Der im Gesicht hat eine Mutter

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 10.07.2008, 11:06

Der im Gesicht hat eine Mutter


An der Wand hängt der letzte Ballon. Rosarot über dem Loch in der Wand. Wenn er zerplatzt, wird das Loch mich einsaugen. Unter die Oberfläche. Und mich begraben unter dem, was hinter dem Berg gehalten wird. Haltlos, uferlos. Überschwemmt. Mich.
Tränenschleier. Regenflüsse auf den Scheiben.
Die die Sonne trocknet, oder die Mutter, mit dem fadenscheinigen Taschentuch, umhäkelt von der Großmutter.

Immer hat eine Mutter eine Mutter. Vielleicht auch einen Vater. Wenn er nicht gefallen ist, im Krieg, oder in die Unterwelt, oder einfach aus dem Rahmen. Ausgeschert, nicht nur der Nacken.

Hart und aufrecht wie die Bartstoppeln im Gesicht des Großvaters, die lang werden und nachgiebig, während Großmutter Taschentücher mit rosaroten Rändern umhäkelt, lange bevor sie fadenscheinig werden.

Und der Wind zeigt sich im Kinderkleid und bläst Ballons auf. Einer davon rosarot. Und hängt an der Wand als letzter.
Zuletzt geändert von Xanthippe am 19.07.2008, 14:46, insgesamt 1-mal geändert.

Perry

Beitragvon Perry » 10.07.2008, 17:19

Hallo Xanthippe,
ich lese deinen Text als das Klagelied eines "Mädchens", das als letzte einer Familie alle Generationserinnerungen in sich trägt und Angst hat, dass diese sie verschlingen, ihr die Luft nehmen zum Atmen.
Die "Bildverschlingungen" gefallen mir gut, auch wenn ich das Titelbild nicht auflösen kann. Gern gelesen!
LG
Manfred

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 13.07.2008, 17:40

Hallo Manfred,

ich danke Dir jetzt endlich für Deine Stellungnahme. Und dafür, dass Dir die Bildverschlingungen gefallen, ohne dass Du das Bild ganz auflösen kannst. Stört Dich das denn, also schmälert es das "gern gelesen"?
viele Grüße
xanthippe

Perry

Beitragvon Perry » 13.07.2008, 20:14

Hallo Xanthippe,
man muss nicht alles verstehen, um einen Text gut zu finden. Natürlich stellt sich die Frage, wer ist der, der im Gesicht eine Mutter trägt. Vermutlich je - der!
LG
Manfred

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 14.07.2008, 11:08

Hallo Manfred,

nett, dass Du Dich noch einmal gemeldet hast.
Aber ihr anderen dürft auch gerne :welcome:
Auch mit Kritik. Her damit
xanthi

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 15.07.2008, 13:38

Hallo Elke,

du hast ja nach Kritik gerufen, und schon ist sie da. ;-)

Der Titel gibt ein Rätsel auf, man fragt sich, wer ist denn „der im Gesicht“ (ein Fleck, ein Ausdruck...) Also gehe ich in die Geschichte rein mit der Erwartung, dass sich das Rätsel entweder auflöst oder es für mich durch die Erzählstruktur oder die Geschichte begründet wird. Beides geschieht aus meinen Augen nicht. Das Rätselhafte ärgert mich dann mehr, als dass es Anreiz bietet.

Der Einstieg erinnert mich erst mal an einen Kindergeburtstag. Da ich davon ausgehe, dass die Farbe nicht beliebig gewählt wurde, der eines Mädchens. Das Einsaugen ist ein starkes Bild, allerdings verwirrt mich der Spiegel, weil ich gar nicht weiß, wo er auf einmal herkommt.
Hier würde ich mich entweder für das Loch oder lieber für den Spiegel entscheiden.

Das Begraben mit dem, was hinter dem Berg gehalten wird, gefällt mir als Bild, auch wenn es mir nicht wirklich neue erscheint (kann ich aber nicht beweisen :-)) Allerdings beißt sich begraben (etwas Festes) und überschwemmen (etwas Flüssiges) für mich. Ich würde auch hier lieber in einem Bild bleiben.

Wie Tränen aus den Augen.

Das finde ich in dieser ansonsten angenehm sachlichen Sprache viel zu deutlich und auch mit dem „Wie“ Anfang nicht sonderlich schön formuliert. Würde ich ersatzlos streichen.
Die Regenflüsse auf den Scheiben könntest du ev. in Bezug zum Spiegel setzen.
Warum das „fadenscheinige“ und das „umhäkeln“ zweimal benannt werden muss, habe ich nicht so ganz verstanden. Fänd ich feiner, wenn es hier ein fadenscheiniges Taschentuch wäre und die häkelnde Großmutter in der zweiten Taschentuchstelle, den Rest kann sich der Leser dann selbst denken.

Immer hat eine Mutter eine Mutter. Vielleicht auch einen Vater. Wenn er nicht gefallen ist, im Krieg, oder in die Unterwelt, oder einfach aus dem Rahmen. Ausgeschert, nicht nur der Nacken.


