Alles in Butter oder 'anstelle von'

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.06.2008, 18:39

Alles in Butter oder ‚anstelle von’


Burkhard, dieser Junge, der sich den Hunger wegduscht, hat nur einen Gedanken: Alles muss in Butter sein, alles muss schwelgen, tropfen, alles rühren, matschen. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel; – Häuser! Laken, Uhren, Treppen; die Stunden tranen in die Tage in die Wochen in die Jahre. Ruft jemand in die Zeit, hebt er in seiner gelben Unterkunft den Hörer ab und spricht in die Muschel: Ja, Vater, ja, Mutter, Freund, Arbeitgeber, ja, lieber Gott, alles ist in Butter.

Burkhard ist schon lange fort von zuhause, aber heute hat er bei Aufräumarbeiten ein Photo wiedergefunden, das er einmal heimlich aus dem Familienalbum gelöst hatte. Es zeigt seine ältere Adoptivschwester mit etwa sieben Jahren, wie sie im hohen Gras steht, einen Bach im Rücken und einen glänzenden Hund vor sich an der Leine. Sie ist dem Photographen fliegend zugewandt. Das schwarze Haar ist kräftig, als bekäme sie auf dem Land zu essen, hätte drei Brüder und trüge Zöpfe; sie lächelt, steht in den Strahlen eines Lichtes, wie es auf deutschen Landschaftsgemälden zu finden ist: Ein Reh, so schaut sie aus; weich, wach und zum Verbergen wollen zart – jedermanns Liebe für sie muss dicht am Töten liegen.

An seine Schwester zu denken, schmerzt Burkhard. Nicht verhindert zu haben, dass sie zuhause an so vielen Orten zusammenschrumpfte wie ein alter Ballon, z.B. am Esstisch, wenn sie etwas zerbrochen hatte – –

[aber sie zerbrach ja nie etwas. Als Burkhard auf die Welt kam, war die Schwester schon längst viel zu zurückgezogen in sich, um mit Gegenständen zusammenstoßen zu können. Es muss andere Anlässe gegeben haben. Anlässe, die Burkhard damals keine sein konnten. Zu klein, zu unauffällig müssen sie gewesen sein. Inzwischen haben sich Burkhards Sinne verfeinert. Doch was den Jungen heute kotzen macht, hat ihn früher nicht einmal husten lassen; und ohne Husten sind keine Erinnerungen zu machen]

– – formulieren wir es also allgemeiner: Wenn die Schwester einer Situation nicht gewachsen war, aber Antwort geben wollte, weil man ihr gut sein sollte und sie gelernt hatte, dass es dafür auf das Antworten ankam, und die Mutter sie beschimpfte, als stummen Fisch, oder ihr die Marmelade in den Schoß warf, dass er auf eine Art blutete, die nicht rechtfertigte, nach dem von ihr über jedes Maß herbeigesehnten Arzt zu rufen, es aber aussehen ließ, als könne es einmal, ein einziges Mal, doch notwendig sein, als bräuchte man nichts anderes zu tun, als der weißen Gestalt, die im nächsten Augenblick hastig zur Tür hineingeeilt käme, entgegenzusinken, wenn also all dies geschah, so verschob die Schwester ihre Rettung in die Nacht. Scheren, kleine Doppelspiegel, Nadeln, Skalpelle, allem voran aber die strengen, mechanisch weißen Hände des Arztes baumelten wie Gestirne hinter ihren flackernden Augenlidern und gewannen an solcher Bedeutung in der Seele der Schwester – –

[und noch mehr in der von Burkhard, nachdem dieser seine Schwester im Schlaf einmal in wacher Klarheit hatte anrufen hören: Weißer Mann, bind mir einen Strauß aus deinen Instrumenten, an dem will ich riechen, bis ich blute und nicht mehr aufhöre zu bluten, solange nicht aufhöre, bis ich nicht mehr bin vor lauter Untersuchung]

– – diese Phantasien also gewannen solchen Raum in der Seele beider Kinder, dass sich das Phänomen wohl nur mit pathologischem Vokabular beschreiben ließe, was wir als Versuch jedoch mit aller Bestimmtheit von uns zu weisen haben, da uns die Dinge auf diese Weise nichts angehen.


_________


Später zog die Schwester aus – –

[um noch im selben Jahr, gefühlte Zeit, zu heiraten, vier Kinder zu bekommen und zu beschließen an Dart-Turnieren teilzunehmen, damit sie sich ‚etwas’ – Burkhard blieb dieses Etwas immer mysteriös – dazuverdiene. Sie meldete sich auch tatsächlich bei solchen Turnieren an, obwohl sie nie zuvor Dart gespielt hatte und grobmotorisch veranlagt war, doch es wurde nichts daraus. Schließlich nahm sie nicht einmal der Nachtkiosk als Aushilfe und so saß sie wie ein Meerschwein mit ihrer Nachbarin auf dem Domäne-Sofa und indem sie einander ihr Elend klagten, hielten sie sich gegenseitig die Beziehung zu dem mysteriösen Etwas aufrecht]

– – später also zog die Schwester aus und von da an war Burkhard nicht länger hilflos gegen den Schmerz der Schwester; denn die Schwester war ja fort. Nein, von da an war er selbst seine Schwester, ergab sich aber nicht natürlich in ihre Form, da sie ganz anders war als er, wie jeder Mensch ganz anders ist als jeder weitere, und wurde so ein schreiender Fisch – –

[obwohl auch Burkhard sich hütete, bestimmte Geräusche zu machen (die leisen). Denn ihren Schmerz, den hatte die Schwester zwar mitgenommen, da war sich der Junge sicher, aber es war ihm doch, als bestünde er in Form einer Hinterlassenschaft fort. Vielleicht hatte sich so etwas wie sein chronischer Schatten an die Wände geworfen, wie auch nach Jahren abgenommene Gemälde einen hellen Fleck hinterlassen. Verräterisch kamen die Wände ihm vor, ein furchterregendes großes Ohr waren sie ihm und das einzige, was verhinderte, in seinem erbärmlichen Gewimmere von ihnen belauscht zu werden, war Schreien und Stampfen. War man lauter, als man es sein wollte, dann bestand über diese Hässlichkeit die Hoffnung, dass niemand von der Armut, in der man auf seinem Zimmer saß, erfuhr. Und so wurde Burkhard lauter, als er es eigentlich geworden wäre, und das kurioserweise, obwohl er nicht einmal rechtfertigen konnte, weshalb er so laut war, wie er es ohnehin war]

– – Burkhard wurde also ein schreiender Fisch. Der Vater brachte ihm in diesen Jahren oft Süßes mit, wenn etwas gewesen war, wofür er keine Tränen fand. Der Vater, das war einer, der weinte nie, er war ganz in seinen Algen, ein Wels war er, aber wenn er dem Jungen das Süße zustecken wollte und dieser es in einem ersten Versuch ausschlug, weil es ihm wehtat, etwas anstelle von zu bekommen, dann zitterte auf kaum merkliche, ja, dem Jungen schien (und darin lag der ganze Wert) auf eine nur für ihn wahrnehmbare Weise, die Stimme des Vaters und dem Jungen wurde ganz weich zumute und bevor sie beide fürchten mussten, dass sie doch vor einander anfangen müssten zu weinen, nahm der Junge hastig, was er bekam, ging auf sein Zimmer und aß es – ganz gleich wie groß und wie viel, ganz gleich, was es überhaupt war – auf.


_________


Warum tut es Burkhard so ohne gleichen weh, an seine Schwester zurückzudenken?
Weil es die einzige Art für Burkhard ist, sich mit einem Gefühl daran zu erinnern, wie es zuhause war. Nur über dieses Gefühl, das jemand anderem gehört, kann er sich selbst anrühren. Natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen.

