Der alte Mann und die Fliege

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 24.07.2008, 16:53

Der alte Mann und die Fliege

Eine Fliege hat sich auf der Hand des alten Mannes niedergelassen. Sie sitzt auf einem Altersflecken und putzt die feinen Haare an allen sechs Beinen. Sie bewegt ihre Flügel auf und ab, behutsam und langsam, sie sind durchsichtig wie Pergamentpapier, wie die Haut des alten Mannes, der sie beobachtet, der ihr mit seinen altersschwachen Augen in die riesigen Insektenaugen sieht. Er betrachtet sie und schüttelt den Kopf, diese Fliege hat keine Ahnung vom Fliegen, von den Bomben, die links und rechts neben dem Haus detonierten, von den Schreien, die bis in das Kellerschweigen drangen. Können Fliegen überhaupt hören, fragt er sich. Kannst du mich hören, fragt er die Fliege auf seinem Altersfleck, die das Putzen ihrer Beine beendet und den alten Mann ansieht.
Und danach, sagt der alte Mann müde, musste alles wieder aufgebaut werden, Stein für Stein haben wir am Vergessen gebaut, sagt er und seine freie Hand, die, auf der keine Fliege sitzt, holt weit aus, vergessen, wie die Fliegen auf meinem Kind hockten, in seinen Augen, in den Wunden und überall ihre Eier ablegten. Wer nur kurz lebt, hatte ich ihr erzählt, wird als kleines Tier wiedergeboren, als kleines Tier, das genau die Eigenschaft besitzt, die er sich als Mensch am meisten gewünscht hat.
Aber meine Tochter hat sich nicht verwandelt, sie ist zerfallen in kleine Einzelheiten, in Nährboden, in Erinnerungen, in alte Fotographien, in eine Nummer in den Statistiken, einen Eintrag im Sterberegister, eine unvollendete Möglichkeit, eine Fliege, die auf einem Altersfleck ihre Beine putzt.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 29.07.2008, 15:08

Huhu X,

der Text berührt mich nicht, weil er mE. mit billigen Mitteln einer behaupteten Sentimentalität arbeitet, mit einem Überborden an Dramatik, die dadurch unecht und künstlich wirkt, wie eine zu dick aufgetragene Schminke. Dem Leser wird die Luft genommen, er kann nicht atmen, keine eigenen Bilder und Gedanken entwickeln, weil nichts da ist, was sich weiterspinnen ließe und weil die Nähe fehlt, nur synthetisch aufgetrumpft wird. Ein alter Mann erinnert sich durch eine Fliege an den Krieg. Dabei werden sämtliche Klischees aufgetischt, die man eben aus Filmen kennt… natürlich maximal theatralisch, wie es dieses Thema ja schließlich verlangt (?). Nö nich.

sie sind durchsichtig wie Pergamentpapier, wie die Haut des alten Mannes,

abgegriffener Vergleich. Von mir aus direkt mit den Flügeln, aber bitte kein Pergamentpapier

Er betrachtet sie und schüttelt den Kopf,…

Ab hier ein harter Perspektivenwechsel… geht für mich gar nicht in so kurzen Texten.

diese Fliege hat keine Ahnung vom Fliegen,

Wieso?
Hat er denn? Wenn er doch im Keller war?

Können Fliegen überhaupt hören, fragt er sich. Kannst du mich hören, fragt er die Fliege auf seinem Altersfleck, die das Putzen ihrer Beine beendet und den alten Mann ansieht.

Der einzige Abschnitt, der mir im Text richtig gut gefällt.
beendet hat?

Aber meine Tochter hat sich nicht verwandelt, sie ist zerfallen in kleine Einzelheiten, in Nährboden, in Erinnerungen, in alte Fotographien, in eine Nummer in den Statistiken, einen Eintrag im Sterberegister, eine unvollendete Möglichkeit, eine Fliege, die auf einem Altersfleck ihre Beine putzt.

Also die Tochter hat sich nicht in eine Fliege verwandelt, sie ist in eine Fliege zerfallen? Komisch.
Ich hätte die freie Hand des Alten mit einer schnellen Bewegung- die man ihm gar nicht mehr zugetraut hätte- die Fliege erschlagen lassen…

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 31.07.2008, 20:06

hallo nifl,

seit tagen denke ich schon, dass ich dir jetzt aber endlich mal schreiben sollte, mich für deinen verriß bedanken, sozusagen ;-), aber mir fällt nicht viel dazu ein, außer dass du vielleicht recht haben könntest, vielleicht aber auch nicht

xanthi

Nifl
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Beitragvon Nifl » 01.08.2008, 10:13

Huhu Xanti.

