Ehrenkodex

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Mucki
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Beitragvon Mucki » 01.10.2008, 23:54

Ehrenkodex

Anna streckte der Frau ihr Leben entgegen. Bange war ihr zumute. Die Alte wirkte konzentriert, fuhr über Hügel, berührte Einschnitte, erzählte von Wegen, die Anna gegangen war, doch die eine Antwort gab sie ihr nicht.
Als Anna zwei Wochen später das blaue Licht hörte, wusste sie, warum die Frau geschwiegen hatte.

by Gabriella
08/2008

Nicole

Beitragvon Nicole » 02.10.2008, 08:55

Hi Mucki,

jaja, der Ehrenkodex der Wahrsager ... Siehst Du Tod und Verderben, darfst Du es nicht sagen, sondern mußt schweigen...

Ich finde die Formulierung
Anna streckte der Frau ihr Leben entgegen
sehr gelungen. Anna streckt die Hand aus, damit die Alte ihr aus der Hand lesen kann, gelt?

Ich mag diesen kurze Text und hatte gleich das "richtige" Bild vor Augen. Weiß allerdings nicht, ob es jeder Leser (vielleicht auch einer, der den Hintergrund nicht kennt) versteht/verstehen kann.

Nicole

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.10.2008, 10:48

Hi Nicole,

danke dir! Jou, du hast es sofort herausgelesen. Genau das beschreibe ich hier. Wer sich noch nie hat aus der Hand lesen lassen, wird vielleicht etwas rätseln, wenn er deinen Kommentar nicht gelesen hat ;-)
Saludos
Mucki

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 02.10.2008, 10:54

Hallööchen,

daß es in dem Text um das Wahrsagen geht, bzw. aus dem Hand lesen, war mir sofort klar.

Nur was ich überhaupt nicht verstanden habe, ist das mit dem blauen Licht (und dann auch noch "hört" das blaue Licht). Und was das ganze mit einem Ehrenkodex zu tun hat.

Steht "blaues Licht" in Wahrsagerkreisen und/oder esoterischen Kreisen für Tod?
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.10.2008, 11:12

Hi Sethe,

die Rettungswagen sind mit einem Blaulicht ausgestattet, zu denen zudem ein schriller Ton zu hören ist. Da es in der deutschen Sprache für alles einen Namen gibt: korrekt heißen die Dinger: blaue Rundumkennleuchte, ausgestattet mit einem Folgetonhorn. Sprich: LI, bzw. Anna befindet sich selbst im Rettungswagen und hört deshalb das "Blaue Licht"
Unter Zigeunern und seriösen Wahrsagern gibt es tatsächlich diesen Kodex, das ungeschriebene Gesetz, dass sie keine unheilvollen Dinge voraussagen dürfen, wenn sie diese aus der Hand eines anderen lesen.
Saludos
Mucki
P.S. Ihr seid gut! Ich hätte nicht gedacht, dass sofort herausgelesen wird, worum es geht! ,-) Ich habe es gestern meiner Schwester vorgelesen und die kam überhaupt nicht darauf, obwohl sie sich auch schon oft aus der Hand lesen ließ.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 02.10.2008, 12:50

Ich habe es gleich erkannt - allerdings wohl nur, weil ich vor ein paar Tagen eine Inszenierung von Verdis Maskenball gesehen habe. Da kommt eine ganz ähnliche Szene vor. Allerdings nervt dort der Kunde die Wahrsagerin solange, bis sie ihm reinen Wein einschenkt.

Das mit dem Blaulicht habe ich so nicht verstanden - aber mir war schon klar, worum es geht, ich dachte an diesen Tunnel mit dem Licht am Ende, den angeblich viele Sterbende sehen.

Die Hand als Landschaft zu betrachten, gefällt mir übrigens sehr.

Schönen Gruß von Zefira (die auch Anna heißt)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.10.2008, 13:54

Hi Zefi-Anna,

bei einer echten, seriösen Wahrsagerin nutzt alles Nerven nichts. Die sagen es dir nicht. Weiß ich aus eigener Erfahrung.
Schön, dass dir die Idee mit der Hand als Landschaft gefällt,-).
Bez. Licht: Wenn ich das "Licht am Ende des Tunnels" gemeint hätte, wäre "hörte" falsch. Dann würde sie es ja sehen. Außerdem ist mir das mit dem Tunnellicht zu sehr Spekulatius. Jeder beschreibt Nahtoderfahrungen anders.
Saludos
Mucki

Trixie

Beitragvon Trixie » 02.10.2008, 19:32

Huhu!