Das bleibt so im Allgemeinen, dass ich mich frage, warum mir das nun in dieser Geschichte erzählt wird, ich fände hier einen konkreten Bezug besser. Auch stehen mir sonst die Wortspielereien zu sehr im Vordergrund. Ich könnte mir das in diese Richtung denken:

Jede Mutter hat eine Mutter und meine auch einen Vater, der nicht gefallen ist, auch nicht ausgeschert, nur im Nacken.

Hart und aufrecht ist er, wie die Bartstoppeln in seinem Gesicht, die lang werden und nachgiebig, während Großmutter die Taschentücher mit rosaroten Rändern umhäkelt.


Und der Wind zeigt sich im Kinderkleid und bläst Ballons auf. Einer davon rosarot. Und hängt an der Wand als letzter.


Das Ende gefällt mir, auch mit der Endlosschleife zum Anfang, die ich hier inhaltlich gut getragen sehen.

So, kritische Betrachtung beendet. Das hab ich gern gelesen und kommentiert. :-) Vielleicht ist ja wieder was für dich dabei.

liebe Grüße smile

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 15.07.2008, 15:40

Hallo Smile,

fein, dass Du meinem Aufruf so schnell gefolgt bist.
Und Dein Unbehagen anlässlich des Titels kann ich nachvollziehen, obwohl er für mich inzwischen einen Sinn ergibt, den ich auch im Text wiederfinde. Ich war auch ziemlich unsicher, wohin der Text eigentlich gehört, erst hatte ich ihn ins freie Weben gestellt, weil er sich so auch anfühlte für mich, andererseits ist er natürlich in keiner Weise ein Gedicht. Ich tue mich schwer damit, Schubladen zu finden.
Also, dass Du an einen Kindergeburtstag gedacht hast, noch dazu an den von einem Mädchen, finde ich jedenfalls hervorragend, denn genau daran habe ich auch gedacht und von da an habe ich den Faden losgelassen (meiner Hoffnung und Leseart nach ohne ihn zu verlieren), so dass für mich der Widerspruch zwischen begraben und wegschwemmen kein Problem ist, das Denken ist häufig wiedersprüchlich und bewegt sich doch im Kreis.
Deine Tränenanmerkung finde ich sehr hilfreich, das ist wirklich keine schöne Stelle. Hab ich schon geändert.
Deinen Vatervorschlag hingegen kann ich nicht übernehmen, weil Dein Satz etwas ganz anderes aussagt, wenn er sich auf einen bestimmten Vater bezieht, und das ist nicht, was ich sagen wollte.
Auch das Fadenscheinige ist mir wichtig zweimal zu erwähnen, weil ich mindestens zwei Bedeutungen damit verbinde.
Natürlich hast Du Recht, dass hier eigentlich keine richtige Geschichte erzählt wird, andererseits wollte ich einen Teil aus der großen immer gleichen Geschichte erzählen damit...
Wie auch immer, vielen Dank für Deine Auseinandersetzung
xanthippe

Rala

Beitragvon Rala » 17.07.2008, 22:01

Hallo Xanthippe,

jetzt schleiche ich schon eine Woche um diesen Text herum und versuche, ihn mit dem Verstand aufzudröseln, was mir nicht restlos gelingt. Ich vermute, das soll es auch gar nicht. Jedenfalls verstehe ich ihn gefühlsmäßig irgendwie, und er fühlt sich für mich sehr schön an.

Liebe Grüße,
Rala

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Beitragvon Xanthippe » 18.07.2008, 09:16

Hallo Rala,

ich freue mich riesig, über Dein Herumschleichen ebenso wie über das gefühlsmäßige Verständnis.
Danke!

xanthippe

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 18.07.2008, 14:12

Liebe Xanti,

(keine vorherigen Kommentare gelesen)

dann will ich mal hier ansetzen, weil du darum gebeten hast (vielleicht schaff ich es gleich noch zu einem anderen Text einen Kommentar abzugeben, den ich mir eigentlich zum Kommentieren ausgeguckt habe, weil er mir so gut gefiel).

Grundsätzlich: Ich kann in diesem Text erneut erkennen, dass da jemand erzählt, der nicht dem Druck unterliegt, etwas Großes in einer großen Form erzählen zu müssen - das ist meiner Meinung schon mal eine Stärke, die man kaum lernen kann. Ich spüre also schon dies, was nach Menschen, nach Wirklichkeit riecht, was ich so gern hab, besonders an Kurzprosa. Nicht zuletzt der feine Titel kündigt das an.

Sprachlich wirkt dieser Text auf mich aber noch nicht ganz ausgefeilt. Vor allem mit den Wortspielen kann ich nichts anfangen, ich sehe nicht die Wirkkraft, also den Sinn dieser Gestaltung. Auch finde ich, könnte der Text es wagen eine Spur unkonkreter zu erzählen, das würde ihn in meinen Augen weiten.

