Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 05.07.2018, 08:35

Renard war 37, als er das schrieb. In diesem Alter habe ich das Sterben völlig verdrängt. Er ist mit 46 gestorben - und vielleicht nie zu so viel Altersweisheit gelangt. Freue mich, Dich hier zu "sehen".
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 05.07.2018, 11:54

Weisheit ist das von meiner Seite bestimmt nicht. Eher so was wie Erleichterung, sich irgendwann aus der Verantwortung ziehen zu können - glaube ich.
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Beitragvon Pjotr » 05.07.2018, 13:52

Ich glaube, die zwei größten Anteile in der Angst vor dem Tod sind die Angst vor dem Alleinsein und die Angst vor dem Erlebnismangel. Zu meinem Glück hatte ich bisher nie Angst vor dem Alleinsein -- würde ich inhaftiert, wäre mir Einzelhaft lieber als eine Zweimannzelle. Für viele wäre Einzelhaft eine Qual. Was mir also übrigbleibt ist die Angst vor dem Erlebnismangel. Die nimmt im Lauf der Jahre mit angehäuftem Erlebnisreichtum ab. Als junger, erlebnishungriger Mensch wollte ich damals auf keinen Fall sterben. Und jetzt in der zweiten Halbzeit werde ich satter und gleichgültiger. Bin gespannt, wie das endet.

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Beitragvon Zefira » 05.07.2018, 15:58

Nach dem Tod ist ja nichts da, was allein oder gelangweilt sein könnte. :blind:

ps. Mit den "Haftbedingungen" gehts mir genau wir Dir. Aber die Menschen sind da sehr verschieden.
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Beitragvon Pjotr » 05.07.2018, 16:29

Aber man kann es sich vorstellen. Und sicher wissen kann man es sowieso nicht.

Auch die Gleichgültigkeit, die ich erwähnte, nimmt zwar zu, wird aber wohl begrenzt bleiben. Wer will nicht vorher noch alles in Ordnung bringen vor der großen Löffelabgabe? Obwohl man weiß, dass dann alles sowieso egal sein wird, will man nichts peinliches hinterlassen; man weiß es halt doch nicht ganz sicher. Man muss mit allem rechnen ...

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Beitragvon Zefira » 05.07.2018, 20:02

Ich war neulich schon dicht davor, ein Fotoalbum mit alten Partyfotos zu verbrennen, damit meine Töchter es nicht irgendwann in meinem Nachlass finden. Sowas von peinlich. Sobald der Ofen wieder brennt, denke ich hoffentlich daran.
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Beitragvon Pjotr » 05.07.2018, 21:13

Man muss den richtigen Zeitpunkt treffen. Nicht zu früh, sonst sind die schönen Fotos vernichtet. Nicht zu spät, sonst ist man nicht mehr fähig, sie zu vernichten.

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Beitragvon Zefira » 05.07.2018, 21:18

Ich brauch das Album nicht. Hab seit zwanzig Jahren nicht hineingeschaut und auch kein Bedürfnis danach. Ich weiß halt, dass es existiert und dass peinliche Fotos drin sind. (Keine Nacktfotos oder so - nur Fotos, auf denen festgehalten ist, wie man sich in seiner Jugend zum Affen gemacht hat.)
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Beitragvon Quoth » 06.07.2018, 13:38

Pjotr hat geschrieben: ... Zu meinem Glück hatte ich bisher nie Angst vor dem Alleinsein -- würde ich inhaftiert, wäre mir Einzelhaft lieber als eine Zweimannzelle. Für viele wäre Einzelhaft eine Qual ...

In einer Broschüre von der St. Petersinsel im Bieler See fand ich die Zeilen: "Diese Art Träumerei kann man überall genießen, wo man ungestört bleibt, und oft dachte ich mir, dass ich in der Bastille, ja, selbst in einem finsteren Kerkerloch ohne jede Sicht auf die Dinge noch angenehm hätte träumen können ..." Du weißt bestimmt, Pjotr, wer das behauptet und geschrieben hat!
Gruß Quoth
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Beitragvon Pjotr » 06.07.2018, 14:47

Rousseau?

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Beitragvon Quoth » 06.07.2018, 21:00

Wer sonst - als der, der die Menschen entflammte, die Bastille zu stürmen ...
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Beitragvon Quoth » 08.07.2018, 10:12

Jules Renard hat geschrieben: Der Mund, dieses hübsche Nest der Stimme. (1901)

Dem "Amorbogen" in Deinem Blog gewidmet, Birke.
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Beitragvon birke » 08.07.2018, 15:30

oh, wie schön, danke, quoth!
das klingt gut, aber ob es das wirklich trifft? lässt sich jedenfalls fein drüber sinnieren... ist die stimme ein nestflüchter? ...
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

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Beitragvon Quoth » 08.07.2018, 18:26

Das vielleicht auch! Aber vor allem brütet sie gern sehr sonderbare Eier in diesem Nest aus, vielleicht manchmal auch Kuckuckseier!
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