Klara bloggt
Verfasst: 04.10.2011, 14:21
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I Genial
GENIALE SACKGASSEN – ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT, steht im Technikmuseum auf dem Fußboden. Eigentlich will ich etwas anderes schreiben (wie immer).
Ich lese zu wenig. Ich rede auch nicht mehr. (Habe ich es aufgegeben?) Erzähle von mir nichts. Schreibe tief in mich rein (wenn überhaupt) und fürchte am meisten vielleicht, dass es einer liest. Habe ich getan, was ich konnte? Tue ich, was ich will? Es ist leise da drinnen, in meiner Schrift. Aber da kenne ich mich besser aus als in der lauten Einsamkeit da draußen: ein fortwährendes Gespräch, dem keiner zuhört, und doch schreibe ich es mit:
II Weltschmerz
Da draußen finden die Leute permanent statt. Man äußert seine Veräußerung auf facebook. Klotürensprüche sind Besinnlichkeit, sind Zwiesprache dagegen. Man kriegt gedacht, es ginge nicht anders. Auf allen Kanälen bekommt man das Vergessen serviert: so vergisst man brav, dass es IMMER anders geht. Hat man Angst, nicht vorhanden zu sein, wenn man draußen bleibt? Wenn Draußenbleiben und Beisichsein sich nicht immerzu mitteilen? Hat man Angst vor dem Widerspruch - mehr als vor Konformität? Man gibt immer neue Reize auf die Reizflut, als würde man sie damit lindern, begibt sich seiner selbst, macht sich öffentlich zum Hans, überlässt Telefon- und Kreditkartennummern den großen Konzernen (facebook, Google, Apple, Amazon), gesichtslose Riesen, denen man mehr vertraut als der eigenen Mutter: Sie sind da! Überall! Und die können machen können, was sie wollen, auch mit den eigenen Daten, im Prinzip: sich verkaufen, mich verkaufen, irgendwas verkaufen. "Freunde" sind Geld. Man weiß es, im Prinzip. Vielleicht ist es auch egal, dass es egal ist. Oder ich bin nur zu alt. Oder es ist dasselbe wie früher, nur auf andere Art: Glänzen, Da-Sein, Lebendigsein. Klotürenliebeserklärungen, eingeritzt ins virtuelle Netz.
Und doch: Reicht es, die eigene Eitelkeit gegen den allgemeinen Wahnsinn zu setzen, der als normative Kraft des Faktischen verkauft wird? Ist Gleiches mit Gleichem heilbar? Teilbar? Oder überhebt sie sich, verrechnet sich die globale Unternehmer-Homöopathie an ihrem eigenen Leiden?
III Unterleben
Der November hat die ganze Zeit so getan, als sei er Oktober. Nun kann er nicht mehr, nun wird er, was ihm bestimmt ist: feucht, kalt, klamm, ein Versprechen auf Zeit. Alles findet in der Zukunft statt, nur die Sorgen sind notwendig Gegenwart:
Soll ich mich als Aushilfe bei Kaisers bewerben? Meine Tochter sagt Nein. Dafür sei ich überqualifiziert. Ich bin mir nicht sicher. Suche meine geniale Sackgasse zurück in die Gegenwart. Ich müsste nur quer über die Straße gehen. Wenigstens etwas verdienen. Tüten einräumen. So unbeholfen an der Kasse sitzen wie die neue Aushilfe mit dem Igel-Haarschnitt, die viel zu freundlich ist, um lange dort auszuhalten (aber wer weiß?). Wäre Aushilfe ein Abstieg oder ein Aufstieg oder ein Ausstieg? Würden die mich überhaupt helfen lassen?
Ich fühle mich unterqualifiziert für mein eigenes Leben.
