Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 22.02.2017, 10:35

Vielen Dank fürs Mitlesen und kommentieren, Mucki und Birke!


Jules Renard hat geschrieben: Eine Seite muss wie ein Netz gemacht sein und jedes Wort wie eine Masche, etwas Winziges einzufangen. (1902)

Klingt wie ein Programm des Realismus. Aber kann das "Winzige" nicht auch irreal sein? :hae:


Quelle: Siehe Kopfposting
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birke
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Beitragvon birke » 22.02.2017, 11:39

vielleicht hält er das "irreale" nie für winzig? ich denke aber schon auch...
meint er mit seite die buchseite? hm, interessante sicht, dass worte etwas einfangen – ich dachte, es sei gerade andersherum? oder vielmehr noch ein wechselspiel? etwas kommt zu mir als leser(in) und ich gebe als leser(in) wiederum etwas in die worte.
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Beitragvon Mucki » 22.02.2017, 19:33

Ich verstehe dieses Aphorismus auf zweierlei Weise:
Zum einen den "Aufbau" beim Schreiben jeder Seite. Er geht vom Großen ins Kleine. Das Netz, die Masche und dann das Winzige. Vllt. das, was zwischen den Zeilen steht.
Also "übersetzt": zuerst die Idee, die über allem steht = das Netz
Dann die Masche: das wie. Jedes Wort muss sitzen.
Dann: das Winzige = die Botschaft, die er zwischen den Zeilen vermitteln möchte.

Und zum anderen lässt sich dies auch auf den Leser übertragen. Renard möchte, dass der Leser es genauso auch aufnimmt, es versteht.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 23.02.2017, 22:12

Ja klar, man kann das aus Leser- und aus Autorsicht anschauen. Wie feinmaschig muss das Netz geflochten sein, damit es "etwas Winziges" einfängt. Oben forderte Renard, Erlebnisse in kleine und kleinste Stücke zu zerbrechen - sind die das Winzige, das die Maschein einfangen?

Was aber machen mit "Blau ist die Farbe deines gelben Haares" (Zitat aus Schwitters' "Anna Blume"). Hat das Netz da einen Riss?

Jules Renard hat geschrieben: Denken heißt Lichtungen suchen im Wald. (1894)
Ich dachte zuerst: Hat Renard Heidegger gelesen? Bei Heidegger ist die Wahrheit die "Lichtung des Seins". Aber "Sein und Zeit" ist erst 1927 erschienen!



Quelle: Siehe Kopfposting
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 24.02.2017, 17:02

Quoth hat geschrieben:Jules Renard hat geschrieben:
Eine Seite muss wie ein Netz gemacht sein und jedes Wort wie eine Masche, etwas Winziges einzufangen. (1902)

Ein Netz wird "gehäkelt" mit vielen Maschen. Jede Masche enthält ja ein winziges Loch (wenn man sich mal z.B. einen profanen Topflappen anschaut. Und genau dieses winzige Loch interpretiere ich als "zwischen den Zeilen lesen".

Quoth hat geschrieben:Oben forderte Renard, Erlebnisse in kleine und kleinste Stücke zu zerbrechen - sind die das Winzige, das die Maschein einfangen?

Dies würde ich - aus jetziger Sicht - als Beschreibung lesen für "Show, don't tell. Sprich, sehr bildhaft und en detaille zu schreiben.

Quoth hat geschrieben:Was aber machen mit "Blau ist die Farbe deines gelben Haares" (Zitat aus Schwitters' "Anna Blume"). Hat das Netz da einen Riss?

Ist wohl ziemlich metaphorisch gemeint. Engmaschig ist es jedenfalls m.E. nicht.

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Beitragvon Mucki » 24.02.2017, 17:05

Quoth hat geschrieben:Jules Renard hat geschrieben:
Denken heißt Lichtungen suchen im Wald. (1894)


Hier lese ich von Aufräumen (innerlich), sortieren, das Wesentliche herausfiltern und dann den Fokus darauf richten.

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Beitragvon Quoth » 28.02.2017, 13:08

Aufräumen und Lichtung, das ist für mich zu weit von einander entfernt, Mucki. Ich finde die Vorstellung des Hinaustretens aus der Waldgeborgenheit in die Offenheit der Lichtung sehr stark - denn der Blick weitet sich auf einmal in ungeahnte Ferne und Tiefe.

