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Reifeprüfung

Verfasst: 30.03.2006, 21:45
von ursula.stoehr
Ein altes Schulheft mit krakeliger Kinderschrift entführt mich in die Vergangenheit.
Sieben Jahre, Sommersprossen, kurze Haare, Kneippsandalen an den braungebrannten nackten Füßen, rot weiß karierte Flügelschürze über dem hellen Leinenkleid – ich auf dem Weg zur Volksschule.
Wißbegierig endlich die ersten A, B, Cs zu zaubern, das Labyrinth der Zahlen zu durchschauen, die bunten Micky Maus Hefte selber lesen zu können– all das schien mir alle Anstrengungen wert zu sein.
Meine Stirne krausgezogen,zernagte ich manches Bleistiftende. Die spitze Redisfeder verspritze gnadenlos ihre Tinte, wenn ich sie mit meiner kleinen Kinderhand zu steil hielt und hinterließ häßliche Flecken in meinen karierten und linierten Schulheften – all das war vergessen bei meinen ersten Schreib- Lese- und Rechenerfolgen.
Die Welt des Wissens lag vor mir.
Ich war bereit sie zu erforschen.

Meine Eroberungszüge durch die Meere der einzelnen Hauptschuljahre waren beutereich.
Die Geschichteinsel, das Geoland und die Englische Welt nahm ich im Handstreich. Die Mathewüste ergab sich meist nur nach harten Kämpfen.
Aber eine echte Weltenerobererin gibt sich nicht so schnell geschlagen.

Mein Feldzug durch die Welt des Wissens wurde jäh gebremst, als er den Kurs vorgab..
Er – das - war mein Mathelehrer auf dem Weg zur Matura.
Mit seinem weißen Arbeitsmantel und der randlosen Brille stand er auf dem Podest vor der grünen Wandtafel.Überlegen blickte er auf uns herab. Er war noch jung und das pure Gegenteil zu unseren väterlich gütigen Professoren, die gerne in unserer Mädchenklasse unterrichteten.
Er war gnadenlos. Seinen hohen Ansprüchen an die Kunst der Mathematik genügten nur wenige .Ich gehörte nicht zu den Bevorzugten.
Wenn sein Blick in meine Richtung ging, erfasste mich jedesmal schieres Entsetzen und ich hoffte inständig der Kelch des Aufgerufenwerdens würde an mir vorübergehen.
Umsonst gehofft.
Mein Flehen, die Pausenglocke möge mit ihrem schnarrenden Ton das Ende der Mathestunde verkünden, blieb ungehört.
Sein ausgestreckter Zeigefinger zeigte beharrlich auffordernd auf mich.Wie oft wünschte ich, der Finger möge ihm abfallen.
Ich erhob mich mutig. Nur keine Schwäche zeigen. Gönne ihm nicht den Triumph deines Zögerns sprach ich mir selber Mut zu.
Mitleidige Blicke der Klassenkameradinnen begleiteten mich. Sie wussten genau, was mich erwartete. Beim Hinausgehen an die Tafel entging mir nicht, wie sie sich entspannt zurücklehnten, dankbar, dass sie nicht das auserwählte Beutestück der Mathebestie waren.

Die Kreide kreischte über die Tafel als ich wild entschlossen versuchte, die Matheaufgabe zu lösen. Er schüttelte nur missbilligend den Kopf.
Dabei fuhr er sich stets mit einer knappen Bewegung seiner rechten Hand über sein pomadegepflegtes schwarzes Haar, das wie ein glänzender Helm an seinem Kopf klebte. Meine zitternde Hand übersah er geflissentlich. Auf und unter dem Bruchstrich tanzten die X und Ypsilons und Zetts ihren furiosen Tango und ließen sich einfach nicht zu einer geordneten Polonaise führen. Meine undeutlich gemurmelten Formelansätze blieben mir an den Lippen hängen.

„Schluss mit dem Geschwafel. Setzen!“
Wie Peitschenhiebe prasselte seine vernichtende Kritik über mich herein.Der Blick aus seinen grauen Augen war kalt und abweisend.

Ich stand ihm gegenüber, kämpfte mit den aufsteigenden Tränen und versuchte das Chaos in meinem Kopf zu ordnen. Nur keine Emotionen zeigen - da war sie wieder, diese innere Stimme, die mich aufforderte Haltung zu bewahren.

Sein verächtlich hingespeites „Nicht genügend“ war wie der Biss einer Giftschlange.
„Sie sollten sich besser den Übungsaufgaben zuwenden, als Hand in Hand am See spazieren zu gehen.“
Der Hieb saß.