[10. November 2011]
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kämpfe mit meinen dämonen
niemand kann sie außer mir sehen
die haben so viele namen!
ich spreche von ihnen nur kleinlich
ich kanntunichtsdagegennichtsfür
sie geben sich achtsam gefährlich
sie wispern: du handelst nicht richtig!
sie flüstern: du stehst immer krumm!
sie singen: sei endlich mal mutig, geh
anders herum
dann trete ich mit jedem schritt
daneben und tu ihnen leid
ich teile das niemandem mit: sie zahlen das brautkleid
an dem ich mein leben lang nähe
ich will ja!
im spiegel ihr leuchten liegt quer auf dem weg
da blas‘ ich sie taggroß am abend
und schrumpfe sie träumend (zum schein)
ich führ‘ ihren krieg
ich nehm‘ ihren Sieg
als verdammtes geschenk
an mich kleinen engel
[8. November 2011]
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Der natürliche Lauf der Dinge
Mein Vater räumt sein Büro. Er hat noch mehrere Wochen Zeit, bevor er gehen muss, aber er mag nicht alles auf den letzten Drücker tun, sagt er. Mein erster Impuls ist, ihm die Hand zu geben, doch er hält mir die Wange hin für den quasi theoretischen Streifkuss, den wir einander seit einiger Zeit gönnen, und ich lache mich mit einem trockenen Lachen über meine Unbeholfenheit. Die Begrüßung holpert noch immer, aber das sind wir gewohnt – Abschiede gehen leichter.
Ich ziehe meine Jacke aus. Der Raum ist völlig überheizt. Er verfügt über einen kleinen Abstell-Flur mit Zugang zu Toilette und eigener Dusche. Das Gebäude, in dem mein Vater die vergangenen zehn Jahre in der Chef-Etage verbrachte, stammt aus dem vorvorigen Jahrhundert. Die Gardinen hängen vor hohen Fenstern, so dass eine müde Undurchsichtigkeit herrscht.
Mein Vater wird bald 70. Ich komme, um Bilder abzuholen, die er loswerden will – für die er in der Wohnung keinen Platz haben wird – Kunstwerke, die er geschenkt bekommen hat von befreundeten Malern, Erinnerungen an weniger zielstrebige, „kreative“ Leute: Menschen, bei denen man nicht so genau wissen kann, was oder ob etwas aus ihnen werden würde. Oder geworden ist. Manche sind schon tot.
Ich bin zum zweiten Mal dort. Mein erster Besuch fand kurz nach seiner Ernennung statt. und nun ringe ich mein schlechtes Gewissen darüber nieder: Schließlich hat er mich bis heute kein einziges Mal bei irgendeiner meiner eigenen „Arbeitsstellen“ besucht. Und wenn er zu mir in die Wohnung kommt, um den Kindern zu den üblichen Anlässen Dinge dazulassen, bringt er selten mehr als zehn Minuten mit. Er ist ein gefragter Mann und genießt das. Was wird nun aus ihm?
Mein Vater hätte jetzt Zeit, sich mit mir auf seine schwarze Besuchercoach aus Leder zu setzen. Er hat keinen drängenden Termin, keine wichtige Akte durchzugehen, doch er rennt in seinem großen Arbeitszimmer herum wie ein Getriebener. Als müsse er morgen hier raus. „Entspann dich“, würde ich gern sagen, aber so reden wir nicht miteinander; unsere Albernheiten sind anderer Art. Er wirkt unangemessen überbeschäftigt, hastet hierhin, schaut dorthin, räumt ein Buch zur Seite. „Wer wird dich an die Geburtstage erinnern, wenn du keine Sekretärin mehr hast?“, frage ich scherzhaft. Er lächelt. „Es gibt dafür auch Funktionen in deinem Handy“, rege ich an, „automatische Kalender“. „Unsinn", wehrt er ab, "dafür bin ich zu alt!" Er hat immer gern mit seinem Alter kokettiert (er sieht viel jünger aus als wer ist). Er treibt keinen Sport, ist aber schlank, beweglich, hat kaum ein graues Haar und wach hin- und her flitzende Augen. Nur heute sieht er alt aus. So alt habe ich ihn noch nie gesehen.