Was das Photo für Burkhard so bezeichnend macht, ist seine Überzeugung, seine Schwester sei anhand von genau diesem Bild und aus keinem anderen Grund unter allen damals zur Auswahl stehenden Adoptivkindern von der Mutter ausgesucht worden. Er stellt sich dabei das Kinderheim als eine Art Legebatterie vor – –

[allerdings ohne sich zu vergegenwärtigen, dass er dies tut. Täte er dies, würde es ihn verwundern, solch eine Vorstellung sein Eigen zu nennen. Er würde sie in die kindlichen Vorstellungen einreihen, die man noch von Korrekturen gänzlich unberührt mit sich herumträgt. Wie das etwa bis ins 20. Jahr der Fall war in Bezug auf die verrußten Steine, mit denen die Bahndämme aufgeschüttet sind und die er – wohl aufgrund ihrer Farbe und weil er wusste, dass alte Dampflokomotiven mit Kohle angetrieben wurden – für Kohle hielt. Da es viele Jahre keinen Anlass gegeben hatte, diese Vermutung mit dem, der er heute war, abzugleichen, hatte er sie nie revidiert, obgleich er heute nicht einmal mehr im Stande wäre, eine solche Idee hervorzubringen, wie er auch heute nicht mehr in der Lage wäre, seinen Schmerz in solch ein unreflektiertes Gedankenkonstrukt wie das der ‚Kinderlegebatterie’ zu legen, hätte er es sich nicht schon als Kind erfunden]

– – wie dem auch sei, Burkhard stellt sich das Heim als eine Art Legebatterie vor. Die adoptionswilligen Neueltern wurden dabei herbeizitiert und in einen Ausstellungsraum geführt, in dem unzählige Wiegen nebeneinander standen, aus denen überdimensional große Säuglingsköpfe mit rosa und himmelblauen Kappen über den Bastrand schielten: Nimm mich, nein mich, ich und nur ich bin das Schicksal, was nicht aus deinen Organen erwachsen kann.


_________


Dabei hat das Wissen darum, dass die Behauptung, das Photo habe für die Auswahl eine Rolle gespielt, nicht stimmen kann – –

[weil die Schwester auf dem Photo schon viel älter ist als sie es zum Zeitpunkt der Adoption war und Burkhard den Hund als den Hund seiner Großmutter wiederkennt, den er selbst noch gestreichelt hat und der ganze 19 Jahre alt geworden ist, bis ihm an einem heißen Julitag sein verkrebstes Gesäuge geplatzt war und sich über das Lederpolster des violetten Volvos der Tante ergossen hatte]

– – dabei also hat das Wissen um diese Unmöglichkeit keinerlei Macht über den Glauben von Burkhard. Es kann nicht sein, weiß Burkhard. Und doch ist es ihm wahr.

Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben – wenn wir Burkhards also in seinem Glauben folgen, das Photo sei der Grund gewesen, weshalb die Mutter Burkhards Schwester ausgesucht habe, stellt sich immer noch die Frage, was so bedeutsam an gerade diesem Photo ist. Worin liegt seine Macht begründet?

Auf dem Photo ist zu entdecken, was die Schwester versprochen hat zu werden und hält Burkhard es gegen das Licht, das zeigt, wer seine Schwester heute ist, dann weiterhin: was die Schwester nicht geworden ist. Zwischen ihrem Versprechen und meiner Schwester tut sich die Hölle auf, fühlt Burkhard und in diesem Gefühl vermag das Wort ‚Hölle’ ihn erstmals zu grausen.

Heute ist Burkhards Schwester ein Gnom mit kratzigem Kräuselhaar und Brüsten so groß wie anderer Leute Köpfe (z.B. wie die ihrer Kinder). Seit ihrer Sterilisation, die ihr Mann nach dem mehrfach missglücktem Versuch, mithilfe gängiger Verhütungsmittel keine weiteren Babys mehr zu produzieren, angeordnet hat, tummeln sich in ihrer Reihenhaushälfte so viele Haustiere, dass diese begonnen haben sich gegenseitig aufzufressen. Und irgendwo unter ihnen sitzen die vergessenen Kinder, denen jetzt schon die Schuld dafür zugesprochen wird, dass sie heranwachsen, also nicht die weißen Spiegel bleiben, in denen die Schwester das Gesicht sehen kann, das sie verlor, weil sie es nie besaß.


Burkhard kann nicht versuchen, sich auf die Weise Kindheit anzufressen, wie seine Schwester es tut, er muss andere Wege finden. Wenn Burkhard heute eingekauft und alles vertilgt und wieder erbrochen hat – –

[mindestens drei Supermärkte fährt Burkhard dafür ab. Drei, damit die Menge an Lebensmitteln an der Kasse nicht auffällt, dass ihn die Verkäufer nicht erinnern oder falls er auf einen Bekannten trifft. Wenn er schließlich nachhause fährt, werden alle Tüten ins Schlafzimmer verfrachtet, das Burkhard abschließt, obwohl er seit Jahren alleine wohnt und nur er einen Hausschlüssel besitzt. Dann wird noch kurz auf der Bettkante gesessen, dass das Schwitzen und Zittern fortgeht danach noch einmal geprüft, ob die Tür auch wirklich verschlossen ist, und dann alles aufgerissen und hinuntergeschlungen und ins Badezimmer gerannt und wieder herausgebrochen und manchmal verfängt sich eine Erinnerung in dem Erbrochenem und kommt mit hoch und Burkhard würgt sie in die Schüssel und ist sie doch nicht los. Das Ganze wird noch einige Male von vorn begonnen; bis Burkhard elend ist: aber auf glückliche Weise. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich das Elend lohnt]

– – Wenn Burkhard also all diesen Aufwand vertilgt und wieder erbrochen hat, auf dem Bett liegt, alle Viere von sich streckend: ein gehäutetes Tier, dann ist für eine kurze Dauer alle Butter fort. Dann kommen dem Jungen seltsame Sätze in den Kopf.

                                                                      A little bit much summer between the cat                                                    Barbarische Mädchen verstecken ihre Rhabarberherzen
                                                                              Laut Volksauskunft ist der Empfang des Glücks gestört



Und obwohl diese Sätze sich „schräg“ anfühlen, bleiben die Worte leicht und klar und Burkhard braucht nichts zu überwinden, damit das Weinen gelingt, ja, oft – aber das ist wohl dasselbe – hat er nicht einmal Interesse am Weinen, dreht sich auf die Seite, lässt die vertäfelte Wand auf sich zutreiben und heilt sich am Eindruck des braunen Holzes. Holz. Raues, sprödes, gemasertes Holz.


_________


Burkhard muss weinen, da ist so viel Zärtlichkeit für seine Schwester, auch wenn sich nie eine Sprache finden wird, in die sich in einer ehrlichen Bewegung etwas von dieser Zärtlichkeit legen ließe, und doch: Zuletzt bedeutet ihm all dies nur in Hinblick auf eines etwas: In Hinblick darauf, dass das Photo nicht nur die Unzulänglichkeit seiner Schwester, sondern über diese hinaus seine eigene zeigt. Denn auch Burkhard ist nicht geworden, was er versprochen hätte, hätten seine Eltern ihre gestöhnten Träume befragen können.

Versucht Burkhard die Gründe zu erfassen, die ihn zu einem Falschen machen, zerfallen ihm alle Berechtigungen wie ein zu Asche gewordener Gegenstand, den man nach einem großen Feuer das erste Mal berührt. Und dann bleibt ihm nur so etwas wie das Photo.

Ja, er war ein klügeres Kind als seine Schwester, aber davon war kein Gebrauch zu machen, denn er war es auf laute Weise. Und hatte man zuhause auch nicht stumm zu sein, so hatte man doch noch weniger laut zu sein – –

[ irgendwo innen drin ahnt Burkhard, dass jedes Kind zu laut gewesen wäre, aber diese Ahnung folgt erst auf den älteren Glauben, falsch zu sein, und verstärkt ihn so nur umso mehr]

– – von seiner Klugheit also war kein Gebrauch zu machen, denn aufgrund ihrer Lautstärke verriet sie, wer Burkhard war; wie alles verriet, wer er war: Dass er einer war, der zu ungeduldig war, um Milchtüten auf eine solche Art zu öffnen, dass sie nicht beanstandet werden mussten; dass er einer war, der seinen Schwimmbeutel in der Schulumkleide vergaß und dem Lehrer, der nach Wochen den inzwischen durch die Feuchtigkeit von Schimmel befallenen Beutel in den Unterricht mitbrachte, widersprach, dass es seiner sei, obwohl alle wussten, dass es Burkhards war. Dass er einer war, der seinen Hund an seinem Bein rammeln ließ, um darüber zu masturbieren, weil er sonst keinen Eindruck von Lust kannte, aber solch einen Eindruck nötig hatte, weil ihn der Aufwand, der eine bloße Vorstellung bedeutete, zu sehr erschöpfte, um zum Ziel zu gelangen. Kurz und gut, dass er einer war, der maßlos war und auf erbärmliche Weise autistisch gegenüber bestimmten sozialen Mechanismen und Strukturen, was beides dazu führte, dass er sein Verhalten nicht verwirken konnte und darüber, anstatt sich von sich selbst zu befreien, indem er es gut sein ließ, nur noch mehr Dinge tat, die er nicht verwirken konnte und so eben der wurde, der er war: Einer, der vor seiner Mutter zu einem wurde, an dem nichts war, was seiner Mutter es unmöglich machte, Pottsau zu ihm zu sagen – –

[Beide, Mutter und Junge, hatten mit dieser sie beide kompromittierenden Tatsache, dass nichts an Burkhard die Mutter davon abhielt, ihren Sohn so zu beschimpfen, nichts anderes anzufangen gewusst, als Jahre über solche irrelevante Fragen wie z.B., ob die Mutter Pottwal oder Pottsau geschrieen hatte, zu streiten. Burkhard kann bis heute nicht davon ablassen, Überlegungen zu solchen Vorfällen anzustellen. War es nicht doch möglich, dass die Mutter, so wie sie es behauptete, Pottwal gesagt hatte? Es scheint ihm allerdings unglaubwürdig, vor allem, weil das Wort Pottsau ein gebräuchliches Schimpfwort ist und seine Mutter kein Mensch ist, der Schimpfwörter oder überhaupt Wörter erfindet. Andererseits kennzeichnet das Wort Pottsau eher weibliche Personen und Pottwal männliche, es könnte also auch anders gewesen sein und auf diese Weise blühen Burkhards Überlegungen fort und wird er einer müde, so erinnert er sich der nächsten usw.]

