Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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birke
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Beitragvon birke » 10.07.2018, 23:28

oh ja...
da fällt mir noch ein, dass worte zuweilen "entschlüpfen" ... :)
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Beitragvon Quoth » 11.07.2018, 17:07

Ja, und dann sind Deine Nestflüchter dran! Worte, die man vielleicht etwas voreilig aus dem Nest hat laufen lassen!
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Beitragvon Quoth » 11.07.2018, 23:13

Jules Renard hat geschrieben:Das Leben ist kurz, aber die Langeweile verlängert es. Kein Leben ist so kurz, dass die Langeweile in ihm kein Unterkommen fände. (1906)

Tatsächlich, sogar in der Rehabilitation habe ich mich so sehr gelangweilt, dass ich ferngesehen habe!
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Beitragvon birke » 11.07.2018, 23:57

wie wahr! und fast liebe ich deswegen die langeweile - ist sie nicht vielleicht sogar luxus? ich habe (leider?? oder zum glück??) selten langeweile. und die zeit vergeht sehr schnell...
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Beitragvon Quoth » 12.07.2018, 09:34

Es gibt wohl zweierlei Langeweile, Birke: die glückliche und kreative, die ist wirklich ein Luxus und verdient es, geliebt zu werden, und die quälende, in der kein Gedanke sich einstellen will als der, sie möchte zuende gehen ...
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Beitragvon Pjotr » 12.07.2018, 14:11

Ich denke, es kann nur eine einzige Langeweile geben: Die quälende.

Langeweile entsteht bei aufgezwungenem Nichtstun. Erwünschtes Nichtstun befriedigt.

Langeweile entspannt nicht, sie nervt. Man will zwar aktiv sein, wird aber zur Inaktivität gezwungen -- durch äußere Einflüsse oder durch innere Einfallslosigkeit.

Ich meine, wenn denn mal Glück verspürt wird, dann ist es nicht die Langeweile an sich, die glücklich macht, sondern deren Beseitigung. Und um diesen Glücksmoment zu erzeugen, bedarf es natürlich zuerst einer Langeweile. Ohne Pech, kein Glück. Konstantes Glück bedeutet langweilige Ereignislosigkeit. Jedem Appetit geht ein Hunger voraus. Hunger macht nicht glücklich. Dessen Beseitigung macht glücklich.

Und dieser Jules Renard ist ein genialer Erkenner und Satzschmied.

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Beitragvon Quoth » 12.07.2018, 21:50

Ja, so ist es genauer, Pjotr. Langeweile wird als negativ empfunden - bis ihr - was leider nicht die Regel ist - plötzlich eine zündende Idee entspringt! Dass das möglich ist, muss daran liegen, dass in der Langeweile das Unterbewusste nicht schläft ...
Freut mich, dass Jules Renard Dir gefällt. Entdeckt hat ihn ja Birke!

Jules Renard hat geschrieben: Zuletzt steckt in jedem Patriotismus der Krieg, und deshalb bin ich kein Patriot. (1899)

Man kann sich freuen, wenn es nur der Handelskrieg ist.
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Beitragvon Pjotr » 12.07.2018, 22:33

... und er gefällt mir immer besser, der Jules. Im Patriotismus der Krieg. Ich glaube, die These kann man noch verbreitern: Patriotismus ist ja eine Form der Eigenliebe. Man liebt seine Identität, -- zu der manche Leute auch das eigene Land zählen. "Mein Land". Nicht das Land, in dem man lebt. Sondern "meins". Genauso wie "mein Mann", "meine Frau". Das ist zwar meistens nur eine Phrase und nicht wirklich besitzerisch gemeint. Aber es kommt davon. Was manche lieben, das besitzen sie dann auch. Mit Stolz. Und wenn jemand den Besitz angreift, rauchts. Unter Stolz verstehe ich das Gefühl der Selbsterhöhung. Dieses Gefühl entsteht durch eigene Leistung, oder durch soziale Zugehörigkeit zu anderen Leistungsträgern. Diese Zugehörigkeit ist natürlich immer konstruiert. Und der Antrieb zu all dem ist der übertriebene Konkurrenzdruck. Das kann die Konkurrenz zwischen Nationen sein, oder auch die zwischen Familien. Der Radius ist egal. Die Eigenliebe bleibt jedenfalls innerhalb dieses Radius. Der eigene Kreis muss auf den Sockel, und alle anderen müssen runter von ihm. Das ist der Mechanismus übertriebener Eigenliebe, und daraus kann nur Zerstörung folgen.