Ich schätze, wir sind quitt miteinander, vielleicht immer schon gewesen. Und doch sehne ich mich ausgerechnet in seiner Nähe immer noch nach der Geborgenheit eines Seins, in der ich nicht werden muss. Welche Leistung habe ich vorzuweisen?
Mein Vater hat immer alles im Griff, oft so sehr, dass man ganz nervös wird dabei. Als Kind hat er mich mit Hektik und Toastbrot gefüttert und seinen Kram gemacht, mindestens drei Sachen auf einmal. Auch jetzt schaut er mich nur selten und kurz an, hantiert mit den Bildern, die ich mitnehmen möchte, lenkt unausgesprochen vom Thema ab. Mein Vater hört sich gern reden, aber von den wichtigen Dingen schweigt er lieber.
Ich lese mehr in seinem Gesicht als ich mag.
Mein Vater kann noch nicht aufhören, doch er lässt sich nicht helfen. Er wuchtet ein schweres Gemälde von der Vorrichtung an der Wand hinter seinem Schreibtisch, eine Fensteransicht in Öl von Ilja Heinig: sechs blinde Butzenscheiben in einem erkerartigen Raum, ziemlich grau.
Ich mag es.
Mein Vater verheddert sich, und der Haken zappelt in der Schnur.
Ich hoffe still, dass es richtig von mir ist so zu tun, als bräuchte er keine Hilfe.
Mein Vater verschiebt einen Beistelltisch, steigt hinauf. Jetzt hat er das Bild abgehängt, klettert wieder herunter, stellt es zu den anderen Werken, die ich mir ausgesucht habe. Er kramt in dem kleinen Flur vor der Dusche und bringt Folie für die Bilder. „Herein!“ Der Fahrer betritt den Raum. Ich hatte das Klopfen gar nicht gehört, weil die Türen hier so schwer und dick sind. Der Mann sieht älter aus als sein Chef, hat noch ein Jahr bis zur Rente. Er stellt sich gebückt hin, will früher in den Feierabend und weiß noch nicht, wie er es am geschicktesten formulieren soll. Mein Vater bittet ihn auszuprobieren, ob das Bild in den Dienstwagen passt.
Ich betrachte erneut ein kleines, quadratisch gerahmtes, abstraktes Bild von Heinig, frage nach dem Titel, aber mein Vater kommt nicht drauf oder wusste es nie. Weiß auch den Namen nicht von Wolf Vostells Druck, auf dem ein Auge auf einem Bein und eine Hand sich miteinander auf unschöne, ungesunde, jedoch interessant und merkwürdig vertraut wirkende Art verrenken (ich werde es mir nachher in Ruhe anschauen, wenn ich allein bin). Vostell ist bekannter gewesen als Heinig, hat zum Beispiel die zwei Cadillacs am Berliner Rathenauplatz geschaffen. Jedes Mal, wenn ich dort mit dem Fahrrad vorbeikomme, freue ich mich, wie in all dem Krach plötzlich eine gedankenlose Stille entstehen kann: RuheinFriedenGötzeMotor-mit-vier-Rädernn. Die Ampel dort nötigt die Fußgänger zu langen Wartezeiten, während die Autos in einer Tour um ihre eigene Hinfälligkeit herumkurven, deren Fahrer gleichsam den gleichgültigen Betongöttern der Ignoranz huldigend. Natürlich ist das simpel – und genau deshalb genial. Ich mag den merkwürdigen, namenlosen Druck, bei dem das Auge auf dem Frauenknie sitzt. Noch lieber hätte ich die Radierung, mit Bleistiftwidmung „für Carmen“, aber die will er behalten. „Wer ist Carmen?“, frage ich.
Mein Vater erzählt mir die Geschichte: Das ist die Frau, die ihm das Bild verkauft hat, war mit Vostell befreundet. „Sie muss ihn gehasst haben“, vermute ich, „der Künstler hatte es ihr doch gewidmet!“ Er schüttelt den Kopf: „Carmen steckte immer in Geldsorgen.“ Ich wüsste gern, auf welche Art er selbst mit jener Carmen bekannt war, frage aber nur, wie viel er dafür bezahlt hat. „Ach, Tausend Mark oder so.“
Ich will langsam los.