– – kurzum: Nichts hielt die Mutter ab, ihren Sohn auf die eine oder andere Weise zu beschimpfen; auf welche Weise dies geschah, war dabei nicht mehr auszumachen und würde es auch niemals sein. Wo bin ich hingekommen, dass es mir Erleichterung verschafft, wenn sie nur Pottwal gesagt hat, steigt es in Burkhards Hals aus der wahrgenommenen Unverhältnismäßigkeit dieser Beschäftigung auf. Nirgends bin ich hingekommen.

Und wenn er dann über das Gefühl, das seiner Schwester gehört, sich selbst anrührt, natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen, dann hat diese Geschichte kein Ende. Dann springt Burkhard unters Wasser, um sich den Hunger wegzuduschen, fährt zur Arbeit, kommt am Abend heim, steht am Fenster, sitzt auf der Bettkante und alles ist in Butter, schwelgt und tropft, rührt und matscht. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel – Häuser! Laken, Uhren, Treppen. Gebirge, Telefonleitungen; Bücher, Spiegelbilder. Und die Stunden tranen in die Tage und die Wochen in die Jahre.
Zuletzt geändert von Lisa am 01.07.2008, 14:06, insgesamt 4-mal geändert.

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 27.06.2008, 20:16

Hallo lisa,

die große Kritik nach vorn. Die unterschiedliche Setzung nervt (mich). Testen Autoren damit, wie gut die Geschichte ist? Wenn der LEser bis zum Schluss trotz der Setzung ankommt, dann taugt sie?

Scherz beiseite, mich hats gestört.

der vor seiner Mutter zu einem wurde, an dem nichts war, was seine Mutter es unmöglich machte, Pottsau zu ihm zu sagen

ein r zuwenig bei was seine(r) Mutter es unmöglich machte?

Die Erzählung aus Sicht von Burkhard ist sehr eindrucksvoll, da sind soviele Bilder, die packen, dass ich nicht zum Auftauchen komme. Die beste ist die

"lässt die vertäfelte Wand auf sich zutreiben und heilt sich am Eindruck des braunen Holzes" das raue gemaserte Holz danach gehört getunkt. Das fällt meilenweit ab.

Das hier ist zuviel erhobener Zeigefinger, zu belehrend für mich

"Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben – wenn wir Burkhards also in seinem Glauben folgen, das Photo sei der Grund gewesen, weshalb die Mutter Burkhards Schwester ausgesucht habe, stellt sich immer noch die Frage, was so bedeutsam an gerade diesem Photo ist. Worin liegt seine Macht begründet?"

Die Murmeltierpassage am Schluss könnte kürzer angerissen werden. Der Wiedererkennungswert ist groß genug dafür.

Sehr gern gelesen

Sneaky

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.06.2008, 20:36

Lieber Sneaky,

ganz schnell (weil ich mich so freu, dass wer die Geschichte trotz ihrer Länge zuende gelesen hat) - ich dachte das selbst schon mit der Setzung, ich probiere das jetzt mal mit gleicher Schrift und hoffe, die Passagen setzen sich trotzdem durch die Klammern ab. In Word sind die Klammerteile nur eine schriftgröße kleiner..das geht hier nicht, daher courier)

Den Fehler merz-merkel-stoiber ich aus!

die zu belehrende stelle - ja wackelkandidat zwei, ich mach öfter so eine erzählperspektive und meistens krieg ich haue dafür :mrgreen: ich merks mal vor ~.

danke, dass es dir gefällt, das ist die hamsterbacke fürs Durchhalten :-)

liebe Grüße,
Lisa

(formatierung paar minuten anders)
edit: so, hab jetzt doch mal kleiner gemacht, ging doch. Irgendeinen Unterschied in der Formartierung braucht es, finde ich.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.06.2008, 06:10

Liebe Lisa,

deine Geschichte liest sich schwerfällig und mühsam. Und das muss so sein. Deine Geschichte ist nicht gefällig, nicht ästhetisch. Und das darf sie auch nicht sein. Deine Geschichte ist keine Geschichte, sondern ein Drama, dessen dramatische Attribute gehäutet werden und das Drama zur Fallstudie degradiert wird.

Durch diese emotionale Häutung entsteht eine kühle Distanz, die sich auf den Leser überträgt, er selbst in Distanz gerät und keine emotionale Berührung zur Figur Burkhard aufnehmen kann. Der Erzähler zwingt den Leser dazu.
Dies ist eine beispielhafte Leistung des auktorialen Erzählers, siehe weiter unten.

Der Titel müsste eigentlich lauten: Bulimia gravis bzw. reduzierter: ICD-10-Klassifizierung xy.

Die Fallstudie wird dem Leser via eines auktorialen Erzählers, spezifizierter: auktorialen Berichterstatters, iff. von mir A.B. genannt, übermittelt. Der A.B. ist der A.B. per se. Er ist nicht nur allwissend, wertet, sondern erhebt seinen Zeigefinger gleich auf mehrfache Weise.
Durch Einschübe wie:
„formulieren wir es also allgemeiner:“
oder
„diese Phantasien also gewannen solchen Raum“
oder „später also zog die Schwester“ etc. etc. (vor allem durch die Worte „also“)

Der A.B. erlangt eine Penetranz, die sich auf ein unantastbares Potest erhöht. Als Leser stellt man sich ein Kolloqium vor, in dem der A.B. berichtet und durch diese Einschübe die Kollegen daran erinnert, an welcher Stelle des Vortrages der A.B. stehengeblieben war, um dann fortzufahren.

Der Gegenstand seines Vortrages ist die Figur Burkhard, dessen Leben er zur Sache degradiert. Das Leben der Figur Burkhard wird notgedrungen und der Vollständigkeit halber (um die Akte „Bulimia Gravis ...“ schließen zu können) erwähnt, jedoch kleingedruckt, in Parenthesen und zudem zerstückelt.

Der A.B. seziert nach und nach konsequent die 5 Schichten der Epidermis der Figur Burkhard. Selbst sein parenthetisches Leben wird seziert bis zu seinen Gedanken, welche wiederum konsequenterweise analysiert und in Frage gestellt werden. Wieder sehr konsequent wird auch der Schmerz expressis verbis auf repetierende Weise zur Schau gestellt, mit vorher "desinfizierten und in Plastik steckenden Händen" herausgerissen aus der Figur B. und gehäutet. Mehr noch, das Recht auf Schmerz wird der Figur B. nicht zugestanden.
(„ Natürlich für den Preis eines schlechten Gewissens, weil das Ziel er selbst ist und Burkhards Seelenbewegung damit am Schmerz seiner Schwester so knapp vorbeizielt, dass man nicht umhin kommt, sie eine unmoralische zu nennen.“)

Der Spiegel, der als Projektionsfläche des Schmerzes der Figur B. angewandt wird (das Photo der Schwester und die Lebensskizzen über die Schwester) wird durch die Camera obscura schließlich zum Daguerreotyp. Solange, bis das Kupfer schließlich zum matten Grau verblasst, das sich auflöst. Dieses procedere vollzieht sich parallel zum erst idealisierten, dann zerbröckelnden Bild und Leben der Schwester.

Die im Text enthaltene Klimax ist so stark und konsequent konzipiert, dass die Fallstudie mit dem Beginn endet, bzw. enden muss! Die Figur B. steckt in einem Teufelskreis, kann nicht „therapiert“, die Akte somit geschlossen werden.

