Muttertexte - Vatertexte

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wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 01.06.2008, 09:49

Muttertexte sind zerbrechlich wie Glas. Sie schleifen die Flügel nach und lahmen. Der Stachel sitzt sehr tief. Das Leid umwickelt sich mit feuchten Tüchern. Sie spreizen die Zehen gegen das Unheil. Es riecht nach Essig und Tränen.
Muttertexte treten durch das Wintertor. Sie frösteln im weißen Kirschgarten und schielen nach den walnussgrünen Häusern. Dann verhüllen sie ihr Gesicht, damit sie die Amseln nicht sehen, die saure Kirschen zerpicken.
Muttertexte schnüren ein und gären zu früh. Aber der Dom wacht über sie und wiegt sie im Dröhnen seiner Glocken. Dann fallen sie in den Schatten der Linden auf das raue Kopfsteinpflaster und betäuben sich mit sahnigen Torten.

Eines Morgens lagen sie auf der geteerten Straße wie hölzerne Puppen. Ihre Kleidung in Fetzen und Kieselsteine im Mund. Sie starrten in den Himmel und warteten auf die frühen Stare.

Vatertexte

Vatertexte haben schwarze Ränder. Sie ducken sich in der Traumhöhle und streben nicht ans Licht. Leise, ganz leise spielt der Wind im Gesicht und die Buttermilch gerinnt.
Vatertexte bemühen sich um so viel mehr, doch dann kriechen sie still in den glänzenden braunen Schuh und vergessen das Holz. Leise, ganz leise fällt der Regen in den Fluss und die Nussschale schwankt.

scarlett

Beitragvon scarlett » 01.06.2008, 11:58

Ich habe zwar keine Ahnung, worauf der Text hinaus will, aber das ist mir auch völlig gleich in diesem Fall: er hat eine unheimliche Atmosphäre, unglaublich starke Bilder, ungewöhnliche Verknüpfungen - mit einem Wort: gefällt mir sehr!

Toller Einstand, willkommen hier, wüstenfuchs!

Grüße aus der Nachbarschaft,
scarlett

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.06.2008, 13:03

Willkommen im Blauen Salon, Wüstenfuchs!
Fühl dich wohl hier bei uns. Die Münchnerfraktion wächst hier im Forum *g*

Es ist verblüffend. In deinem Text stehen so viele Worte, du beschreibst so viele Bilder und dennoch verschließt sich mir all das total. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du metaphorisch mit "Muttertexte" oder "Vatertexte" meinen könntest. :12:
Das werde ich wohl noch einige Male lesen, um dahinter zu steigen.
Saludos
Mucki

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 01.06.2008, 13:17

Hallo ihr beiden,

vielen Dank für den Einstand.

Schön, dass die Münchner Fraktion wächst.

Viele Grüße

wüstenfuchs

Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.06.2008, 13:20

Hallo wüstenfuchs,

magst du dich in der Rubrik Café kurz vorstellen? Das wäre schön :-)
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 01.06.2008, 18:41

Hallo Wüstenfuchs,

Mir gefällt dein Text. Er zeigt auf unverbrauchte Weise, wie die Eltern in der Erinnerung wirken. So lese ich deine Worte. In diesem Fall ziemlich deprimierend und von großer Melancholie, als würde zwischen den Zeilen stehen: warum ist alles so schwer.

Du bedienst dich starker Bilder, die ich mit Spannung lese.

Interessant ist, dass Muttertexte doppelt so lang wie Vatertexte ist.

Lieben Gruß
ELsa
Schreiben ist atmen

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 01.06.2008, 18:48

Hallo Elsa,

danke für deinen Kommentar.

Interessant ist deine Anmerkung zur Länge, weil mein Vater viel abwesend-anwesend war.

Ich werde noch länger bei diesem Thema bleiben, mal sehen was sich noch zeigt.

Einen freundlichen Abendgruß

Wüstenfuchs

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.06.2008, 20:08

Hallo Wüstenfuchs,

das kleine Stück ist sehr stark - ich habe es gerade zum dritten Mal gelesen und die Wirkung ist immer gleich heftig -, voller Bilder, die direkt "in den Bauch" wirken.

Was mich interessieren würde, ist die Rolle des Wörtchens "Text" darin. (Deshalb sprach ich eingangs von einem "kleinen Stück" und nicht von einem Text ...)

Einerseits stört mich ein wenig die Nüchternheit dieses Arbeitsworts in dem Fluss der Bilder. Andererseits verleiht es (also dieses Arbeitswort) dem ganzen Stück etwas Abgeklärtes. Ich habe den Eindruck, es ist so etwas wie ein Innenblick von jemandem, der viel schreibt, und zwar vorwiegend Mutter- und Vatertexte. Und ich frage mich natürlich, ob das, was der Sprecher dieses Textes sagt, nur für seine eigenen Mutter- und Vatertexte gilt oder für alle, auch für diejenigen, die er nicht selbst geschrieben hat. Und ob er auch diejenigen, die er nicht selbst geschrieben hat, im Augenblick der Rezeption dennoch gleichsam "selbst schreibt", indem er sie hier in diesem Stück be-schreibt ...

