Zangenbiss

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wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 04.11.2011, 15:32

nachtfetzen

gewickelt in kalte tücher

draußen ringen
bäume
mit dem wind

drähte glühen kurz
im wolkenrausch
und verglimmen




plastikengel schweben
nordwärts

mit geschlossenen augen
lider
so schwer

carl
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Beitragvon carl » 22.11.2011, 08:00

Hallo Benjamin,

vielleicht kann ich deshalb bei deinem letzten Gedicht spontan so viel mit den Bildern anfangen!
Sonst habe ich manchmal den Eindruck, dass du bei einem 2. Durchgang deine Texte im Sinne einer "Verwischung der Entstehungsspuren" überarbeitest. Ist natürlich reine Spekulation von mir...

Ich schreibe normalerweise deshalb nichts zu deinen Texten, weil mich beim Lesen das Gefühl beschleicht, ich betrete eine mir völlig fremde Welt, deren Bewohner gerade mal weg sind.
Sodass ich einen Moment Zeit habe mich umzusehen.
Auf Zehenspitzen umhergehe und all die fremdartigen Einrichtungsgegenstände bewundere.
Gleichzeitig Sorge habe, wie Mr. Bean durch einen Nieser mit den bekannten katastrophalen Folgen alles kaputt zu machen. Oder wie Loriot bei dem Versuch ein Bild gerade zu rücken.
Und wieder gehe, bevor die Einwohner zurück sind und fragen: "Wer hat von meinem Teller gegessen?"

Kurz und knapp: ich habe oft den Eindruck, sehr gute Texte vor mir zu haben, ohne dass ich irgendetwas von ihrem Zustandekommen, ihren Hintergründen oder ihrer Bedeutung verstehe.
Man muss auch seine Grenzen akzeptieren...

LG, Carl

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 22.11.2011, 13:34

Lieber carl, danke dir sehr für deinen ausführlichen Leseeindruck.
Muss unbedingt darüber nachdenken, vielleicht ist es ja ein Stück weit eine leere Welt. Ich sehe dich hindurch huschen, und möchte nicht, dass es leblos wirkt, ein bißchen wie eine Ausstellung von Kunstobjekten.

Wie gesagt, berührt mich, und ich beschäftige mich mit deiner Sicht auf die Dinge,...

Viele Grüße
Fux

carl
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Beitragvon carl » 22.11.2011, 18:11

Hallo Fux,

das war keine Kritik von mir, höchstens Selbstkritik ;-)

Ich will es nochmal anders ausdrücken:
Du gehörst zu der Gruppe jüngerer Autoren, zu der ich sagen muss: ich verstehe sie nicht mehr.
Wobei "jünger" relativ ist: unter 40, aus meiner Perspektive.
Der Umkehrschluss ist übrigens falsch: viele jüngere Autoren verstehe ich durchaus...
Mit verstehen meine ich etwas mehr, als eine Inhaltsangabe machen können. Oder das Gegenteil davon, ein gruppengerechtes feeling haben.

Bei dir habe ich nun das bittersüße Vergnügen, dass mir irgendwas sagt: das sind sehr gute Texte. Oder mindestens gute!
Und ich habe keine Ahnung, wieso...
Für dich eigentlich kein Grund, dir Gedanken zu machen.

LG, C

Gerda

Beitragvon Gerda » 22.11.2011, 18:21

Das "Gespräch" Fux/Carl, ist hochinteressant.
Ich lese in den Blogs nicht ständig mit, weil meine Zeit es nicht zulässt, aber hier, kann ich Carls Gefühl für deine Texte, Fux, eine Menge abgewinnen.

Liebe Grüße
Gerda

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 22.11.2011, 19:39

Liebe Gerda, willst du sagen, dass du ähnlich empfindest?

Für mich sind Leserempfindungen schon sehr wichtig. Wobei ich mir eigentlich wünschen würde, dass es keine Altersbarrieren gäbe.
Lyrik also zeitlos oder aus der zeit gefallen wäre...


Ich finde die Blogs auch zeitaufwändig, aber dafür entsteht darin ein längerer Faden eines Autors und man kann sich einlesen...
Lieben Gruß
Wüstenfux