Ich saß in der Bank und litt.
Mich interessierte das richtige Leben und nicht wie man es mathematisch rentenmäßig hochrechnet.
Der alte Holzboden im Klassenzimmer roch nach Büffelwachs und benebelte mich.
Geschlagen geben wollte ich mich trotzdem nicht.
Ich war bereit zu kämpfen. Ich war überzeugt, ich würde es schaffen.

Stand wieder ein Mathekreuzzug bevor, wappnete ich mich so gut ich konnte. Mein Kettenhemd, gewoben in unzähligen Nachhilfestunden, war löcherig. Ein paar Formeln fielen immer durch – gleich dem Held in der Nibelungensage hatte auch ich meine verwundbare Stelle.
Die rote Schrift in meinem Heft glich einem Gemetzel – ein wahres Schlachtfeld
Mein Feind schlug wieder gnadenlos zu.

Ich hisste die Weiße Fahne.
Ich musste mich geschlagen geben.
Mein Mathekahn war gekentert und drohte unterzugehen.
Mit letzter Kraft rettete ich mich an das sichere Ufer der herbstlichen Nachprüfungsinsel.



Gestern sprachen wir von alten Zeiten.
Eine buntzusammengewürfelte Gästeschar.
Als sein Name fiel, war die Zeit reif
„Er war ein echtes Arschloch!“ hörte ich mich verächtlich sagen.
„Er war mein Bruder“ sagte jemand aus der Runde.

Verfasst: 30.03.2006, 22:55
von Franktireur
Na dann mal ein Herzliches Willkommen.

Ich habe die Geschichte mit Interesse und Vergnügen gelesen. Mit Vergnügen darum, weil mir der innere Abstand, mit dem du sie erzählst, mir das ermöglicht, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. :!:

In deinem Text sind viele gelungene Metaphern, die mir sehr gefallen (z.B. das Kettenhemd) und deine damalige Situation gut verdeutlichen. Dein Text hat etwas Frisches und Lebendiges an sich, das mir ebenfalls Vergnügen bereitet hat.

Das soll jetzt nur ein erstes kurzes Feedback sein - es gibt sicher das ein oder andere Detail noch zu verbessern (z.B. "all das schien mir alle...."), aber die Stimmung kommt rüber, die Aufteilung ist stimmig, der spärliche Einsatz der direkten Rede sitzt.

Gruß
Frank

Verfasst: 31.03.2006, 12:19
von ursula.stoehr
Hallo Frank
danke für dein Feedback - ich bin seit einem Jahr Mitglied in einer Schreibgruppe.
Liebe Grüße
Ursula

Verfasst: 31.03.2006, 16:24
von Maija
Hallo ursula,

Gern gelesen deine Kurzgeschichte und man kann richtig mitfühlen und am Ende schmunzeln. Danke! §blumen§

Gruß Maija

Verfasst: 31.03.2006, 20:45
von Franktireur
ursula.stoehr hat geschrieben:Hallo Frank
danke für dein Feedback - ich bin seit einem Jahr Mitglied in einer Schreibgruppe.
Liebe Grüße
Ursula


Äh...ja. :shock:
Was genau willst du nun damit sagen? Daß der Text nicht von ungefähr sitzt? Bei einem solchen Text wie dem Obigen gehe ich ohnehin davon aus, daß daran gefeilt wurde...

Wenn du das damit aussagen wolltest, kann ich dir nur gratulieren, da du dann wohl eine ernsthafte und taugliche Schreibgruppe gefunden hast (das ist jetzt nicht ironisch gemeint).

Gruß
Frank

Verfasst: 03.04.2006, 16:31
von Lisa
Hallo ursula,

gerne gelesen, ja, das erinnert mich an...sagen wir...einiges :grin: . Bei uns waren die Alten allerdings nicht die Netten :shock: .

Den letzten Absatz würde ich kürzer ziehen - warum dieser große Abstand?

Den Schluss finde ich von allem am gelungensten...die Wendung kommt schnell daher und man, ich, mag ihr zustimmen :grin:

Verfasst: 03.04.2006, 16:52
von MarleneGeselle
Hallo Ursula,

wer erinnert sich nicht mit Grausen?

Bei der Gelegenheit mal eine Frage: Warum trugen die Mathelehrer damals weiße Kittel? Unser Chemielehrer trug zwar auch einen, aber der matschte ja auch den lieben langen Tag in irgendwelchen Behältern rum.

An Bohnerwachs kann ich mich nicht mehr erinnern. Wurde das damals aus Büffelfett gemacht? Muss doch gestunken haben.

Liebe Grüße
Marlene

Verfasst: 03.04.2006, 22:15
von ursula.stoehr
Liebe Marlene

Danke für dein Feedback.

Unsere Lehrer trugen (mit wenigen Ausnahmen) damals alle weiße oder graue Arbeitsmäntel.
Bohnerwachs = Büffelfett (stank grausam!)

Liebe Grüße
Ursula