Mein Vater ist noch nicht so weit, hebt eine Metallarbeit vom Boden, wo sie als Teppichbeschwerer und Stolperfalle diente, um sie auf den Schreibtisch zu wuchten. Auch die will er behalten – leider. Es ist ein Haus an Rädern von Georg Seibert: Eisenwärme. Dieser Künstler verkaufe sich gerade gar nicht gut. „Und Papierkunst geht auch nicht besser zurzeit“, informiert mich mein Vater. Er habe sich bei einem Galeristen erkundigt. „Bilder in Öl schon eher.“
Ich lese immer noch mehr in seinem Gesicht als ich sagen darf und versuche, beiläufig zu klingen: „Muss ein komisches Gefühl sein, Papa.“ Er schaut mit einem Stirnrunzeln hoch. „Aufzuhören“, sage ich, „mit der Arbeit Schluss zu machen – nach all den Jahren“. Auf seine höfliche Art weist er mich zurück: „Ich weiß nicht, ob das ein komisches Gefühl ist oder eher der natürliche Lauf der Dinge!“ Das Ausrufezeichen hallt nach. Damit überlässt er mir sein komisches Gefühl. Vielleicht hat er das immer getan – und behält immer Recht damit, denn mir fällt keine Erwiderung ein. Schließlich muss jeder sehen, wie er klarkommt. Vielleicht ist es Zeit, mir endlich ein Beispiel an ihm zu nehmen.
[20. Oktober 2011]
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Ich sammle Strohhalme wie andre Leute Schuhe
Die alten
werden immer mehr
die werf ich fort
die mach ich zum Geschenk
(ein Fest zu halten!)
schwimmen hin und her
und wie ich an dich denk
So fahr‘n sie übern See (übern See!)
Da! Hin! Und angeln mir ein Wort:
Der Herbst ist mein Lieblingsgetränk.
[4. Oktober 2011]
I Genial
GENIALE SACKGASSEN – ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT, steht im Technikmuseum auf dem Fußboden. Eigentlich will ich etwas anderes schreiben (wie immer).
Ich lese zu wenig. Ich rede auch nicht mehr. (Habe ich es aufgegeben?) Erzähle von mir nichts. Schreibe tief in mich rein (wenn überhaupt) und fürchte am meisten vielleicht, dass es einer liest. Habe ich getan, was ich konnte? Tue ich, was ich will? Es ist leise da drinnen, in meiner Schrift. Aber da kenne ich mich besser aus als in der lauten Einsamkeit da draußen: ein fortwährendes Gespräch, dem keiner zuhört, und doch schreibe ich es mit:
II Weltschmerz
Da draußen finden die Leute permanent statt. Man äußert seine Veräußerung auf facebook. Klotürensprüche sind Besinnlichkeit, sind Zwiesprache dagegen. Man kriegt gedacht, es ginge nicht anders. Auf allen Kanälen bekommt man das Vergessen serviert: so vergisst man brav, dass es IMMER anders geht. Hat man Angst, nicht vorhanden zu sein, wenn man draußen bleibt? Wenn Draußenbleiben und Beisichsein sich nicht immerzu mitteilen? Hat man Angst vor dem Widerspruch - mehr als vor Konformität? Man gibt immer neue Reize auf die Reizflut, als würde man sie damit lindern, begibt sich seiner selbst, macht sich öffentlich zum Hans, überlässt Telefon- und Kreditkartennummern den großen Konzernen (facebook, Google, Apple, Amazon), gesichtslose Riesen, denen man mehr vertraut als der eigenen Mutter: Sie sind da! Überall! Und die können machen können, was sie wollen, auch mit den eigenen Daten, im Prinzip: sich verkaufen, mich verkaufen, irgendwas verkaufen. "Freunde" sind Geld. Man weiß es, im Prinzip. Vielleicht ist es auch egal, dass es egal ist. Oder ich bin nur zu alt. Oder es ist dasselbe wie früher, nur auf andere Art: Glänzen, Da-Sein, Lebendigsein. Klotürenliebeserklärungen, eingeritzt ins virtuelle Netz.