Fazit:
Meisterhaft zeigst du uns hier, wie man das Stilmittel des auktorialen Erzählers bis an die Grenzen, bis zum Erbrechen (um im Kontext der Fallstudie „Bulimia gravis“ zu bleiben) ausschöpft und gleichzeitig eine Klimax zu kreieren, (in der die Kohäsion dennoch stets bestehen bleibt) die der Schwerfälligkeit und nicht präsenten Ästhetik derart trotzt, dass man bis zum Ende lesen muss!
Soweit meine Replik und Lesart.
Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.06.2008, 13:42

Liebe Mucki,

(gerade ist das e aus meinem Laptop halb herausgebrochen, falls es also mal fehlt (...) .-) ); dein Kommntar war mir eine große Freude! Nicht nur, dass er toll geschrieben ist, sehr versiert und treffend, sondern auch, weil ich mich freue, dass du den Fokus auf die Erzählperspektive legst. Denn es ist genau, wie du beschreibst - aber noch kränker: Denn der Erzähler gibt sich ja eben als Nicht-Analytiker aus (darum ist die Stelle, die Sneaky nicht gefällt auch bisher noch wichtig für mich) , das Ziel ist gerade die nicht-medizinische Ebene zu erreichen,erzählen und trotzdem hast du ganz Recht damit, dass es eine Fallstudie ist. Was ich damit erreichen wollte, ist letztlich wohl das Gefühl einzufangen, das Burkhard gegenüber sich selbst empfindet (auch durch Vermischung mit ästhetischen/wundersamen/skurrilen Bildern/Sprache). Ich glaube aus deinem Kommentar herauszulesen, dass dieses Gefühl bei dir genau erzeugt wurde und das freut mich sehr, da ich sehr lange an dieser Geschichte geschrieben habe und sie immr wieder Monate brach lag und ich dachte, sie wird eine von denen, für die man dann irgendwann kein Gefühl mehr hat. Sicher hab ich in dir auch eine prädesdinierte Leserin habe (Newsletter früher erinnere ich) - trotzdem freue ich mich, dass das so aufgegangen ist - du hast den Kern getroffen, den ich angelegt sehen wollte...

großes Danke und liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.06.2008, 14:02

Liebe Lisa,

ich freu mich, dass mein Kommentar treffend war.
Deine "Fallstudie" war eine Herausforderung für mich, gerade weil der Erzähler so überbordend und ja "krank ist", wie du es schreibst, hier die Oberhand hat und dies über den ganzen Text hinweg. Er manipuliert in höchstem Maße. Normalerweise sind ja solche wertenden Erzähler ein Knock-Out-Kritierum für eine Geschichte, doch hier muss er genau so sprechen, wie er es tut. :daumen:
Saludos
Mucki

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 28.06.2008, 22:06

Liebe Lisa,

endlich komme ich zu Deinem Text, bei dem schon im Titel das Thema auftaucht, "Essen als Liebesersatz" (natürlich ist das nicht alles, dafür ist die Geschichte, die ja auch kein Ende hat, viel zu komplex...), und gleich im ersten Satz wird der "Hunger weggeduscht", eine Wendung, die ich sehr beziehungsreich und gleichzeitig bildhaft finde, dann fließt der Text, wie das Wasser unter der Dusche und nimmt dabei die ganze Welt mit, die letztendlich in eine Muschel fließt. Das finde ich sehr konsequent und gelungen in den von Dir benutzten Bildern
(ach so, als kleiner Einschub; ich lese übrigens prinzipiell vorher keine anderen Kommentare, weil mich das beeinflussen würde, dafür ist das immer das Erste, was ich nach dem Absenden tue ;-) )
Diese bildhafte dichte Charakterisierung Burkhards wird im zweiten Absatz noch konkreter, wenn der Leser erfährt, dass Burkard schon lange zu Hause ausgezogen ist und angesichts eines alten Familienfotos, auf dem seine Schwester (mit Bach im Rücken), seine Erinnerung zum Fliessen bringt, eine seltsame, verstörende Erinnerung. Spätestens wenn ich lese, wie Burkard denkt "jedermanns Liebe für sie muss dicht am Töten liegen", vermute ich etwas arg zerstörerisches ung leichzeitig etwas schwer verletztes in Burkards Psyche. (Wobei ich rein praktisch anmerke, dass ich das Kursivsetzen von Worten innerhalb eines Textes generell nicht besonders schätze und es hier überflüssig finde)
Auch der dritte Absatz ist wunderbar poetisch und bildhaft, traumhaft auch.

Und dann kommt der Bruch - Das Erwachen sozusagen, der rationale Kommentar, obwohl auch der traum- und bildhaft formuliert ist, aber als Einwand, als Korrektur, als etwas von außen Eingreifendes. Ich lese diese Kommentare als objektive Richtigstellung, subjektiv gefärbter Wahrnehmungen.
Im nächsten Absatz tuacht dann ein "wir" in der Formulierung auf, eine dritte Erzählebene? Von außen, als Schnittmenge des Empfundenen und aus der Erinnerung berichtigten?
Und das Motiv der Selbstverletzung als letzte Hoffnung auf Rettung, tritt noch klarer zu Tage. Und ja, es ist eine dritte Erzählebene, die Du ja auch gekennzeichnet hast, der normale unmarkierte Text, die eckigen Klammern und die bezeichnenderweise doppelten Gedankenstriche, für diese dritte Ebene.
Und nach dieser Leseart, gewinnt dann auch die Aussage, dass "uns die Dinge auf diese Weise nichts angehen", ihre Stimmigkeit, (ein Satz über den ich beim ersten Lesen gestolpert bin)
Was den Leser angeht, ist zu erfahren, wie und warum Burkard ein "schreiender Fisch" wird. Wieder ein sehr stimmiges Bild für einen Zustand, in dem jemand sein Leid herausschreit, ohne die geringste Möglichkeit jemals verstanden zu werden.
Der Absatz mit dem Vater ist einer der anrührendsten für mich, beinah schmerzhaft, weil hier die Möglichkeit einer Annäherung, einer gegenseitigen Berührung so zum Greifen nahe scheint und dann doch "anstelle von" wie "Butter" zerfliesst.

Ein Beispiel wenigstens will ich zitieren für Dein virtuoses Spiel mit Worten und Bedeutungen "Auf dem Photo ist zu entdecken, was die Schwester versprochen hat zu werden und hält Burkhard es gegen das Licht, das zeigt, wer seine Schwester heute ist, dann weiterhin: was die Schwester nicht geworden ist."
Gegen das Licht gehalten, wird die Wirklichkeit sichtbar, die gleichzeitig aus nicht eingehaltenen Versprechen und einer den Versprechen entgegengesetzten Wirklichkeit besteht. Ich bin ganz vernarrt in solche Formulierungen. Und um noch kurz bei den Formulierungen zu bleiben, die sich gegenseitig auffressenden Haustiere, die Kinder, denen die Schuld dafür "zugesprochen wird, dass sie heranwachsen, also nicht die weißen Spiegel bleiben, in denen die Schwester das Gesicht sehen kann, das sie verlor, weil sie es nie besaß." Das gefällt mir wiederum sehr, gefühlsmäßig, auch wenn ich beim Versuch einer rationalen Leseart nicht sicher bin, ob es verstehbar ist.
Ich hätte jetzt noch ein ganz klein wenig pieseligen Textkram, aber den reiche ich Dir nach, wenn Du magst und schließe jetzt in Anlehnung an ein Zitat aus dieser Geschichte, mit dem Fazit, dass es Dir durchaus über weite Strecken gelungen ist, eine Sprach zu finden, "in die sich in einer ehrlichen Bewegung etwas von dieser Zärtlichkeit legen" läßt.
Ich habe sie genossen, diese Sprache, die zwischen Märchen und Surrealismus schwebt und von wunderbaren Bildern belebt wird.

Einen schönen Samstagabend wünscht Dir
elke

Albert

Beitragvon Albert » 29.06.2008, 18:29

Liebe Lisa,

einen starken Text lese ich hier mit grandiosen Stellen zu Beginn und einem zunächst leichten, dann meiner Meinung aber doch deutlichen Abfall zum Ende. Mucki hat einen Apsekt der Erzählhaltung sehr gut herausgegriffen, die Grundidee dahinter aber noch nicht ganz getroffen. Es stimmt nicht, dass der Erzähler nicht ästhetisiert erzählt oder rein analytisch wäre - allein der Anfang strotzt und trieft ja nur vor Bildern. Darauf macht Elke aufmerksam, die verschiedene Erzähl-Ebenen gut charakterisiert, sie aber meiner Meinung nach zu stark trennt - letztlich würde ich von einem schizophrenen Erzähler sprechen, statt von verschiedenen.

