1. Kapitel (Anfang)
Verfasst: 12.04.2006, 22:13
1. KAPITEL (1965)
„Mama!“ sagte sie mit fester Stimme. „Ich gehe jetzt mit Mattes raus!“ Ihre Stimme schnappte etwas über bei dem letzten Wort.
Geklapper in der Küche. Mutter backte für morgen, Sonntag. Jetzt hörte das Hantieren mit Backform und Schneebesen abrupt auf, als seien ihre Worte erst in diesem Moment zur Mutter durchgedrungen.
„Wie raus?“ Mutter zeigte sich im Türrahmen, ein Trockentuch in der Hand. Sie rieb sich die Hände am Tuch ab, Reste vom Teig klebten daran. Als keine Antwort kam: „Hanne!“
„Nach draußen!“ Zur Bekräftigung knöpfte sie ihren Mantel zu. Ihre Hände zitterten etwas. Hanne stand im kalten Flur und wartete.
„Ja.“ sagte ihre Mutter mit plötzlich müdem Gesicht. Aller Arbeitseifer war von ihr abgefallen. „Ja“, wiederholte sie noch einmal und atmete tief ein und wieder aus. „Er ist blaß ...“ murmelte sie und wollte sich umdrehen, um wieder in die Küche zu gehen. Doch dann fiel ihr noch ein: „Sei wieder da bevor Papa kommt!“
„Ist gut“, Hanne nickte erleichtert und ging durch die Deele zur Hintertür.
Für gewöhnlich dauerte der Kampf länger.
Ihr Bruder Mattes saß aufgeregt in dem alten Bollerwagen, in dem die Familie sonst das Obst und Gemüse aus ihrem kleinen Garten am Dorfrand nach Hause transportierte. Den vollgepackten Wagen den Knickberg rauf - das war eine Ungerechtigkeit, die Hanne innerlich zum Schreien brachte. Warum lag der elende Berg nicht so, daß man mit dem leeren Wagen bergauf (eine Leichtigkeit), mit dem vollgeladenen Wagen aber bergab fahren konnte?
Hanne zog Mattes Schal fest und setzte ihm die kratzige Wollmütze auf. Ausnahmsweise ließ Mattes dies zu. Normalerweise widersetzte er sich jeglicher Kopfbedeckung - der Kopf musste frei bleiben! Die Vorfreude stimmte ihn milde.
„Eigentlich bist du zu groß für den Bollerwagen“, sagte Hanne und zupfte ihrem Bruder das von der Mütze plattgedrückte Haar aus den Augen. Mattes´ langen dünnen Beine waren notdürftig auf der engen Ladefläche verstaut. „Wir müssen uns bald was neues einfallen lassen, ne?“
„Haaamm!“ antwortete Mattes.
Hanne öffnete die Hintertür und zerrte an dem schweren Wagen. Nach ein paar heftigen Rucken, die Mattes ordentlich durchschüttelten, brachte Hanne ihn zum Rollen. Sie durchquerten den buckeligen Hof, dessen Betondecke an zahllosen Stellen aufgeplatzt war. An der Pforte, die auf die Straße führte, stand kaugummikauend Walter, der älteste Bruder.
„Willste den Doofen endlich wegbringen?“ fragte er grinsend und stellte sich breitbeinig vor die Pforte.
„Geh weg!“ Hanne wollte sich an Walter vorbeidrängen doch der schubste sie zur Seite.
„Wegzoll!“ Er grinste noch breiter.
„Hier haste ´ne Murmel!“ Hanne grub in ihrer Manteltasche und brachte eine Murmel zum Vorschein.
„Murmel! Pft!“ machte Walter verächtlich. „Für wie doof hältst du mich?“
„Sag´ ich nicht! Will dir ja nicht den Tag versauen!“ Hanne nutzte Walters Empörung, stieß ihn nun ihrerseits beiseite und zwängte sich mit Mattes eilig durch das Türchen.
„Ich sag´s Papa!“
„Dann drücke ich dir heut´ nacht ´n Kissen ins Gesicht.“ sagte Hanne mit zusammengekniffenen Augen. Das war die wirkungsvollste Art, ihrem Bruder zu drohen. Durch sein chronisches Asthma war er von der Schreckensvision besessen, nachts im Schlaf zu ersticken, unbemerkt von der Familie, im Todeskampf alleingelassen.
