Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 18.07.2018, 20:07

Ich lese hier gerne mit! Danke

Jules Renard hat geschrieben:
Misstraue deiner Phantasie. Ich mag nur die Kuchen, die ein wenig nach Brot schmecken.(1894)


Interessantes Zusammenspiel der beiden Sätze.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 18.07.2018, 23:23

Gerade habe ich ein Interview mit Ian McEwan gelesen, in dem er über seine eigenen Lesevorlieben sagt:
"Ich liebe eine Kombination aus Präzision und Lyrik. Es klingt wie ein Widerspruch. Die Musik muss da sein, aber auch die Welt, die wir teilen. Es ist schwer herzustellen. Aber das ist es, was ich liebe."
... und auch:
"Ich bin Realist. Ich liebe die Welt der Imagination. Ich glaube, dass es etwas gibt, das wir nicht vollständig begreifen. Ich war mein Leben lang an Wissenschaft interessiert, und so entwickelte sich mein philosophischer Materialismus. Die physische Welt und die Natur enthalten so viele Wunder, dass es kaum eine Notwendigkeit für das Surreale gibt. Die Welt der Vulkane und Bäume ist surreal genug."
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 19.07.2018, 00:27

Ganz meine Ansicht.

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birke
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Beitragvon birke » 19.07.2018, 01:02

tolle zitate, zefira, da kann ich vollkommen mitgehen!
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.07.2018, 19:31

Jules Renard hat geschrieben:
Misstraue deiner Phantasie. Ich mag nur die Kuchen, die ein wenig nach Brot schmecken.(1894)


Für mich reicht der zweite Satz völlig. Er trifft es für mich auf den Punkt. Renard hat so Recht. All die verschnörkelten, extremst dekorierten Torten mit viel Tamtam. Aufgeblasen und nichts dahinter bzw. drin außer fetter Sahne und Zucker. Pffff.
Es geht nichts über einen einfachen Kuchen mit wenig Zutaten, am besten altbackenen Äpfeln, bisschen Zimt. Fertig. Ich liebe diesen "Urgeschmack" darin. So, wie den, wenn man ein Brötchen in Milch tunkt. :DD:

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Beitragvon Pjotr » 19.07.2018, 20:48

Ich brauchte eine Weile, bis meine Fantasie genügend Möglichkeiten zur Verfügung stellte, um den Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Satz zu verstehen. Ich hatte das "Misstrauen" im Kontext nicht ganz kapiert. Es ist wohl eher nicht das Misstrauen gegenüber der Fantasie, sondern das Misstrauen gegenüber der Fantasieleistungsfähigkeit. Fantasie ist nun mal Fantasie und kein historischer Tatsachenbericht. Das weiß ich ja, da gibt es nichts zu trauen. Also was genau in der Fantasie sollte ich misstrauen? Soll ich der Feuchtigkeit im Wasser misstrauen? Das macht keinen Sinn. Ich kann den Möglichkeiten des Wassers misstrauen. Oder denen der Fantasie, aber nicht der Fantasie per se. Vielleicht wurde das Zitat nicht perfekt ins deutsche übersetzt?

Quoth
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Beitragvon Quoth » 20.07.2018, 09:05

Das französische Original liegt mir leider nicht vor. Ich lese den ersten Satz sinngemäß als "Zügle deine Phantasie."
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Beitragvon Pjotr » 20.07.2018, 11:11

Ich mag meine Phantasie nicht zügeln. Sie ist kein Pferd. Aber ich kann sie manchmal ruhen lassen.

Aber nur ein bisschen. Ohne sie kommen keine Ideen zustande. Nicht einmal wissenschaftliche.
Zuletzt geändert von Pjotr am 20.07.2018, 11:17, insgesamt 1-mal geändert.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 20.07.2018, 11:13

Doch, Pjotr, sie ist ein Pferd. Sie kann mit Dir durchgehen.
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Beitragvon Pjotr » 20.07.2018, 11:22

Da habe ich Dir gerade eine gute Vorlage präsentiert!

