte in der Sonne und die Boote schaukelten lustig. Es waren Osterferien.
„Ist in dem Haus, wo du wohnst eine Bäckerei?“
Ich hatte ganz vergessen, auf die Frage zu antworten. Der Zug fuhr an der Avus vorbei.
„Nein.“
„Da wo meine Oma wohnt, ist eine Bäckerei.“
„Warst du schon mal auf dem Fernsehturm?“ fragte ich ihn und hoffte, damit ein kindertaugliches Thema angesprochen zu haben.
„Ja.“
„Das ist schön, oder?“
„Ja. Von da oben sehen die Menschen ganz klein aus, wie Ameisen.“
Ich lächelte und nickte. Der Vergleich klang trivial, aber der Junge erzählte ihn mir mit solch einem Enthusiasmus.
„Warst du schon mal auf dem Turm?“ Offensichtlich dachte er, ich hätte dieselbe Erfahrung gemacht.
„Nein. Aber eigentlich sollte man da mal hin, denke ich mir, wenn man schon in Berlin wohnt.“
„Ja.“ Wir schwiegen ein wenig. Bald würden wir den Zoo erreichen.
„Musst du jetzt nicht aussteigen?“
„Gleich. Ich warte noch, bis wir in der Höhe des Bahnhofs Charlottenburg sind, dann packe ich meine Sachen.“
Kaum dass wir am S-Bahnhof Charlottenburg vorbeifuhren, sagte der Schaffner auch schon den nächsten Halt an. Ich freute mich, dass ich recht gehabt hatte und lächelte. Dabei zog ich die Augenbrauen in die Höhe, wie um zu sagen: siehst du?
„Vielleicht sehen wir uns ja mal, wenn du auch am Alexanderplatz wohnst.“
Der Junge war nett.
„Ja.“
Ich zog meine Jacke an und machte Anstalten die Tür zu öffnen.
„Mein Vater hat genau dieselbe Jacke wie du, nur in schwarz.“
„Meine war auch mal schwarz.“ Mir war noch gar nicht aufgefallen, wie abgetragen meine Kordjacke mittlerweile war.
„Also, mach’s gut.“
„Tschüss“, sagte der kleine Junge und blieb im Abteil zurück.
„Soll ich die Tür auflassen.“ Ich erinnerte mich daran, dass sie schwer zu öffnen war.
„Ja.“
Ich stieg aus und suchte im Gewimmel der Reisenden nach meinem Anschlusszug.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 23.03.2006, 17:24, insgesamt 1-mal geändert.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 21.03.2006, 23:03

Hallo Paul Ost

Eine interessante Kurzgeschichte. Eine Begegnung im Zug, ein Mann und ein Junge, ein Gespräch, der Mann erkennt in den Schilderungen des Jungen über dessen Vater seine eigene Situation wieder.

Habe sie gerne und mit Interesse gelesen. Vielen Dank für die Geschichte.

Ein paar Vorschläge;
"Wo musst du denn aussteigen?" fragte ich ihn, denn plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsse für ihn Sorge tragen.

"Das Gefühl, ich müsse für ihn Sorge tragen" Ist das nicht ein bißchen zu viel? Vielleicht willst Du "das Gefühl, ich müsse für ihn Sorge tragen " durch "ich wollte sicherheitshalber prüfen, ob der Junge tatsächlich in der Lage war, allein zu reisen." Die väterlichen Gefühle, die der Mann entwickelt, kommen so immer noch zum Ausdruck, aber es geht nicht ganz so weit. Nur eine Anregung.

Der Junge wird vom Ich-Erzählerzwischen acht oder neun Jahren vielleicht sogar älter geschätzt. Mehrfach wird er im Text als kleines Kind bezeichnet. Ich würde Menschen im Kindergartenalter so nennen, aber in beschriebenen Alter nur noch Kinder und das klein weglassen. Ist ein persönliches Empfinden. Hier könnten die Kommentare anderer Salonbesucher helfen.

Ein, zwei kleine Tippfehler sind Dir noch unterlaufen.

In der Zeile, die mit "Da wohnt Oma auch" hat der Fehlerteufel bei Ostbahnhof zugeschlagen.

und den Satz: "Das ging eine Weile so, denn ich war genervt." ist sicher auch ein Irrtum. Der Junge zappelt doch nicht wegen der schlechten Laune des Mannes, eher umgekehrt :grin:

Eine Geschichte, die nachdenklich stimmt.

Schönen Abend

Jürgen

hwg

Beitragvon hwg » 22.03.2006, 15:20

Grüße Dich Paul!

Grundsätzlich eine gelungene Story. Auf etliche Flüchtigkeitsfehler hat Gurke bereits aufmerksam gemacht. Als Redakteur einer Literaturzeitschrift müsste ich allerdings einiges streichen, vor allem die "erklärenden" Sätze. Derartige Schilderungen sollten in den Dialog einfließen. Zudem würde ich, um einen breiteren Leserkreis anzusprechen, entweder aufs Regionalkolorit verzichten oder es kurz und daher prägnant(er) in die Geschichte einbauen. Vielleicht passen meine kurzen Anmerkungen in Deine Absicht, den Text zu überarbeiten.

Auf Wiederlesen!

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 23.03.2006, 17:31

Danke für die Hinweise. Die Geschichte ist schon drei Jahre alt. Ein kleines Facelifting tut ihr daher sicherlich gut.

Grüße

Paul Ost


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