„Machst du nicht ...“ versuchte Walter und starrte Hanne ins Gesicht.
Sie starrte zurück. Um Hannes Eisblick zu entkommen, langte Walter blitzschnell über den Zaun und zog Matthias die Mütze vom Kopf. Der schrie auf vor Schreck, beruhigte sich jedoch rasch wieder, da Walter ihn mit dem Mützenklau unfreiwillig von dem kratzenden Ding befreit hatte. Zufrieden rieb er sich über den juckenden Kopf.
Um weiteren Übergriffen vorzubeugen, setzte Hanne sich mit dem Wagen in Bewegung und sie zogen lärmend über das Kopfsteinpflaster.
„Grrau!“ bellte es hinter ihnen. Hanne hielt an und wartete auf Krummbein, der ärgerlich angelaufen kam.
„Hahoo! Ehoo!“ Mattes ruderte mit den Armen und begrüßte den schwarzlockigen kleinen Mischling überschwänglich. Tatsächlich war Krummbein derjenige in der Familie, der mit Mattes seine meiste Zeit verbrachte, er schlief sogar in seinem Bett.
Eifersüchtig begleitete Krummbein nun den Spaziergang, wobei er sich durch kurze mißtrauische Blicke immer wieder versicherte, daß Hanne nicht noch einmal den Versuch machte, sich heimlich mit Mattes abzusetzen.
„Haahooo!“ sang Matthias.
„Haahooo!“ echote Hanne keuchend.
Die abgeernteten Felder rasten an ihnen vorbei. Mattes schwenkte den Kopf hin und her, ganz benommen vor Freude. Je schneller desto besser. Krummbein wetzte auf seinen kurzen Beinen hinter dem rasenden Bollerwagen her.
Hanne zog den ungelenken Wagen über den Feldweg. Das Gesicht glutrot vor Anstrengung, mit einem Ausdruck von Verbissenheit. Wie ein Ackergaul lief sie mit gleichmäßigen harten Schritten, den Blick auf den Weg geheftet, um möglichen Schlaglöchern auszuweichen. Zuweilen sah sie auf. Bis zu der Bank noch. Bis zu der Papiertüte da. Bis zu der Birke. Sie setzte sich ein Ziel, um die Fahrt dann noch um ein weiteres und noch eines zu verlängern. Hanne war mit ihrer Kraft am Ende, aber Mattes hinter ihr gluckste ununterbrochen vor Freude. Sie wollte das Ende der Fahrt so lange wie möglich hinauszögern. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen und am Hals. Ihre Augen brannten von dem kalten Wind, der ihr entgegenschlug. Sie machte sich Sorgen, daß Mattes fror, ohne Mütze. Sie sah sich kurz um, blickte in sein lachendes Gesicht. Noch bis zum Strommast.
An der Scheune brachte sie den Bollerwagen endgültig zum Stehen und warf sich außer Atem in das kalte Novembergras. Krummbein ließ sich laut hechelnd neben sie fallen, seine Zunge hing so lang aus seiner weit aufgerissenen Schnauze, daß sie das Gras berührte.
Hannes Lunge pumpte Luft in gewaltigen Schüben. Ihre Ohren rauschten von den eigenen lauten Atemzügen. Luft. Langsam wurde sie leicht, ganz leicht. Sie schloß die Augen und löste sich auf. Spürte weder Kälte, noch die kleinen Steine im Gras, die in ihren Rücken pieksten.
„Hee! Hoo!“ sagte Mattes erschrocken und der Wagen kippte um.
Hanne schoß in die Höhe, ebenso Krummbein.
„Mattes! Hast du dir weh getan?“ Sie half ihrem Bruder aus dem umgekippten Wagen. Dabei wurde ihr für einen Moment schwarz vor Augen. Sie blinzelte mehrmals bis sie wieder klar sehen konnte.
„Mama!“
Hanne starrte ihren Bruder an: „Och, Mattes! Was für eine Verschwendung! Jedes Mal!“ Halb lachend, halb kopfschüttelnd klopfte sie seine Kleider ab.
„Grau!“ machte Krummbein, der Gewalt witterte.
„Ich tue ihm nichts!“ versicherte Hanne - Krummbein schien ihr zu glauben und hörte auf zu knurren.