Jules Renard hat geschrieben: Es gibt den Ängstlichen, der unter dem Bett nachschaut, und es gibt den Ängstlichen, der sich nicht einmal traut, unter seinem Bett nachzusehen. (1901)
Die Steigerung von der Furcht zur Panik gut erfasst. Der von Panik Ergriffene ist womöglich in den Gegenstand seiner Angst so verliebt, dass er ihn nicht durch kritisches Nachschauen verlieren möchte.



Quelle: Siehe Kopfposting
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Beitragvon Mucki » 28.02.2017, 14:40

Quoth hat geschrieben:
Jules Renard hat geschrieben: Es gibt den Ängstlichen, der unter dem Bett nachschaut, und es gibt den Ängstlichen, der sich nicht einmal traut, unter seinem Bett nachzusehen. (1901)
Die Steigerung von der Furcht zur Panik gut erfasst.

Dem stimme ich zu.

Quoth hat geschrieben:Der von Panik Ergriffene ist womöglich in den Gegenstand seiner Angst so verliebt, dass er ihn nicht durch kritisches Nachschauen verlieren möchte.

Von "verliebt" sein in den Gegenstand seiner Angst kann man hier m.E. wohl kaum sprechen. Das ist ein schlimmer Zwangszustand. Das ist pure Angst, so stark, dass derjenige - in seinem Angstzwang gefangen - es nicht einmal wagt, dahinter zu schauen. Man stelle sich das konkret vor: Derjenige hat Angst, dass etwas unter dem Bett ist. Doch er traut sich nicht, nachzuschauen. Das bedeutet, er bleibt in seiner Angst auf dem Bett gefangen, denkt, spürt die ganze Zeit, dass da unter seinem Bett etwas ist, kann aber den Schritt nicht gehen, der seine Befürchtung auflösen könnte, bleibt also in seiner Panik gefangen. D.h., er malt sich - vermutlich schlaflos im Bett - die ganze Zeit aus, was da unter ihm sein könnte. Ein furchtbarer, quälender Zustand.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 02.11.2017, 17:36

Und immer noch erbaue ich mich an Jules Renard!
Was immer die Literatur sein mag, es ist allemal schöner als das Leben.

Es darf nur nicht schöner sein wollen!
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Beitragvon Quoth » 04.11.2017, 17:19

Ich hoffe, ich langweile nicht mit Renards Aphorismen. Mucki hat hier immer gern mitgelesen und kommentiert. Ich vermisse sie.

Jules Renard hat geschrieben: Poesie. Eine Kaffeewindmühle. (1904)


Das Vertraute ins Unvertraute verwandelt. Wie das knee-cradled horn von Derek Walcott.
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Beitragvon birke » 04.11.2017, 17:36

oh nein, mich langweilt das ganz und gar nicht.

die kaffeewindmühle finde ich wundervoll!

(das zitat davor (dass literatur allemal schöner als das leben sei) allerdings zweifle ich doch eher an ;-) )

und ja, mucki vermisse ich auch...

lg
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Beitragvon Quoth » 06.11.2017, 18:04

Jules Renard hat geschrieben:
Der Krieg ist vielleicht nur die Rache der Tiere, die wir getötet haben. (1891)

Meine Tochter ist jetzt vegan, und es geht ihr sehr gut damit. Ich tue mich noch schwer, mich dafür zu entscheiden, reduziere aber den Fleischgenuss. Der Gedanke, dass Krieg und Tieretöten auf demselben egomanen Mangel an Respekt vor dem Leben beruhen, hat manches für sich.
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Beitragvon Quoth » 04.07.2018, 18:18

Jules Renard hat geschrieben:
Der Mensch, dieser zum Tode Verurteilte. (1901)

Es ist merkwürdig - indem die Banalität, dass wir alle sterben müssen, mit einer Hinrichtung assoziiert wird, kommt eine irrationale Empörung in mir auf: Warum tut man uns das an?
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 04.07.2018, 23:29

Ich sehe das überhaupt nicht so. Je älter ich werde, um so mehr empfinde ich das Sterben-Dürfen als Gnade.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)


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