Mag die Bezeichnung Verriss nicht so, weil da das Motiv des Vernichtens mitschwingt und das war nicht die Intention meines Kommentars. Vielmehr habe ich meine Gedanken formuliert, die ich sowieso hatte nach dem Lesen und weil über Tage noch niemand was zum Text geschrieben hatte,…

LG
Nifl

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 01.08.2008, 11:32

ich find so ein richtig guter verriß hat doch durchaus was
aber wir schriftsteller sind ja alles so empfindlich :rolleyes:

schönen tag noch
xanthi

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noel
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Beitragvon noel » 10.08.2008, 22:00

ich mag den text. verstehe aber auch manch einwand von dem nifler :)

Xanthippe hat geschrieben:Der alte Mann und die Fliege

Eine Fliege hat sich auf der Hand des alten Mannes niedergelassen. Sie sitzt auf einem Altersflecken und putzt die feinen Haare an allen sechsden Beinen. Sie bewegt ihre Flügel auf und ab, behutsam und langsam, sie sind scheinen durchsichtig wie Pergamentpapier,wie die Haut des alten Mannes, der sie beobachtet, der ihr mit seinen altersschwachen Augenin die riesigen Insektenaugen sieht. Er betrachtet sie und,schüttelt den Kopf.
Diese Fliege hat keine Ahnung vom Fliegen, von den Bomben, die links und rechts neben dem Haus detonierten, von den Schreien, die bis in das Kellerschweigen drangen. Können Fliegen überhaupt hören, fragt er sich. Kannst du mich hören, fragt er die Fliege auf seinem Altersfleck, die das Putzen ihrer Beine beendet und den alten Mann ansieht. Die Fliege unterbricht das monotone Putzen; es scheint, a´ls sähe sie zu ihm auf.
Und danach, sagt der alte Mann müde, musste alles wieder aufgebaut werden, Stein für Stein haben wir am Vergessen gebaut, sagt er undseine freie Hand, die, auf der keine Fliege sitzt, holt weit aus, vergessen, wie die Fliegen auf meinem Kind hockten, in seinen Augen, in den Wunden und überall ihre Eier ablegten. Wer nur kurz lebt, hatte ich ihr erzählt, wird als kleines Tier wiedergeboren, als kleines Tier, das genau die Eigenschaft besitzt, die er sich als Mensch am meisten gewünscht hat.
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NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 11.08.2008, 13:49

liebe noel,

es geht mir jetzt ganz komisch mit deinem kommentar
weil ich den text für mich eigentlich schon verworfen habe
ich werde vielleicht noch ein paar tage warten und dann sehen, ob ich doch noch etwas damit mache

dank dir für deine mühe
xanthi

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noel
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Beitragvon noel » 11.08.2008, 15:35

ich hoffe es erscheint nicht zu dreist
war auch zurückhaltend
was nicht unbedingtv meinem naturell entspringt
*grins

der text hat es verdient
gooooooooooooooooooo
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

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Oldy

Beitragvon Oldy » 08.10.2008, 11:27

Hallo,

mich hat der Text berührt, weil ich diese Schlaglichter mag. Die Bilder sind für mich nachvollziehbar und damit der Text erfahrbar.
Bin gerade versucht, Nifls "Verriss" auseinander zu pflücken, weil ich zumeist das gegenteilige Empfinden zum Text habe. Aber so etwas ist nicht gut.
Eines möchte ich aber doch loswerden.
Wer definiert eigentliche diese "billigen Mittel"? Sind sie deswegen billig, weil sie etwas im Leser auslösen, ihn berühren und das auch noch so vom Autor gewollt war? Was ist denn das Gegenteil davon?
Am Text kann sicherlich noch gefeilt werden, aber mir gefällt seine Botschaft, sein Ton.

lg
Uwe

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.10.2008, 17:44

hallo uwe,

vielen Dank, dass du diesen Text nach so langer Zeit noch einmal herauskramst. Ich habe ja schon noel geschrieben, dass ich den Text eigentlich schon in den Mülleimer geworfen habe, aber möglicherweise kommt irgendwann die Zeit der Überarbeitung. Ich könnte mir vorstellen, dass er eigentlich ein Erzählgedicht ist...
Und die "billigen" Mittel, ja, das ist natürlich keine feine Wortwahl, aber ich glaube gemeint waren abgenutzte Bilder, Begriffe, Wendungen und das kann ich schon nachvollziehen, man sollte schon darauf achten, dem alten Rad ab und zu eine andere Richtung zu geben

danke für deine Gedanken
xanthi

Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 19.10.2008, 09:11

Der Text hat was. Er hat mich auf jedenfall sehr berührt. Sprachlich gut gebracht.

Liebe Grüße
Alma Marie
Die Schönheit erklärt man nicht, man empfindet sie (Peter Rosegger).


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