Das schwarze Loch

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Franktireur

Beitragvon Franktireur » 24.03.2006, 22:48

Das schwarze Loch

Wenn mich mal jemand fragen würde; doch mich fragt nie jemand; und sollte ich etwas sagen, ohne daß mich jemand fragt, würde mir doch niemand zuhören.
All mein Wissen, meine Gedanken, die Erinnerungen an Erlebnisse und Geschehnisse, meine Empfindungen – alles, was mich zu einem bewußten und menschlichen Wesen macht, verschwindet in einem großen schwarzen Loch, wird aufgesogen und übrig bleibt nichts.
Es ist so, als hätte ich nie existiert, nie gelebt, nie gedacht, nie gefühlt; und ich kann es nicht hinauszögern, geschweigedenn verhindern.
Zuallerletzt werde ich selbst in diesem großen schwarzen Loch verschwunden sein und bei lebendigem Leibe verfaulen und verwesen, ohne je gewesen zu sein; eine erloschene Existenz, die niemals jemand wahrgenommen hat und deren Verschwinden infolgedessen niemand bemerkt, es sei denn, es gelänge mir zuvor, jemanden auf mich aufmerksam zu machen und vielleicht sogar davon zu überzeugen, daß es mich tatsächlich gibt; jemanden, der mir zuhört, der mich fragt, der an mich glaubt, der an mich denkt, der emotional an meiner Person und meinem Dasein beteiligt ist oder zumindest Anteil nimmt, der, wenn ich fort bin, sich an mich erinnert.
Ich brauche nur einen einzigen Menschen; nur einer, der meiner gedenkt und ich wüßte, daß ich wirklich gelebt habe.
Doch solange mich niemand kennt und niemand mich fragt, weiß niemand meinen Namen und ich werde nie jemand sein können. Nie wird jemand nach mir fragen oder nach mir rufen oder gar nach mir verlangen.
Und jeder Tag, an dem dies so ist und jede Nacht, die ich dergestalt verbringe – als Namenloser – rauben mir ein Stück meiner selbst.
Mein Alter weiß ich schon nicht mehr und die Erinnerungen verblassen, werden schemenhafter und nebulöser mit der Zeit, lösen sich bereits auf, langsam doch stetig. Ich habe mittlerweile Sorge, daß ich nichts zu sagen wüßte, sollte doch irgendwann noch jemand mich befragen. Doch selbst die Sorge schwindet Stück um Stück. Und die Ängste, die mich sonst noch hier und da befallen, die waren einmal größer, intensiver, doch ich habe keine Ahnung, wann das war oder wie lange sie andauerten, bis sie auf dieses gegenwärtige Maß geschrumpft sind. Auf jeden Fall nehmen auch sie ständig ab und an ihrer Statt nimmt ein Gefühl der Gleichgültigkeit mehr und mehr Raum ein in mir. Gefühle wie Liebe, Haß, Trauer und Freude verspüre ich schon längst nicht mehr. Ja, ich kann nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, ob ich sie je tatsächlich schon genossen habe oder ob es doch nur Worte sind, an die ich mich erinnere – ohne daß ich das, was sie benennen sollen, jemals verspüren durfte. Es gibt Gefühle, die ich nicht einmal mehr mit Worten benennen kann.
Ein Vakuum breitet sich in mir aus und verdrängt Tag für Tag und Nacht für Nacht mehr und mehr von dem, was ich einmal wußte oder zu wissen glaubte und nun nicht mehr weiß.
Oft ertappe ich mich dabei, daß ich nur dasitze und kann nicht eindeutig sagen, ich hätte gefühlt oder gedacht. Die Kälte läßt mich nicht mehr frieren. Bedürfnis nach Wärme habe ich nicht, ich verbinde mit diesem Wort nichts mehr: Wärme. Ich glaube, es war eine angenehme Empfindung, doch sicher bin ich mir dessen keineswegs.
Das Warten darauf, daß vielleicht doch noch jemand mich fragen wird – das Warten besitze ich noch. Sagt man so, besitzen? Wie lange es noch so sein wird, weiß ich nicht.
Das große schwarze Loch in mir wird immer größer. Irgendwann, am Ende des Wartens, werde ich wohl von ihm verschlungen sein zur Gänze. Dann wird es mir unmöglich sein, noch zu antworten, sollte mich noch jemand fragen wollen; dann wird von mir nichts übrig sein und niemand könnte überhaupt nur ahnen, daß es mich je gab. So wird es dann wohl sein, solange mich niemand fragt und niemand meinen Namen kennt.
Noch erinnere ich mich, wenn ich mich bemühe, meinen Namen halblaut vor mir auszusprechen. Noch weiß ich ihn, den Namen. Würde mich also jemand danach fragen, so wüßte ich die Antwort und das große schwarze Loch hätte verloren, weil es ihm nicht mehr gelingen könnte, das Wissen um meine Existenz gänzlich auszulöschen.
Dann könnte ich ruhig sterben. Gestorben sein bedeutet, existiert zu haben.
Dann würde ich gewesen sein.
Namentlich tot.
Würde mich nur jemals jemand fragen.