Und doch: Reicht es, die eigene Eitelkeit gegen den allgemeinen Wahnsinn zu setzen, der als normative Kraft des Faktischen verkauft wird? Ist Gleiches mit Gleichem heilbar? Teilbar? Oder überhebt sie sich, verrechnet sich die globale Unternehmer-Homöopathie an ihrem eigenen Leiden?
III Unterleben
Der November hat die ganze Zeit so getan, als sei er Oktober. Nun kann er nicht mehr, nun wird er, was ihm bestimmt ist: feucht, kalt, klamm, ein Versprechen auf Zeit. Alles findet in der Zukunft statt, nur die Sorgen sind notwendig Gegenwart:
Soll ich mich als Aushilfe bei Kaisers bewerben? Meine Tochter sagt Nein. Dafür sei ich überqualifiziert. Ich bin mir nicht sicher. Suche meine geniale Sackgasse zurück in die Gegenwart. Ich müsste nur quer über die Straße gehen. Wenigstens etwas verdienen. Tüten einräumen. So unbeholfen an der Kasse sitzen wie die neue Aushilfe mit dem Igel-Haarschnitt, die viel zu freundlich ist, um lange dort auszuhalten (aber wer weiß?). Wäre Aushilfe ein Abstieg oder ein Aufstieg oder ein Ausstieg? Würden die mich überhaupt helfen lassen?
Ich fühle mich unterqualifiziert für mein eigenes Leben.
[10. November 2011]
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kämpfe mit meinen dämonen
niemand kann sie außer mir sehen
die haben so viele namen!
ich spreche von ihnen nur kleinlich
ich kanntunichtsdagegennichtsfür
sie geben sich achtsam gefährlich
sie wispern: du handelst nicht richtig!
sie flüstern: du stehst immer krumm!
sie singen: sei endlich mal mutig, geh
anders herum
dann trete ich mit jedem schritt
daneben und tu ihnen leid
ich teile das niemandem mit: sie zahlen das brautkleid
an dem ich mein leben lang nähe
ich will ja!
im spiegel ihr leuchten liegt quer auf dem weg
da blas‘ ich sie taggroß am abend
und schrumpfe sie träumend (zum schein)
ich führ‘ ihren krieg
ich nehm‘ ihren Sieg
als verdammtes geschenk
an mich kleinen engel
[8. November 2011]
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Der natürliche Lauf der Dinge
Mein Vater räumt sein Büro. Er hat noch mehrere Wochen Zeit, bevor er gehen muss, aber er mag nicht alles auf den letzten Drücker tun, sagt er. Mein erster Impuls ist, ihm die Hand zu geben, doch er hält mir die Wange hin für den quasi theoretischen Streifkuss, den wir einander seit einiger Zeit gönnen, und ich lache mich mit einem trockenen Lachen über meine Unbeholfenheit. Die Begrüßung holpert noch immer, aber das sind wir gewohnt – Abschiede gehen leichter.
Ich ziehe meine Jacke aus. Der Raum ist völlig überheizt. Er verfügt über einen kleinen Abstell-Flur mit Zugang zu Toilette und eigener Dusche. Das Gebäude, in dem mein Vater die vergangenen zehn Jahre in der Chef-Etage verbrachte, stammt aus dem vorvorigen Jahrhundert. Die Gardinen hängen vor hohen Fenstern, so dass eine müde Undurchsichtigkeit herrscht.
Mein Vater wird bald 70. Ich komme, um Bilder abzuholen, die er loswerden will – für die er in der Wohnung keinen Platz haben wird – Kunstwerke, die er geschenkt bekommen hat von befreundeten Malern, Erinnerungen an weniger zielstrebige, „kreative“ Leute: Menschen, bei denen man nicht so genau wissen kann, was oder ob etwas aus ihnen werden würde. Oder geworden ist. Manche sind schon tot.