Im Detail:

An der Wand hängt der letzte Ballon. Rosarot über dem Loch in der Wand. Wenn er zerplatzt, wird das Loch mich einsaugen.

Hinter den Spiegel. (? wo kommt der spiegel her? ich kann mir das räumlich nicht vorstellen)

Und mich begraben unter dem, was hinter dem Berg gehalten wird. (dass ein loch einen begräbt finde ich sprachlich schief, das wortspiel mit hinter dem berg halten gefällt mir sprachlich auch nicht)


Haltlos, uferlos. Überschwemmt. Mich. (schon wieder ein bildwechsel, loch, begraben, uferlos überschwemmt - zuviel bildwechsel, das wirkt sprachlich nicht gehalten/sicher)

Wie die Tränen aus den Augen. Regenflüsse auf den Scheiben.
Die die Sonne trocknet, oder die Mutter, mit dem fadenscheinigen Taschentuch, umhäkelt von der Großmutter. (das wortspiel mit dem fadenscheinig mag ich auch nicht)

Immer hat eine Mutter eine Mutter. Vielleicht auch einen Vater. Wenn er nicht gefallen ist, im Krieg, oder in die Unterwelt, oder einfach aus dem Rahmen. Ausgeschert, nicht nur der Nacken.

Hart und aufrecht wie die Bartstoppeln im Gesicht des Großvaters, die lang werden und nachgiebig, während Großmutter Taschentücher mit rosaroten Rändern umhäkelt, lange bevor sie fadenscheinig werden. (die wiederholung des fadenscheinig stört mich dann noch einmal, weil die dopplung keinen effekt hat, sondern nur schon bekannt ist und eh schon nicht originell)

Und der Wind zeigt sich im Kinderkleid und bläst Ballons auf. Einer davon rosarot. Und hängt an der Wand als letzter.


Anfang, schlichte Details mit Wirkkraft, Titel, Art des Themenausdrucks und Endzeilen sprechen mich sehr an

Vielleicht ist ja was dabei, was du gebrauchen kannst.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Estragon

Beitragvon Estragon » 18.07.2008, 14:30

Ja du hast gut daran getan das "fadenscheinig" zweimal zu erwähnen, beim ersten mal ist es mir nämlich auf eine Art in die Augen gesprungen, dass ich schon, wenn auch leise rief, nun aber weg mit diesem fadenscheinigen, das Taschentuch klann ja ruhig bleiben, aber dann taucht es nochmal auf und deshalb ist es an mir dir für diesen Text zu danken.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 19.07.2008, 14:49

Hallo Lisa,

danke für die Rückmeldung. Besonders für das hier:

Lisa hat geschrieben: Auch finde ich, könnte der Text es wagen eine Spur unkonkreter zu erzählen, das würde ihn in meinen Augen weiten.


Eine spannende Idee, dem Text die augen zu weiten, indem er sich auf mehr Unkonkretes einlässt. Kannst du das noch ein bisschen näher erläutern?

xanthippe

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 19.07.2008, 20:45

Liebe Xanti,

ja, das ist schwer ganz genau zu treffen, soll man es auf den Punkt bringen, ich versuchs mal:

Ich glaube, das Geheimnis der Offenheit liegt in der Art der Bilder und wie sie verankert sind. Das Ballonbild ist dafür ein gutes Beispiel: Innerhalb der Wirklichkeit ist der Ballon ein winziges Detail, der aufgrund eines bestimmten Zustand des Prots zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einer 100%igen Übertragung/Bdeutung wird für das, was der Prot empfindet/was der Text erzählen will. Der Text nimmt also ein reales Detail, ein ganz kleines oder alltägliches*, gibt einen kurzen sinnlichen Eindruck und weitet sich dann nach innen, indem der Ballon eine 100% Übertragung ist - man liest die Empfindung also als Sinneseindruck, das ist unglaublich intensiv, finde ich, denn eigentlich sind Empfindungen, gerade wenn sie keine heftigen, sondern stetigen, wenn es eher Zustände sind, selbst für den, der sie empfindet ja nicht wie Gegenstände greifbar, aber man liest sie in dieser Struktur - so als ob man die Seele des Prots sehe in Form einer Pupille, die sich weitet und die auch noch einen Geschmack hätte :-).

Und an manchen Stellen schafft der Text diese Art der Weitung, an anderen (zum Beispiel verhindert für mich das fadenscheinig-wortspiel es bei mir beim taschentuch) lässt er noch nicht los. in der summe..

kann man das irgendwie verstehen? :-)

liebe Grüße,
Lisa

*meist auch solche, die nur der Prot sieht, so wie jede Seelenstruktur den einen dies, den anderen das wahrnehmen lassen.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Xanthippe » 19.07.2008, 20:51

Lisa hat geschrieben:

kann man das irgendwie verstehen? :-)


nicht sofort und ohne weiteres, aber darüber nachdenken!
vielen Dank


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