Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 14.08.2018, 12:44

Die Geschichte von Carson McCullers? Es ist, wie zum Beispiel auch "Wunderkind" (im Original deutsch!) von der gleichen Autorin, eine Geschichte über erotische Anziehungskraft, und ebenso wie in "Wunderkind" finde ich es bewunderswert und zutiefst menschlich, wie die Autorin aus (so spontan und für sich gesehen) alltäglichen Kleinigkeiten wie dicken Waden oder behaarten Händen Erotik herausdestilliert.
Ich bin mit Poldi nicht so vertraut wie mit dem Wunderkind - letzteres ist eine meiner Lieblingsgeschichten -, aber es scheint sich um dasselbe Thema zu drehen, wenn auch mit sehr verschiedenen Protagonisten.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 14.08.2018, 15:34

Wer Herr seiner selbst sein will, muss sich mitunter knechten.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

Quoth
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Beitragvon Quoth » 15.08.2018, 11:29

Jules Renard hat geschrieben: Der Wind, der es versteht, die Seiten umzublättern, und doch nicht lesen kann. (1901)

Wer weiß? Vielleicht liest er nur schneller ...
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Hetti
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Beitragvon Hetti » 15.08.2018, 12:18

Ich assoziiere hier Wind mit dem Schaumschläger. Und der tut nur so als ob er etwas könne. Der typische Bücherinsregalsteller. Braucht er heute ja nicht mehr, eMedien tuns auch. Bzw. jemand, der die Tiefe eines Textes nicht erkennen kann.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.08.2018, 13:08

Ja, ich habe die gleiche Assoziation wie Hetti. Zuerst hatte ich eine Windböe vor Augen, die ein Buch durchblättern lässt, aber ich glaube nicht, dass Renard dieses Bild meint, aber es könnte natürlich sein.

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birke
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Beitragvon birke » 15.08.2018, 16:06

der wind ist unberechenbar, mal streichelt er, mal trägt er, er trocknet die wäsche, mal verletzt er oder tötet gar, und manchmal tut er so, als könne er lesen ...
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.08.2018, 16:35

Wunderbar formuliert, Diana! :daumen: Ja, du hast Recht. Es ist doch die Windböe. ;)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 15.08.2018, 16:46

Aber schreiben kanner.

In Schönschrift.

Auf den Dünen.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.08.2018, 18:12

Ja, und Terraformer ist er, der Wind. Bestes Beispiel sind die Dünen. ;)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.08.2018, 23:56

Wenn ich die Wahl hätte, würde ich im nächsten Leben gern Wind werden.

Zefiro, Zefiro ...
(mein Lieblingsstück von Monteverdi)
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Hetti
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Beitragvon Hetti » 16.08.2018, 10:54

Ich möchte Lesende bleiben :-)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.08.2018, 13:13

Ich fühle mich richtig umfächelt von der schönen Winddiskussion!
Jules Renard hat geschrieben: Ich habe stets glückliche Menschen gesehen, aber wenn sie zu hoch dafür bezahlen mussten, beneideten sie das kleine begrenzte Glück im stillen Winkel. (1901)

Diese Bemerkung Renards scheint mir zu unserer Diskussion um den armen Poeten und die reiche Poetin zu passen - oder vielmehr: sie zu bereichern ...
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birke
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Beitragvon birke » 19.08.2018, 14:42

:)
ist glück, für das man bezahlen muss, glück?
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.08.2018, 15:29

Dasselbe fragte ich mich auch, Diana.

Ich denke, hier geht es um das Thema Neid im Zusammenhang mit Glück. Neid derer, die den glücklichen Menschen das Glück neiden und sie deshalb meiden, die Glücklichen somit einsamer werden und abgekapselt sind (= der Preis). Daher vllt. auch die Worte "beneideten sie ..."


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