(c)Franktireur

Phygranimus

Beitragvon Phygranimus » 26.03.2006, 11:47

Hallo Frank,

in welchen bitteren Momenten bist Du denn zu diesem düsteren Erkenntnisblock gekommen oder war es nur eine philosphische Spielerei
=> Was wäre wenn ?
In diesem Forum fällt sicher nicht alles in ein Schwarzes Loch;
was irgendwann mit unserer Kultur, unserem Sternensystem passsiert,
weiß man nicht so genau, da gibt es sicher irgendwann wieder das Nichts.
Und so gibt es noch die Frage , wer Dir welche Frage stellen soll,
damit den Anforderugen genug tut.
Reicht Dir meine Frage nach dem Wort, was alles heilt ?
Aber so könnte ein Teilbewußtsein eines höheren Wesens oder gar Gott?
mit sich philosophieren, der an die vielen erschaffenen Wesen nicht herankommt, auf der Suche nach seinem Ursprung.

Soweit, angenehme Sonntagsgrüße von Klaus

Gast

Beitragvon Gast » 26.03.2006, 12:26

Lieber Frank,

ich habe deine Geschichte anders gelesen.
finde sie auch keines wegs so schrecklich düster.
Mir gefällt sie.
Du hast geschafft auf den Punkt zu bringen dass "Mensch-Sein" - als Mensch gelebt zu haben, nur spürbar ist, wenn ich mich im Anderen spiegeln kann., bzw. durch die Kommunikation.
Unsere Selbstewahrnehmung ist darauf gerichtet, sich im anderen zu erkennen, durch Sprache , Blicke, Tastsinn u. a. mehr.
Insofern betrachte ich deinen Text als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Individuum Mensch, mit dem was das Leben ausmacht und was jeden Einzelnen aus der Masse herausheben kann.
Letztlich geht es doch darum sich durch andere wahr zu nehmen, bevor man den langen Weg der Selbsterkenntnis, des sich selbst Findens hinter sich lassen kann. (Selbstfindung ist etwas anderes, bzw. hat inzwischen eine leider eher oberflächl. Bedeutung bekommen).
M. E. Keine philosophische Spielerei, sondern Philosophie pur.

Ich danke dir, du hast mir beim Lesen Freude geschenkt.

Einen schönen Sonntag
Gerda

Herby

Beitragvon Herby » 26.03.2006, 12:58

Hallo Frank,

habe eben deinen Text gelesen ... schwere Kost am Sonntagmittag. Auf mich wirken deine Zeilen augesprochen düster und mir ging spontan die Frage durch den Kopf, ob dieser Text autobiographischen Züge trägt.
Ich bin kein Philosoph und kann daher meine Gedanken, die mir durch den Kopf gingen und gehen, nicht so in Worte fassen, wie ich es gerne möchte ... Deine tief gehende Reflexion über das Jetzt und über das, was danach kommt, halte ich gerade in der heutigen Zeit für wichtig, die so oft und stark durch Oberflächlichkeit und Verdrängung gekennzeichnet ist.

Nachdenkliche Grüße
Herby

Phygranimus

Beitragvon Phygranimus » 26.03.2006, 18:00

Hallo Gerda,

du hast in Deiner Relativität natürlich auch recht,

aber nur der philosophisch denkende Mensch kann diese Kommunikation so erfassen, daß es sich auch allgemein um das "Mensch-Sein" selbst handeln kann.
Aber das Mensch-Sein hat eben auch mit Gott zu tun, sogar sehr viel.
Wie können wir überhaupt zwischen göttlichen und menschlichen Bedürfnissen unterscheiden ?
Mir gefallen die Zeilen auch und zeugen von schriftstellerischer Qualität,
aber ich denke die Diskussion ist auch gewollt.