Gerda

Beitragvon Gerda » 22.11.2011, 20:32

Hallo Fux,

ich glaube, dass ich sehr viel älter als Carl bin. Ob deine Texte je nach Alter unterschiedlich rezipiert werden, wage ich anzuzweifeln. Für mich gibt es jedenfalls diese Barriere nicht. Oft genug sind mir Texte jüngerer AutorInnen näher, berühren mich tiefer, als jene der Gleichaltrigen.
Ich kann nur für mich sprechen, dass ich mein Empfinden ähnlich ausdrücken würde wie Carl, ist eher zufällig.
So kann ich festhalten, wenn ich diese Texte im Blog nehmen, dass sich bei mir Alptraum Bilder einstellen, die an Kindheit, Kinderschicksale auf der reichen/armen Welt, an Mangel, auch den der Zuwendung, an Naturkatastrophen, an Hilflosigkeit und vor allem an „unsere“ Kältegesellschaft erinnern. Ich kann aber nicht übersetzen, also deine Texte aufdröseln und sagen, dies bedeutet das und jenes das.
Aber es ist auch nicht wichtig, finde ich. Der Text besteht mit unterschiedlichen Deutungen, was ihn ja auch besonders und interessant macht.
Allerdings muss ein Autor solcher Texte damit leben, dass er sie dem Leser überlässt, weil er die Texte offen sind … was mir gefällt.

Liebe Grüße
Gerda

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 29.11.2011, 16:07

Treiben in der Amper auf alten Autoreifen. Moorfluss unter Laubbäumen mit alter Rinde. Sonnenringe auf dem Wasser.
Am Ausstieg der kahle Fels. Glatt und rutschig.. Man muss sich auf den steilen Pfad der Uferböschung hochziehen.
Mit schrillem Geschrei rennen wir zurück. Nur ein Trampelpfad. Äste peitschen ins Gesicht.
Vögel fliegen auf.
Ein blauer Himmel lugt durch Blattlöcher.
Nils, der mit der Babyhaut und rötlichem Haar, stolpert über eine Wurzel. Tränen steigen in die wasserblauen Augen. „Steh auf…“, droht Thomas.
Wir schließen den Kreis. Gehen langsam auf ihn zu. Er beißt sich auf die Lippen, rappelt sich hoch. Sein Kinn zittert, dann läuft er weiter. Er senkt den Kopf. Seine Füße wirken bleischwer.
Wir rennen schweigend. Wolken ziehen auf. Bedrohliches Schweigen.
Beim Einstieg ins Wasser, das bauchhoch ist, zögert Nils. „Ich habe genug…“, seine Stimme klingt eng.
Thomas schubst ihn den Pfad hinunter. Er verliert das Gleichgewicht und stürzt. Taumelt und gleitet in den Fluss ohne seinen Reifen.
Sein Kopf sinkt ins Wasser, sein weißer Körper gleitet unter der Wasseroberfläche wie ein seltener Fisch. Ernst, ein stämmiger Schwimmer, flucht und rennt ins Wasser. Läuft ein paar Meter mit der Strömung und packt Nils unter der Schulter. Hilft ihm aufzustehen. Nils zittert, er meidet es, uns anzusehen.
Zusammen waten Ernst und Nils zurück ans Ufer.
Wieder stehen wir im Kreis, lauern. Thomas zieht eine verächtliche Miene. Ich kaue auf meinem Kaugummi herum.
Nils läuft an uns vorbei blind vor Tränen. „Memme“, knirscht Thomas und streicht sich sein rabenschwarzes halblanges Haar aus der Stirn. „Der ist ausgeschlossen…“, sagt Rafael, der düstere Engel, der Schatten von Thomas. Ich schweige. Habe keine Meinung. Will es überspielen.
Plötzlich hat keiner mehr Lust. Wir steigen die Böschung hinauf und laufen durch den sommerwarmen Wald. Es riecht nach Holz. Wir steigen und steigen, kriechen ins Unterholz.
Der Himmel verfinstert sich. Wir erreichen die gespaltene Tanne, unseren Treffpunkt.

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 29.11.2011, 16:29

streifen durchs moos
im fuchskleid verborgen
morastlöcher
haferstängel vom alten sommer
lagerschuppen mit blindscheiben
tannengewäsch
eine verirrte gans
scheucht mich in den kuhweiher

nebel schluckt windblüten
wir durchwühlen die tonnen
füttern die streunenden katzen
bis der staubige bus
durchs dorf jagt
und wir grölen
und heben unseren staubigen Hut

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Eule
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Beitragvon Eule » 06.12.2011, 09:40

Hallo Benjamin, die letzten beiden Einträge enthalten wieder schöne Impressionen von Kindern, die spielend und kämpfend die umgebende Landschaft erobern. Am Schluss des Gedichtes finde ich die Wiederholung des "staubig" aber zu stilisierend, die leichte Selbstironie darin passt für mich nicht zum berichtenden Ton des übrigen Textes.
Ein Klang zum Sprachspiel.

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 11.12.2011, 18:30

Da hast du recht mit dem doppelten "staubig", Eule und danke, dass du immer wieder Rückmeldung gibst.