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Beitragvon birke » 20.07.2018, 11:44

ich verstehe hier das misstrauen eher als beobachten. damit sie, die fantasie, nicht nur luftschlösser baut, sondern geerdet bleibt. damit sie sich entfalten kann. damit sie in gewisser weise der realität standhalten kann. damit sie in kreativität umgewandelt werden kann? mit einer prise realität :)
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Beitragvon Pjotr » 20.07.2018, 11:58

Mir widerstreben beide Begriffe: Misstrauen und Zügeln. Die passen mir nicht zum Wert der Phantasie. Sie ist eine Schöpferin. Das geschöpfte ist zweifellos geschöpft; da gibt es nichts zu misstrauen. Und zügeln will ich sie auch nicht, schon gar nicht herrisch; zügeln ist ein herrisches Wort. Ich will es anders herum aufbauen: Schöpfe, so viel du möchtest, aber iss dazu Brot. Unterdrücke den Fluss nicht, lass ihn frei, aber gib ihm eine Bahn. Also positiv statt negativ. Geben statt nehmen. Hinzufügen statt zügeln.

Bei Sprüchen wie "Die Seele des Weins singt in der Flasche" funktioniert dieses Geben allerdings nicht. Da muss man schon nehmen statt geben (die Seele nehmen und den Wein für sich sprechen lassen). Mich stört vermutlich die Grundhaltung. Und da vermisse ich den Kontext. Wenn Renard damit auf solche Sprüche (Seele des Weins) anspielt, dann gebe ich ihm recht. Aber es betrifft dann eben nur Kontexte dieser Art. Ansonsten fehlt mir der Maßstab.

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Beitragvon birke » 20.07.2018, 13:02

Pjotr hat geschrieben:Mir widerstreben beide Begriffe: Misstrauen und Zügeln. Die passen mir nicht zum Wert der Phantasie. Sie ist eine Schöpferin. Das geschöpfte ist zweifellos geschöpft; da gibt es nichts zu misstrauen. Und zügeln will ich sie auch nicht, schon gar nicht herrisch; zügeln ist ein herrisches Wort. Ich will es anders herum aufbauen: Schöpfe, so viel du möchtest, aber iss dazu Brot. Unterdrücke den Fluss nicht, lass ihn frei, aber gib ihm eine Bahn. Also positiv statt negativ. Geben statt nehmen. Hinzufügen statt zügeln.

genau so möchte ich es auch verstehen, sehr schön!

Pjotr hat geschrieben:Bei Sprüchen wie "Die Seele des Weins singt in der Flasche" funktioniert dieses Geben allerdings nicht.


das ist für mich so ein beispiel, bei dem das "brot" fehlt. :)
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Beitragvon Pjotr » 20.07.2018, 18:57

Auf der anderen Seite, bei Phrasen wie "Tu etwas Mond ..." oder "Brot im Kuchen" brauche ich schon eine recht hohe Portion Phantasie, um Metapher-Verbindungen zu erzeugen. Da ist der Phantasie-Kontext anders. Da muss ich der Phantasie trauen. Vielleicht meint der Phantasie-Begriff in "Misstraue ..." eine andere Phantasie als die meinige Phantasie. Wegen dieses vagen Kontexts war ich (und bin ich) nicht ganz zufrieden mit der "Misstraue ..."-Formulierung (oder -Übersetzung).

Vielleicht kann man die unterschiedlichen Phantasie-Kontexte so erläutern:

Phantasie-Typ 1 -- Beispiel: Diese Wolke am Himmel ähnelt wem? Durchsuche deine visuellen Erinnerungen. Das Suchen und Verknüpfen vorhandener Erinnerungen ist ein phantasievolles Handwerk.

Phantasie-Typ 2 -- Beispiel: Erfinde einen Namen, den noch kein Mensch gehört hat. Einen völlig neuen, verwandschaftsfreien Gegenstand zu schöpfen, ist ein phantasievolles Handwerk.

Zwei verschiedene Typen. -- Typ 1: Vorhandenes rekombinieren. -- Typ 2: Noch nicht vorhandenes erfinden.


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