„Mama.“ sagte Mattes noch einmal, wie um Hanne zu ärgern. Nur selten sprach er das einzige seinen Mitmenschen verständliche Wort zum richtigen Zeitpunkt aus.
„Spar´s dir auf, Dummkopf. Du mußt es zu Hause sagen, hier hört das doch keiner!“
„Hmmh,“ antwortete Mattes unwillig und schüttelte ihre Hand ab. Er war unverletzt.
„Ja. Ist ja gut.“ Hanne nahm Mattes verfrorene Hand und schlenderte mit ihm durch die Wiese. „Muskeltraining - du weißt ja, ne?“ Krummbein folgte.
Jede Unebenheit auf der Wiese konnte Mattes mit seinem unsicheren Zehenspitzengang zu Fall bringen. Hanne suchte den Boden nach Steinen und nach vertrockneten Kuhfladen aus dem Sommer ab, die durch den Frost - dieses Jahr hatte er früh eingesetzt - zu Stolperfallen geworden waren. Mattes umklammerte ihre Hand mit der Kraft eines über dem Abgrund hängenden Bergsteigers und zerdrückte sie fast.
„Ist lange her ... das letzte Mal, meine ich.“ sagte Hanne und wich einem gefrorenen Maulwurfshügel aus. Mit ihren Zähnen knabberte sie die trockene Haut ihrer Unterlippe ab bis sie Blut schmeckte. Die Kälte machte die Haut rissig. Auch an den Händen. Jedesmal wenn Hanne die freie Hand in ihre Manteltasche schob, blieb sie mit den hornigen Hautfetzchen an der Wolle hängen. Sie haßte das Geräusch, das dabei entstand. Wie ein Schlitten, der über die Steine schleift, wenn zu wenig Schnee liegt.
Fast zwei Monate war es her, seit sie das letzte Mal mit Mattes hier draußen gewesen war. Heimlich. Vater hatte es verboten. Hanne hatte die Zeit vergessen - es war ein warmer Septembertag gewesen. Sie war mit Mattes eingedöst; da war es plötzlich vier Uhr gewesen. Vater war so böse geworden. Das würde Hanne nicht noch einmal passieren.
„Mama!“ sagte sie mit fester Stimme. „Ich gehe jetzt mit Mattes raus!“ Ihre Stimme schnappte etwas über bei dem letzten Wort.
Geklapper in der Küche. Mutter backte für morgen, Sonntag. Jetzt hörte das Hantieren mit Backform und Schneebesen abrupt auf, als seien ihre Worte erst in diesem Moment zur Mutter durchgedrungen.
„Wie raus?“ Mutter zeigte sich im Türrahmen, ein Trockentuch in der Hand. Sie rieb sich die Hände am Tuch ab, Reste vom Teig klebten daran. Als keine Antwort kam: „Hanne!“
„Nach draußen!“ Zur Bekräftigung knöpfte sie ihren Mantel zu. Ihre Hände zitterten etwas. Hanne stand im kalten Flur und wartete.
„Ja.“ sagte ihre Mutter mit plötzlich müdem Gesicht. Aller Arbeitseifer war von ihr abgefallen. „Ja“, wiederholte sie noch einmal und atmete tief ein und wieder aus. „Er ist blaß ...“ murmelte sie und wollte sich umdrehen, um wieder in die Küche zu gehen. Doch dann fiel ihr noch ein: „Sei wieder da bevor Papa kommt!“
„Ist gut“, Hanne nickte erleichtert und ging durch die Deele zur Hintertür.
Für gewöhnlich dauerte der Kampf länger.
Ihr Bruder Mattes saß aufgeregt in dem alten Bollerwagen, in dem die Familie sonst das Obst und Gemüse aus ihrem kleinen Garten am Dorfrand nach Hause transportierte. Den vollgepackten Wagen den Knickberg rauf - das war eine Ungerechtigkeit, die Hanne innerlich zum Schreien brachte. Warum lag der elende Berg nicht so, daß man mit dem leeren Wagen bergauf (eine Leichtigkeit), mit dem vollgeladenen Wagen aber bergab fahren konnte?