Viele Grüße
Fux

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 23.01.2012, 17:10

Der Nordwind trieb ihn den Weg am Fluss hinunter. Schob ihn, bedrängte ihn.
Der Himmel war trüb und die Bäume bogen sich in Trostlosigkeit, in Agonie.
Er konnte niemand mehr trauen.
So rannte er fast, dem Raben folgend und Hanf inhalierend.
Es gab ihm Kraft für den langen Marsch ohne Ziel.
Der Fluss dunkelte und silberte dann wieder flüchtig auf.
Die schwarzen Flügel der Raben wachten über die Steine der Uferböschung.
Er hörte die Strömungen in der Luft und atmete tief.
Moos, Wermutbüsche, kalte Sterne.
Sein Herz pulste unruhig, wollte fast aus der Kehle springen.
Er irrte ab vom Weg.
Erinnerungen suchten ihn heim. Er stolperte über einen verkohlten Ast. Das Zwielicht drang vor.
In der Ferne sah er eine alte Frau, wie er schleppte sie sich in Richtung Norden.
Das Graulicht legte sich wie Rauch auf seine Lungen.

Nun trug er ein Gewand aus Vogelfedern.
Die Krähen folgten ihm mit schlängelnden Feuerzungen.
Sein Schädel ging auf Jagdreisen.
Er wurde Wächter im Tal der Toten.
Er holte die Alte ein mit schweren Beinen.
Sie wanderte, als suchte sie ihr Ende. Sie war verloren.
Er überholte sie wortlos, zog einfach vorüber und hinterließ in seiner Spur den Rauch von brennendem Hanf.

Gerda

Beitragvon Gerda » 11.02.2012, 09:48

Hallo Fux,

Du hast interessante Ideen verarbeitet und sie wären duchaus wert alle beleuchtet zu werden. Dazu allerdings fehlt mir die Zeit deshalb einen kleine Replik auf den folgenden text, den ich herausgefischt habe.

wüstenfuchs hat geschrieben:ein junge stammelt
im nebel
im kreisrund der bäume

wunde
schattenwunde

ein junge sinkt im nebel
erdrosselt
liegt die krähe

blind vor tränen
am hang

blatttaumel
ring der bäume
verdüstert

sinken
erlöschen



Gleich zu Beginn:
im nebel
im kreisrund ...

Das liest sich an dieser Stelle nicht gut, klingt auch nicht schön ...
Da gibt es sicher andere Möglichkeiten.
Ein bisschen, wie eine Stichwortsammlung wirkt es noch auf mich, besonders wenn ich es mit Zeilenumbrüchen in anderen Texten von dir vergleiche, ein wenig unfertig, aber intensiv.
Vielleicht handelt es sich bei dem Text auch um eine erste Fassung, denn dazu wäre ein Blog ja gut und richtig. :-)

Liebe Grüße
Gerda

Gerda

Beitragvon Gerda » 11.02.2012, 10:00

Zu deinem Eintrag vom 29.11.2011
viewtopic.php?p=176552#p176552

Ein feiner Text, der für mich einen Ausschnitt jener Naturverbundenheit ohne Scheu zeigt, wie sie wohl nur in der Kindheit empfunden werden kann,

Ich schreibe ich dir eine PN, das Gedicht erinnert mich sehr an einen eigenen Text.

LGG

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 11.02.2012, 19:09

Er wachte auf in Kleidern, in seinem Bett.
Im Halbschlaf erinnerte er sich an Simon, der von den Vögeln sprach, wispernd auf ihn einsprach ohne Pause.
Simon verließ wortlos die Party in der alten Ruine. Er sah nicht einmal, wie er diesen altmodischen schwarzen Mantel anzog. Als er ihn bemerkte, war Simon an der Tür, aber es war egal, er schlich schon die Wand der Nacht entlang.
Seine letzten Worte waren gewesen: „Der Tümpel ist verschlammt…die Vögel, die Federn…“ Er war immer lauter geworden.
Seine Stimme hallte durch den Bau.
Plötzlich hörten alle zu sprechen auf, setzten sich um ihn herum, wunderten sich, sahen einander an, manche schmunzelten…

Doch die Vögel waren nicht entscheidend. In der Nacht fraßen ihn die alten Legenden.
Der Alte, tot im Haus aufgehängt, überall Vogelexkremente und verfaulter Fisch. Der Wind kam aus Süden.
Der Vogel im Scharlachmantel, Füße, Schnabel und Augen aus Gold, das Weibchen mit dem schlimmen Fuß.
Und der Wilde vom Fluss in dunklen Baumwollgewändern, vor Schmutz starrend, sein zerwühltes Haar in der Farbe von Blut wehte um seine Schultern.

Die Zeit schimmerte blau über dem Rücken einer Mauerschwalbe. Er schlief wieder ein. Die Zeit schimmerte blau über dem Rücken einer Mauerschwalbe. Eine Fliege tänzelte in der Sonne. Er träumte von ihr seiner Nymphe im verwitterten Grün. Ihr kupfernes Haar, ihre Bewegungen lautlos.


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