Mich irritieren ein wenig die sahnigen Torten, mir kommt in diesem Augenblick immer wider Willen das Bild eines Kaffeekränzchens frustrierter dicker Damen hoch und stört die Poesie des Ganzen ... speziell das ist mir zu prosaisch, weil eben sofort dieses Klischee anklopft. Nur 'ne Kleinigkeit in einem sehr starken Text.

Sonnigen Gruß
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Rala

Beitragvon Rala » 01.06.2008, 20:59

Hallo Wüstenfuchs!

Erst mal ganz herzlich willkommen hier (ich gehör übrigens auch zur Münchnerfraktion ...) und zweitens: den Text find ich super. Er ist verstandesmäßig nicht ganz zu greifen, das ist gut so, aber weckt Bilder und Assoziationen in mir, die ihn für mich sehr gut nachvollziehbar machen. Das Wort "Text" verstehe ich dabei gar nicht so sehr im engeren, also literarischen Sinne, sondern vielmehr im Sinne von "etwas Lesbares, etwas zu Interpretierendes", also in Richtung "die Welt (bzw. ein bestimmter Teil davon) als Text".
Freue mich schon darauf, weiteres von dir zu lesen!

Liebe Grüße,
Rala

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 02.06.2008, 08:27

Hallo Zefira und Rala,

vielen Dank für Eure Auseinandersetzung mit dem Text.

Es war so, dass ich etliche Versuche unternommen habe, Dinge aus meiner Kindheit zu schreiben.

Aber es passte nicht vom Ton usw.

Plötzlich bin ich dann auf einer Zugfahrt spielerisch auf die Metaebene gewechselt und da liefen mir die Sätze zu.

Da ist mir bewusst geworden, dass die Distanz wichtig ist beim Schreiben und dass das spannend ist, mal ganz nah dran und dann weit weg zu sein.

Viele Grüße
Wüstenfuchs

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 02.06.2008, 09:41

Hallo Wüstenfuchs,

herzlich Willkommen im Salon. Ein starker, bildgewaltiger Text, dem es trotzdem gelingt, die einzelnen Bilder wirken zu lassen, ohne, dass sie sich gegenseitig erschlagen. Der einzige Satz, der für mich herausfällt, ist dieser hier:

Der Stachel sitzt sehr tief.

Ich glaube, er kann mit den anderen Bildern nicht mithalten, ist zu benennend und gewöhnlich.

An einer Stelle hätte ich etwas umgestellt, weil sonst der Bezug nicht ganz klar ist. Sind es die Texte, die die Zehen spreizen und das Leid umwickeln?

Das Leid umwickeln sie mit feuchten Tüchern, spreizen die Zehen gegen das Unheil.

Das habe ich sehr gern gelesen. Ich freue mich auf weitere Texte von dir.

liebe Grüße smile

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 01.07.2008, 08:51

Hallo Wüstenfuchs,


Deine Mutter- und Vatertexte sind wie Bilder, dazu noch surrealistische, das gefällt mir sehr.
Wenn ich jetzt ein paar Anmerkungen mache, ist das Kritik auf ganz hohem Niveau und subjektiv sowieso:

„Die Flügel nachschleifen“ finde ich merkwürdig, ich kann mir zwar vorstellen, was damit gemeint ist, aber der Ausdruck hinkt.
Der Stachel sitzt (sehr) tief. Ich würde das „sehr“ streichen, weil der Stachel ohne „sehr“ tiefer sitzt, finde ich.

Und „Starre“ schreibt man mit doppeltem „r“.

Was auffällt, und was ich sehr gelungen finde, ist, dass die Muttertexte gleich zu Anfang etwas „sind“, während die Vatertexte damit beginnen, etwas zu „haben“. Das sagt ganz viel über das Vater- Mutter, Mann- Frau Verhältnis aus.

Toller Text.

Xanti

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 14.07.2008, 20:26

Hallo Xanthippe,

es geht um Stare, die Vögel.

Ich bin ein großer Fan des Surrealismus.

Aber auch von moderner Kunst.

Ich möchte mal monochrome Gedichte schreiben, wie die Monochrome von Yves Klein oder Barnett Newman.
Ich möchte Jackson Pollock lyrisch ausdrücken.

Das sind so meine geheimen Wünsche und Träume.

Gruß
Wüstenfuchs

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 14.07.2008, 20:37

Ups, da bin ich ja wieder in den Fettnapf getreten, aber auf Vögel bin ich wirklich nicht gekommen. Und wenn ich mich jetzt schon als halbgebildet geoutet habe, was sind denn "monochrome Gedichte"?
Geheim sind Deine Wünsche und Träume jetzt nicht mehr ;-)


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