Ich bin zum zweiten Mal dort. Mein erster Besuch fand kurz nach seiner Ernennung statt. und nun ringe ich mein schlechtes Gewissen darüber nieder: Schließlich hat er mich bis heute kein einziges Mal bei irgendeiner meiner eigenen „Arbeitsstellen“ besucht. Und wenn er zu mir in die Wohnung kommt, um den Kindern zu den üblichen Anlässen Dinge dazulassen, bringt er selten mehr als zehn Minuten mit. Er ist ein gefragter Mann und genießt das. Was wird nun aus ihm?
Mein Vater hätte jetzt Zeit, sich mit mir auf seine schwarze Besuchercoach aus Leder zu setzen. Er hat keinen drängenden Termin, keine wichtige Akte durchzugehen, doch er rennt in seinem großen Arbeitszimmer herum wie ein Getriebener. Als müsse er morgen hier raus. „Entspann dich“, würde ich gern sagen, aber so reden wir nicht miteinander; unsere Albernheiten sind anderer Art. Er wirkt unangemessen überbeschäftigt, hastet hierhin, schaut dorthin, räumt ein Buch zur Seite. „Wer wird dich an die Geburtstage erinnern, wenn du keine Sekretärin mehr hast?“, frage ich scherzhaft. Er lächelt. „Es gibt dafür auch Funktionen in deinem Handy“, rege ich an, „automatische Kalender“. „Unsinn", wehrt er ab, "dafür bin ich zu alt!" Er hat immer gern mit seinem Alter kokettiert (er sieht viel jünger aus als wer ist). Er treibt keinen Sport, ist aber schlank, beweglich, hat kaum ein graues Haar und wach hin- und her flitzende Augen. Nur heute sieht er alt aus. So alt habe ich ihn noch nie gesehen.
Ich schätze, wir sind quitt miteinander, vielleicht immer schon gewesen. Und doch sehne ich mich ausgerechnet in seiner Nähe immer noch nach der Geborgenheit eines Seins, in der ich nicht werden muss. Welche Leistung habe ich vorzuweisen?
Mein Vater hat immer alles im Griff, oft so sehr, dass man ganz nervös wird dabei. Als Kind hat er mich mit Hektik und Toastbrot gefüttert und seinen Kram gemacht, mindestens drei Sachen auf einmal. Auch jetzt schaut er mich nur selten und kurz an, hantiert mit den Bildern, die ich mitnehmen möchte, lenkt unausgesprochen vom Thema ab. Mein Vater hört sich gern reden, aber von den wichtigen Dingen schweigt er lieber.
Ich lese mehr in seinem Gesicht als ich mag.
Mein Vater kann noch nicht aufhören, doch er lässt sich nicht helfen. Er wuchtet ein schweres Gemälde von der Vorrichtung an der Wand hinter seinem Schreibtisch, eine Fensteransicht in Öl von Ilja Heinig: sechs blinde Butzenscheiben in einem erkerartigen Raum, ziemlich grau.
Ich mag es.
Mein Vater verheddert sich, und der Haken zappelt in der Schnur.
Ich hoffe still, dass es richtig von mir ist so zu tun, als bräuchte er keine Hilfe.
Mein Vater verschiebt einen Beistelltisch, steigt hinauf. Jetzt hat er das Bild abgehängt, klettert wieder herunter, stellt es zu den anderen Werken, die ich mir ausgesucht habe. Er kramt in dem kleinen Flur vor der Dusche und bringt Folie für die Bilder. „Herein!“ Der Fahrer betritt den Raum. Ich hatte das Klopfen gar nicht gehört, weil die Türen hier so schwer und dick sind. Der Mann sieht älter aus als sein Chef, hat noch ein Jahr bis zur Rente. Er stellt sich gebückt hin, will früher in den Feierabend und weiß noch nicht, wie er es am geschicktesten formulieren soll. Mein Vater bittet ihn auszuprobieren, ob das Bild in den Dienstwagen passt.