Hanne zog Mattes Schal fest und setzte ihm die kratzige Wollmütze auf. Ausnahmsweise ließ Mattes dies zu. Normalerweise widersetzte er sich jeglicher Kopfbedeckung - der Kopf musste frei bleiben! Die Vorfreude stimmte ihn milde.
„Eigentlich bist du zu groß für den Bollerwagen“, sagte Hanne und zupfte ihrem Bruder das von der Mütze plattgedrückte Haar aus den Augen. Mattes´ langen dünnen Beine waren notdürftig auf der engen Ladefläche verstaut. „Wir müssen uns bald was neues einfallen lassen, ne?“
„Haaamm!“ antwortete Mattes.
Hanne öffnete die Hintertür und zerrte an dem schweren Wagen. Nach ein paar heftigen Rucken, die Mattes ordentlich durchschüttelten, brachte Hanne ihn zum Rollen. Sie durchquerten den buckeligen Hof, dessen Betondecke an zahllosen Stellen aufgeplatzt war. An der Pforte, die auf die Straße führte, stand kaugummikauend Walter, der älteste Bruder.
„Willste den Doofen endlich wegbringen?“ fragte er grinsend und stellte sich breitbeinig vor die Pforte.
„Geh weg!“ Hanne wollte sich an Walter vorbeidrängen doch der schubste sie zur Seite.
„Wegzoll!“ Er grinste noch breiter.
„Hier haste ´ne Murmel!“ Hanne grub in ihrer Manteltasche und brachte eine Murmel zum Vorschein.
„Murmel! Pft!“ machte Walter verächtlich. „Für wie doof hältst du mich?“
„Sag´ ich nicht! Will dir ja nicht den Tag versauen!“ Hanne nutzte Walters Empörung, stieß ihn nun ihrerseits beiseite und zwängte sich mit Mattes eilig durch das Türchen.
„Ich sag´s Papa!“
„Dann drücke ich dir heut´ nacht ´n Kissen ins Gesicht.“ sagte Hanne mit zusammengekniffenen Augen. Das war die wirkungsvollste Art, ihrem Bruder zu drohen. Durch sein chronisches Asthma war er von der Schreckensvision besessen, nachts im Schlaf zu ersticken, unbemerkt von der Familie, im Todeskampf alleingelassen.
„Machst du nicht ...“ versuchte Walter und starrte Hanne ins Gesicht.
Sie starrte zurück. Um Hannes Eisblick zu entkommen, langte Walter blitzschnell über den Zaun und zog Matthias die Mütze vom Kopf. Der schrie auf vor Schreck, beruhigte sich jedoch rasch wieder, da Walter ihn mit dem Mützenklau unfreiwillig von dem kratzenden Ding befreit hatte. Zufrieden rieb er sich über den juckenden Kopf.
Um weiteren Übergriffen vorzubeugen, setzte Hanne sich mit dem Wagen in Bewegung und sie zogen lärmend über das Kopfsteinpflaster.
„Grrau!“ bellte es hinter ihnen. Hanne hielt an und wartete auf Krummbein, der ärgerlich angelaufen kam.
„Hahoo! Ehoo!“ Mattes ruderte mit den Armen und begrüßte den schwarzlockigen kleinen Mischling überschwänglich. Tatsächlich war Krummbein derjenige in der Familie, der mit Mattes seine meiste Zeit verbrachte, er schlief sogar in seinem Bett.
Eifersüchtig begleitete Krummbein nun den Spaziergang, wobei er sich durch kurze mißtrauische Blicke immer wieder versicherte, daß Hanne nicht noch einmal den Versuch machte, sich heimlich mit Mattes abzusetzen.
„Haahooo!“ sang Matthias.
„Haahooo!“ echote Hanne keuchend.
Die abgeernteten Felder rasten an ihnen vorbei. Mattes schwenkte den Kopf hin und her, ganz benommen vor Freude. Je schneller desto besser. Krummbein wetzte auf seinen kurzen Beinen hinter dem rasenden Bollerwagen her.
