Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 20.07.2018, 19:59

Jules Renard hat geschrieben:Verse, das ist Prosa mit Handschuhen und mit Hosenträgern; das ist Prosa, die sich aufspielt, sich brüstet wie ein Gast auf einer Abendgesellschaft. (1890)

Ich finde ihn liebenswert, selbst wenn er boshaft ist!
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birke
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Beitragvon birke » 20.07.2018, 20:01

:D:
schön, dass er "verse" schreibt und nicht "lyrik"!
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 20.07.2018, 22:07

Auch da fehlt der Kontext. Ich denke, von manchen Versen der heutigen Moderne kann man nicht von abendgesellschaftlicher Aufspielung sprechen. Aber bei einigen trifft das bestimmt zu.

Den Mond beim Schreiben hinzuzutun ist allerdings schon ein abendgesellschaftlich aufgespielter Ratschlag. Sogar mit Glanz, es sei denn, er meinte den Neumond.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 20.07.2018, 23:04

Verse und Lyrik, Birke, waren zu Renards Zeit in Frankreich noch weitgehend identisch. In Deutschland waren metrum- und reimlose (freie) Verse schon seit Klopstock, Goethe und Hölderlin bekannt, in Frankreich aber wurde der "vers libre" erst durch Rimbaud und durch Whitman-Übersetzungen Ende 19. Jahrhundert eingeführt und zunächst als lyrischer Anarchismus bekämpft. Renard dürfte hier an die um 1890 noch übliche metrische und reimende Lyrik denken.

Das ist für mich gerade der Reiz des Aphorismus, Pjotr, dass er wie ein Papierdrachen gleichsam in der Luft schwebt.
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birke
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Beitragvon birke » 20.07.2018, 23:28

Quoth hat geschrieben:... Renard dürfte hier an die um 1890 noch übliche metrische und reimende Lyrik denken.

ja, stimmt, und deshalb kann ich dem zitat auch einiges abgewinnen!
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birke
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Beitragvon birke » 20.07.2018, 23:35

Pjotr hat geschrieben:
Den Mond beim Schreiben hinzuzutun ist allerdings schon ein abendgesellschaftlich aufgespielter Ratschlag. Sogar mit Glanz, es sei denn, er meinte den Neumond.


ich weiß nicht, mir scheint eher, er hat einen sinn für lyrische sprache.... für bilder. (?)
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 21.07.2018, 12:22

Quoth hat geschrieben:... Renard dürfte hier an die um 1890 noch übliche metrische und reimende Lyrik denken.
Das denke ich auch.
Ich finde sein Zitat köstlich. Ist so schön bildhaft.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 21.07.2018, 21:49

Schön, dass Du wieder dabei bist, Mucki!

Jules Renard hat geschrieben: Der Abscheu vor dem Bürger ist bürgerlich. (1889)

In Analogie möchte ich behaupten: Der Abscheu vor dem Touristen ist touristisch.
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Beitragvon Pjotr » 21.07.2018, 22:32

Trifft gut. Auch Deins mit dem Tourismus, Quoth. Abgesehen von Ballermann-Touris unter sich.

Mir scheint, da offenbart sich Renards linkes Herz des 19. Jahrhunderts.

Zum Vergleich: Im Bergwerk scheut der Kumpel den Kumpel ganz und gar nicht.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 22.07.2018, 11:47

Jou, Renard zeigt hier schön den Spiegel auf. (Was uns an anderen stört, steckt in uns selbst)

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Beitragvon Quoth » 22.07.2018, 12:19

Noch ein Beispiel für den Spiegel:
Jules Renard hat geschrieben: Trotz unserer eigenen ununterbrochen anhaltenden Laster finden wir doch immer wieder einen kurzen Augenblick Zeit, um die anderen zu verachten. (1890)

Renard steht auch in der Tradition der französischen Moralisten (La Rochefoucauld, Vauvenargues u.a.), die alles Handeln der Menschen auf Eitelkeit, Ruhmsucht, Eigennutz, Selbstgerechtigkeit und Heuchelei zurückführten. In diesem und dem vorigen Beispiel wird das besonders deutlich.

Und Renard von seiner lustigsten Seite:
Jules Renard hat geschrieben: Mir muss wohl ein Roman wie ein Igel vorschweben, wage ich doch nicht, ihn anzupacken. (1890)

Der kommentiert sich selbst.
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Beitragvon Mucki » 24.07.2018, 15:56

:DD:

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Beitragvon Quoth » 26.07.2018, 17:58

Die Hitze macht es mir unmöglich, etwas brauchbares Eigenes zu schreiben. Deshalb greife ich weiter in Renards Schatzkiste:
Jules Renard hat geschrieben: Der freie Mensch sollte sich ab und an auch die Freiheit gönnen, ein Sklave zu sein. (1892)

Dumm ist nur, dass man aus der Sklaverei so leicht, wie man sich hineinbegeben hat, nicht wieder herauskommt.
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Beitragvon Pjotr » 26.07.2018, 19:02

Da gebe ich ihm auch wieder recht; ein bisschen Masochismus kann manchmal zur Befriedigung führen.


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