Ich betrachte erneut ein kleines, quadratisch gerahmtes, abstraktes Bild von Heinig, frage nach dem Titel, aber mein Vater kommt nicht drauf oder wusste es nie. Weiß auch den Namen nicht von Wolf Vostells Druck, auf dem ein Auge auf einem Bein und eine Hand sich miteinander auf unschöne, ungesunde, jedoch interessant und merkwürdig vertraut wirkende Art verrenken (ich werde es mir nachher in Ruhe anschauen, wenn ich allein bin). Vostell ist bekannter gewesen als Heinig, hat zum Beispiel die zwei Cadillacs am Berliner Rathenauplatz geschaffen. Jedes Mal, wenn ich dort mit dem Fahrrad vorbeikomme, freue ich mich, wie in all dem Krach plötzlich eine gedankenlose Stille entstehen kann: RuheinFriedenGötzeMotor-mit-vier-Rädernn. Die Ampel dort nötigt die Fußgänger zu langen Wartezeiten, während die Autos in einer Tour um ihre eigene Hinfälligkeit herumkurven, deren Fahrer gleichsam den gleichgültigen Betongöttern der Ignoranz huldigend. Natürlich ist das simpel – und genau deshalb genial. Ich mag den merkwürdigen, namenlosen Druck, bei dem das Auge auf dem Frauenknie sitzt. Noch lieber hätte ich die Radierung, mit Bleistiftwidmung „für Carmen“, aber die will er behalten. „Wer ist Carmen?“, frage ich.
Mein Vater erzählt mir die Geschichte: Das ist die Frau, die ihm das Bild verkauft hat, war mit Vostell befreundet. „Sie muss ihn gehasst haben“, vermute ich, „der Künstler hatte es ihr doch gewidmet!“ Er schüttelt den Kopf: „Carmen steckte immer in Geldsorgen.“ Ich wüsste gern, auf welche Art er selbst mit jener Carmen bekannt war, frage aber nur, wie viel er dafür bezahlt hat. „Ach, Tausend Mark oder so.“
Ich will langsam los.
Mein Vater ist noch nicht so weit, hebt eine Metallarbeit vom Boden, wo sie als Teppichbeschwerer und Stolperfalle diente, um sie auf den Schreibtisch zu wuchten. Auch die will er behalten – leider. Es ist ein Haus an Rädern von Georg Seibert: Eisenwärme. Dieser Künstler verkaufe sich gerade gar nicht gut. „Und Papierkunst geht auch nicht besser zurzeit“, informiert mich mein Vater. Er habe sich bei einem Galeristen erkundigt. „Bilder in Öl schon eher.“
Ich lese immer noch mehr in seinem Gesicht als ich sagen darf und versuche, beiläufig zu klingen: „Muss ein komisches Gefühl sein, Papa.“ Er schaut mit einem Stirnrunzeln hoch. „Aufzuhören“, sage ich, „mit der Arbeit Schluss zu machen – nach all den Jahren“. Auf seine höfliche Art weist er mich zurück: „Ich weiß nicht, ob das ein komisches Gefühl ist oder eher der natürliche Lauf der Dinge!“ Das Ausrufezeichen hallt nach. Damit überlässt er mir sein komisches Gefühl. Vielleicht hat er das immer getan – und behält immer Recht damit, denn mir fällt keine Erwiderung ein. Schließlich muss jeder sehen, wie er klarkommt. Vielleicht ist es Zeit, mir endlich ein Beispiel an ihm zu nehmen.
[20. Oktober 2011]
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Ich sammle Strohhalme wie andre Leute Schuhe
Die alten
werden immer mehr
die werf ich fort
die mach ich zum Geschenk
(ein Fest zu halten!)
schwimmen hin und her
und wie ich an dich denk
So fahr‘n sie übern See (übern See!)
Da! Hin! Und angeln mir ein Wort:
Der Herbst ist mein Lieblingsgetränk.
[4. Oktober 2011]