Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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birke
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Beitragvon birke » 18.04.2016, 13:10

interessant, "das geld des mondes"... ja, bestimmt ist es das licht, das besondere... vielleicht empfunden als eine art lohn?
oder aber er meint es ironisch... ;-)
ich muss aber auch an sterntaler denken.
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.04.2016, 13:27

Stimmt, dieses "Alles" in dem Satz könnte auch auf eine ironische Aussage hindeuten.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 18.04.2016, 17:56

Ich habe in einer Haiku-Sammlung mal folgenden Dreizeiler gelesen, er ist aus dem Japanischen übersetzt und hat nicht die korrekte Silbenzahl:

Den Mond im Fenster
hat der Dieb
zurückgelassen.

Das kam mir beim Geld des Mondes in den Sinn ....
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.04.2016, 07:14

Hallo Zefira, einen erinnerten Mond-Haiku hab ich auch noch auf Lager, der passt:
Voller Frühlingsmond!
Und die Leute fragen noch:
Mensch, was glotzt du so?

Der Japankult war ja zu Renards Zeit (also um 1900) in vollem Schwange.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.04.2016, 13:22

Siehst du denn einen Zusammenhang zwischen den genannten Mond-Haiku zum Aphorismus "Alles Geld des Mondes kommt durch mein Fenster herein." von Renard, Quoth?

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 19.04.2016, 13:38

Du hast zwar Quoth gefragt, aber ich antworte trotzdem: In dem von mir zitierten Haiku wird implizit die Frage aufgeworfen, ob der Mond stehlenswert sei, also einen Geldwert hat - daher kam mir der Gedanke.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.04.2016, 13:47

Zefira hat geschrieben:In dem von mir zitierten Haiku wird implizit die Frage aufgeworfen, ob der Mond stehlenswert sei, also einen Geldwert hat - daher kam mir der Gedanke.

Ich verstehe das von dir genannte Haiku eher so, dass man den Mond eben nicht stehlen kann, Zefi. Es ist interessant, wie man dieses Haiku interpretieren kann. Und wenn man es so versteht wie ich, dann sehe ich Renards Zitat doch als Musenkuss, als einen ganz besonderen Moment, einen unbezahlbaren.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 19.04.2016, 17:25

Ich verstehe das von dir genannte Haiku eher so, dass man den Mond eben nicht stehlen kann, Zefi.


Selbstverständlich verstehe ich das auch so. Gleichzeitig scheint mir das Haiku aber zu unterstellen oder wenigstens anzudeuten, dass der Dieb den Mond mitgenommen hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Zumindest reizt es zu diesem Gedankengang, quasi probeweise :o)
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.04.2016, 19:16

Hallo Mucki,
Zefiras Haiku ist sicherlich näher dran am "Geld des Mondes", während mein gebannt "glotzender" Dichter wohl etwas empfängt, das ich am ehesten mit dem "goldenen Regen" in der Geschichte von Zeus und Danae vergleichen kann. Der Haiku-Dichter "glotzt", als ob er dafür bezahlt würde - und wird wahrscheinlich dafür ausgelacht! Ob man es nun Inspiration nennt ... O nein, da sei Renard vor:
Jules Renard hat geschrieben: Ein inspirierter Dichter ist ein Dichter, der schlechte Verse schreibt. (1893)

Er denkt hier sicherlich an Autoren, die ihre Inspiriertheit als Schutzschild vor ihre Produkte halten! :-) Inspiration rechtfertigt nichts - und entschuldigt auch nichts. Sie ist ein Nichts - das aber Gold wert sein kann! Und niemand sollte sich je auf sie berufen!

Quelle: Siehe Kopfposting
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Beitragvon Mucki » 19.04.2016, 20:06

Ein inspirierter Dichter ist ein Dichter, der schlechte Verse schreibt. (1893)

Hm, das kann ich nicht unterschreiben. Ohne Inspiration kann ich keine einzige Zeile schreiben. Irgendwoher kommt doch ein Gedanke, das zum geschriebenen Wort wird. Und das kann Musik, ein Gespräch, etc. sein.

Gegenpol: Ein unspirierter Dichter ist ein Dichter, der gute Verse schreibt? Nee.

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Beitragvon Zefira » 19.04.2016, 20:21

Richtig wäre: Wer sich allein auf seine Inspiration verlässt, schreibt schlechte Verse.
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Beitragvon Quoth » 20.02.2017, 17:48

Jules Renard hat geschrieben: Man macht sich an die Arbeit. Lange nichts. Man versucht es nicht einmal. Plötzlich, durch irgendeinen Hauch, der vorüberzieht, lodert das Feuer. (1908)

Da haben wir sie nun doch - die Inspiration. Mucki kann zufrieden sein. Ich glaube, Renard mag nur dieses Wort nicht.

Quelle: Siehe Kopfposting
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Beitragvon birke » 21.02.2017, 13:57

das formuliert er sehr gut, finde ich.
wobei ich hier sogar noch mehr sehe als inspiration, vielleicht sogar eingebung?
schön, dich wieder zu lesen, quoth!
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Beitragvon Mucki » 21.02.2017, 14:24

Ja, Eingebung trifft es gut, Diana, finde ich.
Dieses "Man versucht es nicht einmal" spricht von Loslassen, eben nicht auf Teufel komm raus auf den Musenkuss zu warten.
Gefällt mir sehr, dieser Aphorismus.


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