Du schreibst ja selbst an Mucki, dass der Sinn der Erzählung natürlich kein wissenschaftlicher sein kann, der Gestus ja stellenweise ins surrealistisch-phantastische rutscht; gleichzeitig wird hier natürlich die Figur Burkhard durchaus als Fall analysiert. Du schreibst:
Was ich damit erreichen wollte, ist letztlich wohl das Gefühl einzufangen, das Burkhard gegenüber sich selbst empfindet (auch durch Vermischung mit ästhetischen/wundersamen/skurrilen Bildern/Sprache).


Ich glaube, das hat nicht viel (und dann natürlich wieder alles) mit der verwendeten Sprache zu tun, ist sonst aber sehr richtig und kommt auch an. Mucki hat für mich den entscheidenden Aspekt herausgegriffen: das emotionale Selbstbewusstsein des Protagonisten.

Burkhard ist nicht nur krank, er kann auch keine unmittelbare, emotionale Beziehung mehr zu sich selbst herstellen. Er benötigt, wie der Text ja expliziert, irgendwelche Außenreize, um überhaupt zu Gefühlsregungen zu kommen, er scheint diese aber nicht an sich ranzulassen; ihm ist der eigene Schmerz nicht gewährt. Doch gerade darüber perpetuiert sich die Unzulänglichkeit (auch das steht ja im Text).

Wie äußert sich das in der Erzählhaltung? Ich muss Elke wie gesagt widersprechen hinsichtlich einer Trennung der Erzählperspektiven (wobei ich eigentlich gar nicht weiß, ob du, liebe Elke, das so behaupten willst; ich stütze mich dabei z.B. auf dies hier:
wenn der Leser erfährt, dass Burkard [...] angesichts eines alten Familienfotos, auf dem seine Schwester (mit Bach im Rücken), seine Erinnerung zum Fliessen bringt
und die darauffolgende "dritte Ebene"; für mich spricht hier nicht Burkhard und dann, doch, ist die Stimme des Erzählers seine); vielmehr glaube ich, dass die Einheit der Erzählperspektive im Text immer wieder behauptet und zu retten versucht wird, gleichzeitig aber durch "subjektive" Elemente letztlich aber dissoziiert wird.

Schauen wir uns gleich den ersten Abschnitt an. Im ersten Absatz wird die Figur Burkhard in einer sehr bildhaften, sein Lebensgefühl transportierenden Sprache eingeführt und kurz charakterisiert. Die Perspektive zeigt hier schon ihre Ambivalenz - einerseits wird berichtet: Burkhard hebt den Hörer ab, spricht, hat Gedanken etc; andererseits wird durch solche Passagen: "Alles muss in Butter sein, alles muss schwelgen, tropfen, alles rühren, matschen. Tische, Wälder, U-Bahn-Tunnel; – Häuser! Laken, Uhren, Treppen; die Stunden tranen in die Tage in die Wochen in die Jahre." z.B. durch das Ausrufezeichen, die Rhythmisierung und kalkulierte Klangwirkung eine ästhetische Konkretisierung erreicht, die uns die Perspektive Burkhards transportieren kann.
Im zweiten Absatz wird dies fortgeführt: zunächst wird von einem Foto berichtet, sodann wird der Eindruck des Fotos auf Burkhard erzählt. Das hier eine Perspektivoszillation stattfindet, zeigen Muckis und Elkes unterschiedliche Lesarten des Textes: für Mucki ist das Leben Burkhards hier Sache und zu sezierendes Objekt; Elke liest die zitierte Stelle andererseits als Erzählung Burkhards.
Der dritte Absatz kann die Spannung zunächst nicht aushalten - der durch "nicht verhindert zu haben" eingeleitete Gedankenfluss droht, die objektive Perspektive völlig zu sprengen; glücklicherweise für den Text unterläuft der subjektiven Erinnerung ein Fehler, sodass der Erzähler sich dissoziieren kann - die Parenthese kann dem zerbrechenden Text widersprechen. Doch der Widerspruch kann natürlich nicht die ursprüngliche Bewegung des Textes aufrecht erhalten - nach der Parenthese versucht sich der Text in der Kollektivbehauptung - Kollektiv sind hier natürlich Erzähler und Leser. Der nächste Absatz führt dies auf sehr starke Weise fort.

formulieren wir es also allgemeiner: Wenn die Schwester einer Situation nicht gewachsen war, aber Antwort geben wollte, weil man ihr gut sein sollte und sie gelernt hatte, dass es dafür auf das Antworten ankam, und die Mutter sie beschimpfte, als stummen Fisch,
oder ihr die Marmelade in den Schoß warf,
      dass er auf eine Art blutete,
            die nicht rechtfertigte,
                  nach dem von ihr über jedes Maß herbeigesehnten Arzt zu rufen,
            es aber aussehen ließ,
                  als könne es einmal, ein einziges Mal, doch notwendig sein,
                  als bräuchte man nichts anderes zu tun
                        als der weißen Gestalt,
                              die im nächsten Augenblick hastig zur Tür hineingeeilt käme,
                        entgegenzusinken,

wenn also all dies geschah, so verschob die Schwester ihre Rettung in die Nacht. Scheren, kleine Doppelspiegel, Nadeln, Skalpelle, allem voran aber die strengen, mechanisch weißen Hände des Arztes baumelten wie Gestirne hinter ihren flackernden Augenlidern und gewannen an solcher Bedeutung in der Seele der Schwester


Zunächst wird ein Geschehen exemplarisch analysiert, das Verhalten der Schwester ausgeleuchtet, wir haben ein "wenn" und ein "weil", es geht um Begründen, Erklären, Nachvollziehen. Doch nach dem von mir fett markierten Oder geht die Erzählung grammatisch jeder Halt verloren - ein Endlossatz mit einer nicht zu bändigenden Schachtelstruktur schraubt sich dem Kafkaschen "entgegenzusinken" kafkaesk entgegen (man vergleiche seine Erzählung "Auf der Galerie", in der es das schönes Verb "entgegenatmen" gibt).
Der Erzähler kämpft mit der Wiederaufnahme des Wenn-Dann-Satzes förmlich um seine Perspektive, kann sich, so will ich etwas enthusiastisch interpretieren, hier überhaupt nicht mehr dem Einfluss der Perspektive Burkhards entziehen. Erst zum Schluss des Absatzes kommt der Versuch noch einmal auf, sowohl über die Klammer Burkhard fortzurücken als auch sich des Kollektivs (oder Kolloqiums) nochmals zu versichern.

Das ist jetzt alles etwas überspitzt gesagt, zumal der weitere Verlauf der Erzählung diese einfache Gegenüberstellung ziemlich erschwert. Der nächste Absatz etwa nimmt eine gleichermaßen oszillierende Perspektive ein, die Klammerstücke sind aber tendenziell distanziert und erklärend geschrieben, gleichzeitig aber höchst aggressiv, der "Haupttext" versucht zu beschwichtigen ("später also zog die Schwester aus", "Burkhard wurde also ein schreiender Fisch").
Diese Verwebungen setzen sich im ganzen Text fort, im nächsten Absatz z.B. wird sich in der Klammer über die Vorstellungen Burkhards lustig gemacht, die den Haupttext schon völlig infiltriert haben, bis am Ende des vierten Absatzes die Erfahrung Burkhards völlig unmittelbar wird.