Habs fast sofort verstanden, was ich gut finde, dass ich nochmal kurz nachdenken musste. Ich finde es sehr gut auf den Punkt gebracht und irgendwie auch absurd, wie man sozusagen "ein ganzes Leben" a.) in einer Hand haben kann und b.) in so wenigen Zeilen beschreiben kann, aber es ist dennoch sehr gelungen, wie ich finde.

Stimmt micht etwas nachdenklich, muss ich sagen. Und der Text erinnert mich an einen, den ich mal vor längerem geschrieben habe. Vllt. stell ich den ja auch hier noch ein, würde passen! Danke für die Anregung ;-).

Grüßchen!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.10.2008, 19:51

Danke dir, Trix,
ja, es schon irgendwie absurd, dass das ganze Leben, inkl. Vergangenheit und Zukunft in einer Hand liegt.
Ich glaube übrigens fest an diese Gabe bei einigen Menschen. Ein Mal ließ ich mir aus der Hand lesen: Es war richtig gruselig, was die Frau alle wusste und mir voraussagte, was dann auch genauso eintraf. Seitdem habe ich das nie mehr machen lassen.
Saludos
Mucki

Trixie

Beitragvon Trixie » 02.10.2008, 19:56

Ohje, glaub ich dir, dass das gruselig war...
Ich habe früher immer aus Karten gelesen, bis ich feststellte, dass ich gar keine Karten dafür brauche (ohoh, geht das jetzt hier zu weit? werden nicht alle lesen, denke ich...)
Was ich sagen will ist, dass das Leben ja nicht wirklich in der Hand liegt, sondern es nur Hilfslinien gibt, die einem Hinweise geben, auf die man aber, davon bin ich überzeugt, auch so erkennen kann, ohne dafür extra in die Hand zu gucken. Verstehste? Ich finde es schon beeindruckend, aber ich fände es noch beeindruckender, wenn man mir dafür nicht mal in die Hand gucken müsste. Wobei die Hand als "ein ganzes Leben" schon ein starker Begriff ist, etwas konkretes, unter dem man sich etwas vorstellen kann. Daher finde ich ihn, also den Begriff, für einen geschriebenen Text sehr gut gewählt. Er vermittelt eine bestimmte bekannte Stimmung ist wiederum ein Hilfsmittel, um etwas auszudrücken, was auch ohne die Hand ginge ;-) usw....

So, ja. Ich würde das, glaub ich, auch nie machen lassen...

Eine Frage noch: Wieso "Anna" ? Wieso ausgerechnet der Name und nicht einfach "sie"? Weiß auch nicht, warum ich da gerade drauf komme, aber vllt. liegt ja eine bestimmte Intention dahinter?

Grüße!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.10.2008, 20:00

Hi Trix,
Eine Frage noch: Wieso "Anna" ? Wieso ausgerechnet der Name und nicht einfach "sie"? Weiß auch nicht, warum ich da gerade drauf komme, aber vllt. liegt ja eine bestimmte Intention dahinter?

Das hat nur einen ganz simplen Grund. Ich wollte nicht zu oft das Wort "sie" in dem kurzen Text haben ,-)
Saludos
Mucki

scarlett

Beitragvon scarlett » 03.10.2008, 12:44

Liebe Mucki,

das ist ein sehr dichter Text, an dem ich lang herumgerätselt habe, nur um danach festzustellen, dass er vollkommen aufgeht.
Yepp, gefällt mir sehr gut.
Und klar, dass Anna das blaue Licht hören muss ... sag ich jetzt, im nachhinein, anfangs war mir das die einzige "Stolperstelle".

Ich habe mich nie getraut, mir wahrsagen zu lassen ....

Liebe Grüße,
Monika

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.10.2008, 12:55

danke dir, Monika,
ich freue mich über dein Lob :-)
Ich habe mich nie getraut, mir wahrsagen zu lassen ....

Bei deinem Bezug zu Rumänien, wundert mich das überhaupt nicht. Du weißt, dass die Zigeuner die Wahrheit sagen ;-)
Saludos
Mucki

Maija

Beitragvon Maija » 04.10.2008, 07:40

Hallo Mucki,

Ein Mal ließ ich mir aus der Hand lesen


Ich komme gerade aus meinem Urlaub (Türkei) und wurde mit deinem Text gleich an einem ernsthaften Gespräch mit meinem zukünftigen Schwiegersohn erinnert. Er erklärte mir, das in meinen beiden Händen das Wort Allah geschrieben ist. :lupe: Nun ja, mit etwas Willenskraft und Phantasie klappt es. ;-)
Ich persönlich halte nicht viel davon! ( Hand/ Zukunft und Vergangenheit lesen) Dieses Schweigen ist taktisch klug, da viele Dinge eintreten können, da muss man keine Wahrsagerin sein. ( Frag mal Max/ Wahrscheinlichkeitsrechnung :mrgreen:)

LG., Maija


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