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Beitragvon birke » 13.07.2018, 00:07

wow, mir gefällt er auch immer besser!

Quoth hat geschrieben:
Jules Renard hat geschrieben: Zuletzt steckt in jedem Patriotismus der Krieg, und deshalb bin ich kein Patriot. (1899)



großartig. das bringt für mich vieles auf den punkt. nun weiß ich, warum auch ich keine patriotin bin...!

ps: und, pjotr, diese phrase "mein mann/ meine frau" fand ich auch schon immer befremdlich...

und mit dem stolz ist es so eine sache. ich sage schon manchmal, dass ich stolz auf etwas - oder vielmehr noch auf jemanden! - bin... das bedeutet dann aber eher persönliche freude über etwas geleistetes.
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Beitragvon Pjotr » 13.07.2018, 01:38

Nicht, dass ich missverstanden werde; ich habe nichts gegen den Stolz an sich, bin selbst auch manchmal stolz. Wenn ich diesbezüglich etwas kritisiere, dann nicht den Stolz an sich, sondern dessen Bezug. Es kommt auf den Bezug an. Ich mag Salz durchaus. Nur halt nicht im Bier, zum Beispiel.

Birke, präziserweise kann man bei "mein Mann" oder "mein Freund" in vielen Sprachen auf das "mein" nicht verzichten. Wie würdest Du "Deinen Mann" erwähnen, wenn Du bei einer Polizeikontrolle in einem ganzen Satz antworten müsstest auf die Frage: "Ist das Ihr Mann?" -- In Indianersprache könnte man sagen: "Ja, das ist Der-Die-Birke-Heiratete."

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Beitragvon birke » 13.07.2018, 08:32

das gefällt mir ;)
präziserweise wohl: "mein ehemann" - sag ich aber auch nicht.
bei "mein freund" ist es schon wieder etwas anders, in dem fall darf man ja mehrere so benennen... wobei "er ist ein freund von mir" auch wieder etwas anderes ist als "mein freund". spannend... verzeih den exkurs, quoth!

ps: gemeint ist ja auch eher eine zugehörigkeit "der mann gehört zu mir"...
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Beitragvon Pjotr » 13.07.2018, 17:55

Was ich zeigen wollte, war nicht eine Kritik; es war eine Feststellung. Die Feststellung, dass in vielen Sprachen der Begriff "mein" zwei Bedeutungen hat: Erstens Besitz, zweitens Zugehörigkeit. Deren gefühlte Gleichbedeutung verschmolz das wohl zu einem einzigen Wort. Und im Patriotismus heißt das dann, dass des Menschen geliebte Land auch das seine ist. Er besitzt, was er liebt. Und wenn er nur diese Liebe betont, liebt er alles andere weniger. Wenn dieses Gefälle extrem wird, erhöht sich der Verteidigungshaushalt. Wenn das Gefälle klein ist, bleibt das Angriffspotenzial niedrig.

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Beitragvon birke » 13.07.2018, 18:24

dir zustimme, pjotr.
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Beitragvon Quoth » 14.07.2018, 09:56

Jules Renard hat geschrieben: Baudelaire: "Die Seele des Weins sang in den Flaschen." Das eben ist jene falsche Poesie, die sich eifrig bemüht, an die Stelle dessen, was existiert, das zu setzen, was nicht existiert. Für den Künstler ist der Wein in einer Flasche viel realer und interessanter als die Seele des Weins und die Seele einer Flasche, denn es gibt keinen Grund dafür, einem Gegenstand eine Seele beizulegen, der sehr gut ohne auskommt. (1899)

Jules Renard war ein Anhänger Zolas und wollte sich vom Symbolismus abgrenzen. Wie schwer das werden konnte, zeigt eine Eintragung fünf Monate später:
Jules Renard hat geschrieben: Der Klatschmohn singt schon im Getreide. (1899)
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