Führe ich das mit dem eingangs Gesagten zum Inhalt zusammen, komme ich zu dem Schluss, dass das Krankhafte dieser inneren Spannung der Erzählung darin besteht, dass die beiden Aspekte des Erzählers Aspekte Burkhards sind, bzw. die Spannung und gegenseitige Bekämpfung der Erzählperspektiven sich in der selbstbezogenen Perspektive Burkhards spiegeln. Natürlich ist Burkhard hier nicht so reflektiert, wie der Text über ihn reflektiert - wäre er es, würde er den Text schreiben. ;-) Aber die Erzählstimme drückt den Riss in der Selbstwahrnehmung Burkhards aus - dieser ist ebenso selbstaggressiv, versucht sich in distanzierten Erklärungen seiner Lebensgeschichte und kann, wie der Text ja am Ende, gerade deshalb nicht aus sich heraus. Aufgrund der jetzt doch schon ziemlich imposanten Länge des Kommentars lasse ich weitere Herleitungen und komme gleich zum Kritischen :smile:

Den gesamten letzten Abschnitt finde ich im Lichte meiner Interpretation schwach und ich kann nicht ganz sagen, warum. Mir gefällt grundsätzlich die Idee, den Text sich selbst nicht entkommen zu lassen - aber die Umsetzung empfinde ich als (sprachlich) aufgesetzt (nicht aber als zu viel, wie Sneaky bemängelt), zumal die geringen Veränderungen eher irritieren als erfrischend wirken. Aber schon die Absätze davor sind mir etwas konfus/weinerlich/zu erklärend... Ich bin nicht ganz sicher, da sie natürlich zum Text gehören und in diesem Sinne auch nicht "aus dem Rahmen fallen" - insofern schwer zu kritisieren sind. Vielleicht fehlt mir die sonst so gut umgesetzte Spannung, die die vorigen Abschnitte definierte - hier schlagen ganze Passagen, wie etwa:

denn aufgrund ihrer Lautstärke verriet sie, wer Burkhard war; wie alles verriet, wer er war: Dass er einer war, der zu ungeduldig war, um Milchtüten auf eine solche Art zu öffnen, dass sie nicht beanstandet werden mussten; dass er einer war, der seinen Schwimmbeutel in der Schulumkleide vergaß und dem Lehrer, der nach Wochen den inzwischen durch die Feuchtigkeit von Schimmel befallenen Beutel in den Unterricht mitbrachte, widersprach, dass es seiner sei, obwohl alle wussten, dass es Burkhards war. Dass er einer war, der seinen Hund an seinem Bein rammeln ließ, um darüber zu masturbieren, weil er sonst keinen Eindruck von Lust kannte, aber solch einen Eindruck nötig hatte, weil ihn der Aufwand, der eine bloße Vorstellung bedeutete, zu sehr erschöpfte, um zum Ziel zu gelangen. Kurz und gut, dass er einer war, der maßlos war und auf erbärmliche Weise autistisch gegenüber bestimmten sozialen Mechanismen und Strukturen, was beides dazu führte, dass er sein Verhalten nicht verwirken konnte und darüber, anstatt sich von sich selbst zu befreien, indem er es gut sein ließ, nur noch mehr Dinge tat, die er nicht verwirken konnte und so eben der wurde der er war: Einer, der vor seiner Mutter zu einem wurde, an dem nichts war, was seiner Mutter es unmöglich machte, Pottsau zu ihm zu sagen


Hier scheint mir die Umsetzung formal einfallslos (Aufzählung) und sprachlich schwach. Die verwendeten Bilder und Beispiele sind natürlich gut, aber gleich der erste Satz ist doch komisch. "wie alles verriet, wer er war: Dass er einer war," - und dann wird aber eher aufgezählt, was denn alles verrät, wer er war, aber nicht, was für einer er war. (Natürlich, natürlich lässt sich hier wieder sagen: ja, Burkhard ist eben konfus, steigert sich in bestimmte Sprachlichkeiten hinein usw., ja - aber es überzeugt mich nicht). Ich kann da gern nochmal genauer drüber schauen, wenn du möchtest.

Kleinere Bemerkungen:
am Anfang sind "gelben Unterkunft" und "gelbes Gras" sehr nah - weiß nicht, ob das beabsichtigt ist und daher weiß ich, dass es für mich nicht funktioniert

Die Formulierung "aus dem Familienalbum gelöst hat" finde ich aus zwei Gründen schlecht - es müsste "hatte" heißen und die Wortwahl kommt mir bei aller Sympathie für dein Anliegen hier zu gestelzt vor (zuviel Künstlichkeit untergräbt es nämlich)

Bei "als bräuchte man nichts anderes zu tun als der weißen Gestalt, die im nächsten Augenblick hastig zur Tür hineingeeilt käme, entgegenzusinken" im Kafka-Absatz fehlt ein Komma.

Die Vorstellungen der Schwester gleich danach "gewannen an solcher Bedeutung" - sagt man das so? eher: "gewannen solchermaßen an Bedeutung" oder? (Bin aber peinlicherweise nicht sicher)

Bei den Sofa-Meerschweinchen: "teilzunehmen, damit sie sich ‚etwas’ – Burkhard blieb dieses Etwas immer mysteriös – dazuverdiene" hier wäre eine um-Konstruktion flüssiger?
Der Verweis auf dieses Etwas später im selben Absatz bleibt mir relativ unverständlich bzw. scheint etwas schief

"Was das Photo für Burkhard so bezeichnend macht, ist seine Überzeugung, seine Schwester sei anhand von genau diesem Bild und aus keinem anderen Grund unter allen damals zur Auswahl" - hier finde ich "bezeichnend" schwach gewählt.

"War man lauter, als man es sein wollte, dann bestand über diese Hässlichkeit die Hoffnung," = sein wollte? sein sollte?

Den Satz der verwaisten Babys:
"Nimm mich, nein mich, ich und nur ich bin das Schicksal, was nicht aus deinen Organen erwachsen kann." empfinde ich als "zuviel" und unnötig (aber da kann es natürlich immer sein, dass man etwas nicht versteht)

"Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben" Diese Passage hat ja Sneaky als zu belehrend verstanden - es sollte klar sein, dass gerade solche Passagen für meine Deutung oben wesentlich sind. Diese ist außerem schön ausgedrückt; dennoch: was haben Psychoanalytiker (in dem von dem Satz behaupteten Sinne) mit Fakten zu tun?

in einer eckigen Klammer am Schluss: "sitzt dem älteren Glauben, falsch zu sein, auf" - korrigiere mich, aber ist "jemandem aufsitzen" nicht so etwas wie "getäuscht werden durch"? Du meinst aber eher "wird überlagert" oder "setzt sich drauf" - oder nicht? Vielleicht verstehe ich auch einfach nicht, wie sich die unterschiedlichen "Glauben" hier täuschen sollen.

Diese Passage am Ende "Kurz und gut, dass er einer war, der maßlos war und auf erbärmliche Weise autistisch gegenüber bestimmten sozialen Mechanismen und Strukturen, was beides dazu führte, dass er sein Verhalten nicht verwirken konnte" sehe ich als weiteren Beleg für meine These der Schwäche - "soziale Mechanismen und Strukturen" ist hier durch die Perspektive nicht gefangen und gleichzeitig ist meiner Meinung der Bruch hier durch die Textbewegung nicht gerechtfertigt.

Nach dem Sauwal am Schluss gibt es auch noch das hier: "Wo bin ich hingekommen, dass es mir Erleichterung verschafft, wenn sie nur Pottwal gesagt hat, stieg es in Burkhards Hals" - es muss doch wohl "steigt" heißen, oder?

Das war und ist spannend!

Liebe Grüße,
Albert
Zuletzt geändert von Albert am 02.07.2008, 22:06, insgesamt 2-mal geändert.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 29.06.2008, 20:35

Liebe Lisa, lieber Albert,

ich finde es grandios wie fundiert hier kommentiert und diskutiert wird. Und bin sofort überzeugt von Deiner Interpretation, Albert:

letztlich würde ich von einem schizophrenen Erzähler sprechen, statt von verschiedenen.


Das trifft es sehr viel besser als meine anfängliche Leseart. Und auch die von Dir gezogene Konsequenz:

vielmehr glaube ich, dass die Einheit der Erzählperspektive im Text immer wieder behauptet und zu retten versucht wird, gleichzeitig aber durch "subjektive" Elemente letztlich aber dissoziiert wird.


finde ich sehr einleuchtend. Ich komme mir jetzt auch nicht wirklich dumm vor :neutral: , sondern eher wie jemand, der hier noch ganz viel lernen kann.

elke

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 01.07.2008, 14:03

Liebe Xanthippe,

ich hab mich sehr über deinen ausführlichen Kommentar gefreut und dumm musst du dir doch nun wirklich nicht vorkommen - ich glaube, du hast den Kern der Geschichte ganz genau erspürt und es war eine Freude deine Interpretation aus Analytik und Textzitaten zu lesen. Und im Grunde hast du die gespaltene Erzählperspektive, das Gespaltene daran erkannt, ich meine der Lesart nach und vor allem, dass sie den Text ausmacht. Mehr dazu dann vielleicht bei Albert, sonst wird es zuviel :-).
Ich würde gern mal von dir eine Geschichte lesen, wo ich doch "Regen" kenne...dürfte ich/wir?

Zur Kursivsetzung: In so überzeichneten Texten kann ich es mir, trotz regelmäßiger Kritik, leider (noch?) nicht abgwöhnen - wahrscheinlich hast du aber Recht.