Hanne zog den ungelenken Wagen über den Feldweg. Das Gesicht glutrot vor Anstrengung, mit einem Ausdruck von Verbissenheit. Wie ein Ackergaul lief sie mit gleichmäßigen harten Schritten, den Blick auf den Weg geheftet, um möglichen Schlaglöchern auszuweichen. Zuweilen sah sie auf. Bis zu der Bank noch. Bis zu der Papiertüte da. Bis zu der Birke. Sie setzte sich ein Ziel, um die Fahrt dann noch um ein weiteres und noch eines zu verlängern. Hanne war mit ihrer Kraft am Ende, aber Mattes hinter ihr gluckste ununterbrochen vor Freude. Sie wollte das Ende der Fahrt so lange wie möglich hinauszögern. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen und am Hals. Ihre Augen brannten von dem kalten Wind, der ihr entgegenschlug. Sie machte sich Sorgen, daß Mattes fror, ohne Mütze. Sie sah sich kurz um, blickte in sein lachendes Gesicht. Noch bis zum Strommast.
An der Scheune brachte sie den Bollerwagen endgültig zum Stehen und warf sich außer Atem in das kalte Novembergras. Krummbein ließ sich laut hechelnd neben sie fallen, seine Zunge hing so lang aus seiner weit aufgerissenen Schnauze, daß sie das Gras berührte.
Hannes Lunge pumpte Luft in gewaltigen Schüben. Ihre Ohren rauschten von den eigenen lauten Atemzügen. Luft. Langsam wurde sie leicht, ganz leicht. Sie schloß die Augen und löste sich auf. Spürte weder Kälte, noch die kleinen Steine im Gras, die in ihren Rücken pieksten.
„Hee! Hoo!“ sagte Mattes erschrocken und der Wagen kippte um.
Hanne schoß in die Höhe, ebenso Krummbein.
„Mattes! Hast du dir weh getan?“ Sie half ihrem Bruder aus dem umgekippten Wagen. Dabei wurde ihr für einen Moment schwarz vor Augen. Sie blinzelte mehrmals bis sie wieder klar sehen konnte.
„Mama!“
Hanne starrte ihren Bruder an: „Och, Mattes! Was für eine Verschwendung! Jedes Mal!“ Halb lachend, halb kopfschüttelnd klopfte sie seine Kleider ab.
„Grau!“ machte Krummbein, der Gewalt witterte.
„Ich tue ihm nichts!“ versicherte Hanne - Krummbein schien ihr zu glauben und hörte auf zu knurren.
„Mama.“ sagte Mattes noch einmal, wie um Hanne zu ärgern. Nur selten sprach er das einzige seinen Mitmenschen verständliche Wort zum richtigen Zeitpunkt aus.
„Spar´s dir auf, Dummkopf. Du mußt es zu Hause sagen, hier hört das doch keiner!“
„Hmmh,“ antwortete Mattes unwillig und schüttelte ihre Hand ab. Er war unverletzt.
„Ja. Ist ja gut.“ Hanne nahm Mattes verfrorene Hand und schlenderte mit ihm durch die Wiese. „Muskeltraining - du weißt ja, ne?“ Krummbein folgte.
Jede Unebenheit auf der Wiese konnte Mattes mit seinem unsicheren Zehenspitzengang zu Fall bringen. Hanne suchte den Boden nach Steinen und nach vertrockneten Kuhfladen aus dem Sommer ab, die durch den Frost - dieses Jahr hatte er früh eingesetzt - zu Stolperfallen geworden waren. Mattes umklammerte ihre Hand mit der Kraft eines über dem Abgrund hängenden Bergsteigers und zerdrückte sie fast.
„Ist lange her ... das letzte Mal, meine ich.“ sagte Hanne und wich einem gefrorenen Maulwurfshügel aus. Mit ihren Zähnen knabberte sie die trockene Haut ihrer Unterlippe ab bis sie Blut schmeckte. Die Kälte machte die Haut rissig. Auch an den Händen. Jedesmal wenn Hanne die freie Hand in ihre Manteltasche schob, blieb sie mit den hornigen Hautfetzchen an der Wolle hängen. Sie haßte das Geräusch, das dabei entstand. Wie ein Schlitten, der über die Steine schleift, wenn zu wenig Schnee liegt.
Fast zwei Monate war es her, seit sie das letzte Mal mit Mattes hier draußen gewesen war. Heimlich. Vater hatte es verboten. Hanne hatte die Zeit vergessen - es war ein warmer Septembertag gewesen. Sie war mit Mattes eingedöst; da war es plötzlich vier Uhr gewesen. Vater war so böse geworden. Das würde Hanne nicht noch einmal passieren.