Gruß Klaus

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 26.03.2006, 18:11

Hallo Klaus, Gerda und Herby, danke für eure nachdenklichen Kommentare.

Dieser Text gehört zu denen, zu denen ich keine inhaltlichen und/oder interpretierenden Erläuterungen abgeben möchte (obwohl ich sonst ein Plappermaul bin, was derartiges betrifft).

Die Frage, wie er entstanden ist und ob autobiographisch, die möchte ich aber kurz beantworten:

Über einen Zeitraum von 2 bis 3 Jahren hinweg habe ich mich mit "Isolation", "Sprachlosigkeit" (ja ja, ich) und der Frage: "Was macht den Mensch zum Menschen" recht intensiv beschäftigt.
Natürlich gibt es autobiographische Bezüge - alles, was nicht "bloße" Unterhaltungsliteratur ist (und selbst da oft genug), beinhaltet autobiographische Bezüge. Immer schöpfe ich (auch) aus mir selbst. Ich kann auch nur über Themen schreiben, die mich selbst betreffen (egal wie und warum und in welchem Ausmaß).
Dieser Text ist zwar einige Jahre alt, aber er ist zeitlos genug. Die Anregung, ihn nun einzustellen, kam von einem anderen Text hier in der Kategorie, indem es um einen Selbstmörder geht, der sich nur als unwichtigen Tropfen Wasser sieht, der völlig belanglos ist. In gewisser Weise ist der Text meine Meinung zu einer solchen Lebenshaltung oder Einstellung zu sich selbst.
Nicht selbstgewählte, also unfreiwillige Einsamkeit und erzwungene Isolation (es gibt auch eine geistige, emotional und innerliche) töten einen Menschen. Und nicht jeder hat den Mut, die Kraft, das Selbstbewußtsein, sich dagegen zur Wehr zu setzen oder sich daraus zu befreien. Solch einen Menschen habe ich versucht, einfach mal sprechen zu lassen (auch wenn das in der Realität sicher so nicht wäre).

Gruß
Frank

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Beitragvon Lisa » 28.03.2006, 15:44

Lieber Frank,
viele deiner Gedanken sind mir bekannt. Der Text ist sehr gelungen. Ein paar Stellen habe ich blau geändert:


Wenn mich mal jemand fragen würde; doch mich fragt nie jemand; und sollte ich etwas sagen, ohne daß mich jemand fragt, würde mir doch niemand zuhören.Absatz deutlich