Und: Gerne Details nachschicken, bei so langen Texten ist jeder Fehlerfund eine Riesenhilfe..da bleiben immer noch welche drin..


Lieber Albert,

hilfe! :blink2: :smile: . Du hast mir natürlich eine Riesenfreude gemacht mit deinem Beitrag - das ist so schön! Aber wie antworte ich jetzt nur angemessen? :pfeifen:
Erstmal bin ich in Bezug auf die Erzählperspektive froh, dass es sich bei diesem Text um einen bewusst konstruierten Text handelt. Das heißt: Ich kann nicht nur sagen: Ja, ich kann deinem Kommentar im Nachhinein folgen, es erscheint schlüssig, entspricht meiner Intention, sondern ich erkenne in deiner Beschreibung mein Konzept wieder. Ich weiß nicht, ob ich den Erzähler einen schizophrenen Erzähler nennen würde, weil das so pathologisch klingt und auch nicht erzähltkompositorisch sondern inhaltlich klingt, aber du hast die verschiedenen stränge genau erspürt...ich würde es, owbohl es natürlich nur um Burkhard geht, wohl doch von verschiedenen Erzählebenen bzw. -horizonten sprechen, die allerdings nur scheinbar hierarchisch geordnet sind - in Wirklichkeit sind sie alle gleich determiniert von Burkhardts Schmerz. Ich freu mich sehr, dass das herauszulesen ist (und hier ist wohl auch der Unterschied zu Mucki bzw. eher Elke: dass du gesehen hast, das das Objektive nur scheinbar distanziert ist.). Auch die Motivation diese rzählperspktive, dann wieder mit absurden/ästhetisierten/wundersamen Stellen zu brechen war genau der Plan.

Zur Schwäche des letzten Abschnittes: Da ich Texte immer in Durchläufen (bis stelle x, dann wieder von vorne durchgehen, dann bis y, wieder von vorne durchgehen usf.) schreibe, stimmt dein Gespür sicherlich. Gegen Ende werde ich immer zu ungduldig, dass der Text fertig ist. Darauf kann ich jetzt aber nicht so schnell reagieren, gib mir 1/2 wochen, dann melde ich mich hier nochmal mit einer Überarbeitung. gut wäre es, wenn du mir vielleicht genaue hinweise geben könntest, wo fehler in der komposition der erzählperspktive vorliegen, die erzählschwächen ansonsten hast du ja benannt. ich werde versuchen, sie dort, wo ich dir zustimme, sie zu überarbeiten. aber das dauert natürlich.


Noch ein paar Fragen zu den Details (die anderen hab ich so übernommen:)

Die Formulierung "aus dem Familienalbum gelöst hat" finde ich aus zwei Gründen schlecht - es müsste "hatte" heißen und die Wortwahl kommt mir bei aller Sympathie für dein Anliegen hier zu gestelzt vor (zuviel Künstlichkeit untergräbt es nämlich)


wie beschreibt man es sonst? mir fällt nur ein, es zu streichen, aber dann wird es karg? oder fällt es nicht auf?

Die Vorstellungen der Schwester gleich danach "gewannen an solcher Bedeutung" - sagt man das so? eher: "gewannen solchermaßen an Bedeutung" oder? (Bin aber peinlicherweise nicht sicher)


ich finde meinen ausdruck korrekt.

Bei den Sofa-Meerschweinchen: "teilzunehmen, damit sie sich ‚etwas’ – Burkhard blieb dieses Etwas immer mysteriös – dazuverdiene" hier wäre eine um-Konstruktion flüssiger?
Der Verweis auf dieses Etwas später im selben Absatz bleibt mir relativ unverständlich bzw. scheint etwas schief


ja, aber da sind schon soviele um's, darum änderte ich es. und zum späteren verweis: ja, hab ich schon ca. 40 Mal geändert, aber s wird nichts - hast du eine Idee?


"Was das Photo für Burkhard so bezeichnend macht, ist seine Überzeugung, seine Schwester sei anhand von genau diesem Bild und aus keinem anderen Grund unter allen damals zur Auswahl" - hier finde ich "bezeichnend" schwach gewählt.


ich finde, es passt zur rzählhaltung. würde sowas wie "unersetzlich" oder "bedeutsam" wirklich besser sein? mir fällt nichts besseres ein.



"War man lauter, als man es sein wollte, dann bestand über diese Hässlichkeit die Hoffnung," = sein wollte? sein sollte?


wollte - das sollte stimmt natürlich auch (siehe absatz), aber hier geht es ums Wollen.
"Nimm mich, nein mich, ich und nur ich bin das Schicksal, was nicht aus deinen Organen erwachsen kann."


wenn ich ihn streiche ist die stelle zu unausgestaltet, finde ich. er soll ja durchaus auch unfreiwllig komisch sein, an der grenze = relativierung der rzählperspektive

"Aber selbst wenn wir den Fakten nicht das Gewicht zuschreiben, was ihnen allgemein zugestanden wird – was uns leicht fällt, weil wir uns auf unseren Stühlen nicht zu Psychoanalytikern zurechtgerückt haben" Diese Passage hat ja Sneaky als zu belehrend verstanden - es sollte klar sein, dass gerade solche Passagen für meine Deutung oben wesentlich sind. Diese ist außerem schön ausgedrückt; dennoch: was haben Psychoanalytiker (in dem von dem Satz behaupteten Sinne) mit Fakten zu tun?


na ja, sie würden schon bhaupten, dass sie wissenschaftlich vorgehen? und burkhard in seinem trotzdem-gfühl eher nicht?

in einer eckigen Klammer am Schluss: "sitzt dem älteren Glauben, falsch zu sein, auf" - korrigiere mich, aber ist "jemandem aufsitzen" nicht so etwas wie "getäuscht werden durch"? Du meinst aber eher "wird überlagert" oder "setzt sich drauf" - oder nicht? Vielleicht verstehe ich auch einfach nicht, wie sich die unterschiedlichen "Glauben" hier täuschen sollen.


ja, ich glaub du hast Recht. habs versucht zu ändern.


Habe ich etwas vergessen?

Dann bitte melden.

Überarbeitete Version steht oben. Da ich den Quelltext immer überarbeiten muss (Leerzeichen), hab ich jetzt nicht die bisher ja nur kleinsten Änderungen durch das Einstellen einer zweiten Version dokumentiert, ich denke, das ist OK. Nach längerer Überarbeitung des letzten Teils mach ich das anders.

Danke für diese schreiblustweckenden Kommentare :blumen:

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 01.07.2008, 19:33

Hallo Lisa,

- ohne die vorherigen Kommentare gelesen zu haben -

Eine eigenwillige Psychostudie.
Nennt man so was etwa sich total in etwas hineinversenken?

Gruß,
Stefan

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 02.07.2008, 00:06

Lieber jondoy,

Nennt man so was etwa sich total in etwas hineinversenken?


wie meinst du das?


Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon jondoy » 02.07.2008, 07:42

(OT: ..o.k. ich geb mich `anredemäßig` geschlagen, weil du so lange schon unbeirrbar fest dran festhältst : - ) Also ab heute nicht mehr Hallo sondern..)

Liebe Lisa,

Ich meine in den Charakter bzw. in die Gedankenwelt dieses Burkhard.
Der Text seziert geradezu alles. Es kommt mir so vor, als wenn er sich in die Psýche dieses Menchschen hineinversetzt und nicht mehr loslässt.

Die Geschichte dreht sich für mich gefühlsmäßig nicht im Kreis, sondern um einen Punkt, ich kann das nicht besser beschreiben, auch wenn es das nicht genau ausdrückt, weil mir die Worte dafür fehlen, daher haben diese Worte von mir den Charakter eines Smileys, das nicht richtig dazupasst, es ist für mich eine "Standgeschichte", die sich auf eine seltsame Art und Weise nicht "bewegt",
vielleicht dreht sich die Geschichte ja um den "Standpunkt", den dieser Burkhard da hat. Vielleicht ist es gar keine Geschichte (Geschichte bedeutet für mich Fortgang; für mich ist das, was da vor mir steht, eine Analyse; gleichwohl hat sie keine kryptische Komponente, sie bewegt sich zwar ein kleines bischen, man erfährt beispielsweise, wie das Leben der kleinen Schwester später verläuft, aber das ist in meinen Augen auch nur die Beschreibung einer späteren Auswirkung, hervorgerufen durch den "Istzustand" dieser Familie.

Mir ging es jedenfalls so, immer dann, als ich dachte, jetzt hast du wirklich alles darüber ausgesagt, hast du wieder damit angefangen, mit dem Sezieren, das ist schon hartnäckig mit einem Thema auseinandergesetzt, du lässt nicht locker, wer diese Geschichte durchliest, muss sich das immer wieder anhören,
wie Mucki es bereits mit anderen Worten ausgedrückt, aber vielleicht ganz anders gemeint hat, hat, es ist für mich Leser unangenehm und mühsam, sich das zu Gemüte zu führen.
Du leuchtest seine Psyche so aus, hinterfrägst sie dermaßen, dass ich mir beim Lesen denke, o je, o je.

Gleichwohl blitzen zwischendrin immer wieder poetische Momente auf, die in keinem Bericht aufgeführt würden, aber die werden von dem anderen so überlagert, dass sie "unterwegs" (während des Lesens des gesamten Textes) wieder verblassen, man sie am Ende fast vergisst, beispielsweise:

Zitat:
"Sie ist dem Photographen fliegend zugewandt. Das schwarze Haar ist kräftig, als bekäme sie auf dem Land zu essen, hätte drei Brüder und trüge Zöpfe; sie lächelt, steht in den Strahlen eines Lichtes, wie es auf deutschen Landschaftsgemälden zu finden ist: Ein Reh, so schaut sie aus; weich, wach und zum Verbergen wollen zart – jedermanns Liebe für sie muss dicht am Töten liegen."

oder

"A little bit much summer between the cat
Barbarische Mädchen verstecken ihre Rhabarberherzen
Laut Volksauskunft ist der Empfang des Glücks gestört"

Dieser Kontrast ist auch irgendwie berührend.

Ich find es übrigens wichtig, dass du die Geschichte mit "Groß- und Kleinschreibung" strukturierst, das hat mich überhaupt nicht gestört, im Gegenteil, ich glaub ohne dass hätte ich das Lesen nicht durchgehalten..
(man könnte auch mit anderen Mitteln arbeiten, vielleicht mit unterschiedlichen Schriftarten, oder verschiedenfarbigen Schriften, aber ob das besser wäre, weiss ich nicht, die gewählte Art ist schon sehr wirkungsvoll, find ich, jedenfalls eine Strukturierung halt ich (für die bessere) Lesbarkeit bei diesem Text hier für unerlässlich. Man kann so auch die Stimmen (die Erzählstimme, die innere Stimme), besser unterscheiden, find ich).

Es ist schon ein sehr eigenwilliges Werk, finds schon erstaunlich, wie tief du dich da hineinversetzen kannst.
Der Text wirkt auf mich sehr ambivalent. Er entzieht sich dem Konsumieren.

Gruß,
Stefan

Albert

Beitragvon Albert » 02.07.2008, 22:53

Liebe Lisa,

danke auch für die schöne Rück-Rückmeldung!

Deine erste Bitte ist relativ schwierig für mich zu erfüllen; dein Text ist ja relativ lang und die Erzählperspektive durch ihre Verschränkung schon schwer zu bestimmen; ganz zu schweigen von dem Versuch, zu beurteilen, wann du ein bestimmtes Konzept, das man ja nur aus dem ganzen Text herauslesen kann, gut oder schlecht umsetzt.

Meiner Meinung ist das Problem vielleicht eine abnehmende/fehlende Perspektivspannung im Vergleich zu den anderen Teilen. Denn letztlich lebt der Gestus des Textes ja von dieser Relativierung; er ermöglicht, dass du verschiedene Stilelemente benutzen kannst und es dennoch ästhetisch aufgehoben ist. Hier scheint mir an einigen Stellen gerade diese Aufhebung zu fehlen (siehe die erste Detail-Anmerkung gleich).

Woran man das vielleicht auch sehen kann, ist hier:

War es nicht doch möglich, dass die Mutter, so wie sie es behauptete, Pottwal gesagt hatte? Es scheint ihm allerdings unglaubwürdig, vor allem, weil das Wort Pottsau ein gebräuchliches Schimpfwort ist und seine Mutter kein Mensch ist, der Schimpfwörter oder überhaupt Wörter erfindet. Andererseits kennzeichnet das Wort Pottsau eher weibliche Personen und Pottwal männliche, es könnte also auch anders gewesen sein und auf diese Weise blühen Burkhards Überlegungen fort und wird er einer müde, so erinnert er sich der nächsten usw.


Hier finde ich die monologisierten Sätze sehr unbeweglich, ungeschickt: "andererseits... eher.., es könte als auch anders..." Das ist sozusagen die Implosion des Stils :smile: Und hier trifft beides zu: weder lässt sich diese Ungeschicktheit auffangen, weil der Rest nicht dynamisch genug ist, noch kann dieser Teil (aufgrund seiner Ungeschicktheit?) diese Dynamik erzeugen. Bin gespannt auf deine Überarbeitung! :mrgreen:


Außerdem nochmal kurz zu den Details. Zunächst hast du, soweit ich sehe, meine Anmerkung zu der Formulierung "soziale Mechanismen und Strukturen" übergangen, die ich hier wie gesagt unpassend finde; sie klingt für mich wie eine Stilüberschreitung, als hättest du plötzlich ernsthaft angefangen von der ICD-10-Klassifikation zu schreiben (dies steht für mich im Zusammenhang mit der eben erwähnten fehlenden Spannung innerhalb der Perspektive).

Zu deinen Fragen:

Das Familienalbum solltest du nicht streichen; wie gesagt, es ist ja nur mein Empfinden, und das würde hier zu blassen Formulierungen wie "aus dem Familienalbum genommen" tendieren.

"gewannen an solcher Bedeutung" - wie gesagt, ich bin nicht sicher, aber ich kenne nur: "gewannen an Bedeutung" und "gewannen solche Bedeutung" (wobei ich die letzte Formulierung im Verdacht habe, ein illegales Derivat der ersten zu sein) - "gewannen an solcher Bedeutung" hakt bei mir, aber wenn du es angesichts der Gegenüberstellung darauf bestehst, bin ich auch schon still :smile:

Bei den Meerschweinchen sehe ich nur davor ein "um", und das ist nicht mal ein richtiges Zweck-um - würde ich so lassen. Den Verweis auf das Etwas finde ich deshalb komisch, weil er keinen Sinn gibt; insofern habe ich auch keine Idee, wie du diesen besser ausdrücken kannst. (Es gibt keinen Sinn für mich, weil du ja sagst, sie wollte sich "etwas dazuverdienen" - warum hält man dazu - also zu Geld - später noch eine Beziehung aufrecht? Das verstehe ich einfach nicht.)

Hab den Wollte-Sollte-Satz verstanden! aber: "war man lauter, als man es sein wollte" - es? es weg?

na ja, sie würden schon bhaupten, dass sie wissenschaftlich vorgehen? und burkhard in seinem trotzdem-gfühl eher nicht?
- hm. Seit wann hat Wissenschaft mit Fakten zu tun? :-) Ernsthaft, mich irritiert an dem Satz, dass Psychoanalytiker sich ja dadurch auszeichnen sollen, dass sie es mit Fakten zu tun hätten; ich würde da nicht so einen scharfen Unterschied sehen zu Burkhards Tätigkeit, gerade, was deren Grundlage angeht. - Also, natürlich ist da ein Unterschied und man kann ja den Gegensatz durchaus aufmachen, aber der Satz scheint gerade Psychoanalytiker als Paradigma der Faktensammler zu kennzeichnen, was nicht meine Assoziation wäre.

Den Waisenkinder-Satz: es hindert dich ja nichts daran ihn zu ersetzen durch andere Ausgestaltungen; ich fand, er klang schon arg lächerlich und dabei seltsam ausdrucksarm.

Übrigens: ich habe bei meinem Zitat deines Kafka-Satzes jetzt die Formatierung wieder richtiggestellt, die war durch einen Edit verloren gegangen (gibt es eigentlich noch eine einfachere Einrückfunktion als über diese unsäglichen Leerzeichen?) - jetzt macht Sinn, was ich darunter schrieb.





Liebe Xanthippe!

Dank dir für die schönen Worte; ob ich wirklich gut argumentiert habe, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass ich in diesem Fall jedenfalls ohne eine Kontrastfolie wie deiner Lesart gar nicht auf meine eigene These gekommen wäre (und Lisa scheint sich in diesem Punkt ja tendenziell eher dir anzuschließen! Ist zwar falsch, aber das ist Autorenrecht :smile: obwohl ich eigentlich nicht weiß, ob wir da wirklich anderer Meinung sind, womit wir wieder bei den Argumenten wären)

Liebe Grüße,
Albert


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