All mein Wissen, meine Gedanken, die Erinnerungen an Erlebnisse und Geschehnisse, meine Empfindungen – alles, was mich zu einem bewußten und menschlichen Wesen macht, verschwindet in einem großen schwarzen Loch, wird aufgesogen und übrig bleibt nichts.
Es ist so, als hätte ich nie existiert, nie gelebt, nie gedacht, nie gefühlt; und ich kann es nicht hinauszögern, geschweigedenn verhindern.
Zuallerletzt werde ich selbst in diesem großen schwarzen Loch verschwunden sein und bei lebendigem Leibe verfaulen und verwesen, ohne je gewesen zu sein; eine erloschene Existenz, die niemals jemand wahrgenommen hat und deren Verschwinden infolgedessen niemand bemerkt, es sei denn, es gelänge mir zuvor, jemanden auf mich aufmerksam zu machen und vielleicht sogar davon zu überzeugen, daß es mich tatsächlich gibt; jemanden, der mir zuhört, der mich fragt, der an mich glaubt, der an mich denkt, der emotional an meiner Person und meinem Dasein beteiligt ist oder zumindest Anteil nimmt, der, wenn ich fort bin, sich an mich erinnert.
Ich brauche nur einen einzigen Menschen; Gäbe es nur einen, der meiner gedenkt, so wüßte ich, daß ich wirklich gelebt habe.
Doch solange mich niemand kennt und niemand mich fragt, weiß niemand meinen Namen und ich werde nie jemand sein können. Nie wird jemand nach mir fragen oder nach mir rufen oder gar nach mir verlangen.
Und jeder Tag, an dem dies so ist und jede Nacht, die ich dergestalt verbringe – als Namenloser – rauben mir ein Stück meiner selbst.
Mein Alter weiß ich schon nicht mehr und die Erinnerungen verblassen, werden schemenhafter und nebulöser mit der Zeit, lösen sich bereits auf, langsam doch stetig. Ich habe mittlerweile Sorge, daß ich nichts zu sagen wüßte, sollte doch irgendwann noch jemand mich befragen. Doch selbst diese Sorge schwindet Stück um Stück. Und die Ängste, die mich sonst noch hier und da befallen, die waren einmal größer, intensiver. Doch ich habe keine Ahnung, wann das war oder wie lange sie andauerten, bis sie auf dieses gegenwärtige Maß geschrumpft sind. Auf jeden Fall nehmen auch sie ständig ab und an ihrer Statt nimmt ein Gefühl der Gleichgültigkeit mehr und mehr Raum ein in mir. Gefühle wie Liebe, Haß, Trauer und Freude verspüre ich schon längst nicht mehr. Ja, ich kann nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, ob ich sie je tatsächlich schon genossen habe oder ob es doch nur Worte sind, an die ich mich erinnere – ohne daß ich das, was sie benennen sollen, jemals verspüren durfte. Es gibt Gefühle, die ich nicht einmal mehr mit Worten benennen kann.
Ein Vakuum breitet sich in mir aus und verdrängt Tag für Tag und Nacht für Nacht mehr und mehr von dem, was ich einmal wußte oder zu wissen glaubte und nun nicht mehr weiß.
Oft ertappe ich mich dabei, daß ich nur dasitze und kann nicht eindeutig sagen, ich hätte gefühlt oder gedacht. Die Kälte läßt mich nicht mehr frieren. Bedürfnis nach Wärme habe ich nicht, ich verbinde mit diesem Wort nichts mehr: Wärme. Ich glaube, es war eine angenehme Empfindung, doch sicher bin ich mir dessen keineswegs.
Das Warten darauf, daß vielleicht doch noch jemand mich fragen wird – das Warten besitze ich noch. Sagt man so, besitzen? Wie lange es noch so sein wird, weiß ich nicht.
Das große schwarze Loch in mir wird immer größer. Irgendwann, am Ende des Wartens, werde ich wohl von ihm verschlungen sein zur Gänze. Dann wird es mir unmöglich sein, noch zu antworten, sollte mich noch jemand fragen wollen; dann wird von mir nichts übrig sein und niemand könnte überhaupt nur ahnen, daß es mich je gab. So wird es dann wohl sein, solange mich niemand fragt und niemand meinen Namen kennt.
Noch erinnere ich mich, wenn ich mich bemühe, meinen Namen halblaut vor mir auszusprechen. Noch weiß ich ihn, den Namen. Würde mich also jemand danach fragen, so wüßte ich die Antwort und das große schwarze Loch hätte verloren, weil es ihm nicht mehr gelingen könnte, das Wissen um meine Existenz gänzlich auszulöschen.
Absätze geändert
Dann könnte ich ruhig sterben. Gestorben sein bedeutet, existiert zu haben. Dann würde ich gewesen sein. Namentlich tot. Würde mich nur jemals jemand fragen.

Die Bedeutung der Namen, die du benutzt, finde ich wunderbar. Da kommst du Stifter gleich...ich schreibe genau zu dem Thema gerade am einer Hausarbeit, die, wenn sie nicht allzu seltsam wird, ich hier in enigen Wochen mal einstellen kann, um dich zu fragen, ob es das trifft. Lange Zeit habe ich geglaubt, dass es zur Liebe gehört, dass der andere meinen Namen nennt, ohne ihn zu kennen.

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 28.03.2006, 16:14

Danke Lisa.
Da hast du ja richtig lektoriert :smile: .

Ich übernehme gerne deine vorgeschlagenen Änderungen...
bis auf die letzten zeilen, die möchte ich wie im Ursprung tatsächlich Satz für Satz voneinander absetzen.
Warum, versuche ich kurz zu erklären: Ich habe ihn sprechen gehört (vor meinem inneren Ohr), und er wurde immer langsamer beim Sprechen, und die letzten Sätze kamen mit sehr viel Pausen. Danach hat er nichts mehr zu sagen und schweigt. Ich wollte es herausstellen, aber nicht mit den "...." arbeiten (das wär dann doch zu aufdringlich).

Alle anderen Vorschläge sind tatsächlich Verbesserungen :thumbleft:

Gruß
Frank

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Beitragvon Lisa » 28.03.2006, 16:39

Ich wusste, dass du die letzten Sätze so lassen würdest und bin sogar richtig froh darüber :grin: (versteh mich mal einer)

Wie gesagt, ein wahrer Text für mich.


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