Prosalog

Hier ist Raum für gemeinsame unkommentierte Textfolgen
Nifl
Beiträge: 3896
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 23.07.2007, 18:09

Bild
Foto A.P. Sandor et moi


Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden


Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.

Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.

Ich bin gespannt!




Kleingedrucktes:

Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:

Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt

Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.



Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden
Zuletzt geändert von Nifl am 04.08.2007, 09:08, insgesamt 1-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 27.05.2008, 11:43

Amerika

Da sollte ich whale-sleeping machen, in einem großen Becken, das wie ein Labyrinth ohne Boden am Kran baumelnd für jede Reisegruppe neu auf die Wiesen gestellt und mit Wasser befüllt wurde (das Wasser versickerte nicht im Boden). Für mich war ein großer Blauwal reserviert und als ich an die Labyrinthsparte kam, in der dieser lag (in Nachbarschaft zu einem Orka und einem Delphin), hatte der Wal keine Augen, aber sah mich doch an.

He looks at me without eyes
Oh yes, that`s good, so he accepts


sagte die brünette Tiertrainerin, die in ihrem Neoprenanzug nach einer Carrol oder Lynn aussah und sicherlich mit einem Nachrichtensprecher verheiratet war oder mit einem verheirateten Nachrichtensprecher schlief.

Ich stieg zu dem Wal, es war alles sehr nah, aber nicht eng, weil es weich war. Das Wasser zwischen uns fühlte sich glitschig wie die Haut von Fischen an. Der Wal brummte tief, ich schlief ein. Dann begann der nächste Traum.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 30.05.2008, 01:33

.Die unermüdliche Weberin

Jede Nacht sponn sie ihr Netz. Jeden Morgen ging ich auf den Balkon und zerstörte es wütend mit einem langen Holzstück. Das Netz war immer leer. Von ihr keine Spur, als ob sie ahnte, dass ich sie erschlagen hätte. Ich ekelte mich entsetzlich vor Spinnen. Warum wob sie es ausgerechnet an der linken oberen Ecke der Tür? Und so groß, dass ich mich bücken musste, um auf den Balkon zu gelangen? Allein bei der Vorstellung, ihr Netz und sie selbst könnten sich in meinen Haaren verheddern, gruselte mich derart, dass ich eine Gänsehaut bekam. Jeden Morgen das Gleiche. Seit Wochen ging das jetzt schon so. Sie gab einfach nicht auf.

Gestern Nacht konnte ich nicht schlafen. Es war zu heiß. Ich ging ins dunkle Wohnzimmer, stellte mich vor den Balkon und rauchte eine Zigarette, als ich im Mondschein sah, wie sich etwas direkt vor mir bewegte. Zum ersten Mal beobachtete ich sie bei ihrer Arbeit. Ich hätte sie endlich töten können, doch irgendwas hinderte mich daran. Stattdessen stand ich einfach nur da und verfolgte ihre akkuraten Bewegungen, staunte, wie filigran sie vorging. Unermüdlich zog sie die Fäden immer diagonal, arbeitete sich von außen nach innen. Bewunderung stieg in mir auf. Schließlich war es fertig. Ein Kunstwerk, einfach perfekt, makellos. Ich weiß nicht, wie lange ich da stand. Es begann, hell zu werden. Ich hörte erstes Vogelgezwitscher und mich leise sagen: "Es tut mir leid. Nie wieder werde ich dein Werk vernichten, Ala!"

Heute morgen ging ich auf den Balkon, trat vorsichtig an ihrem Netz vorbei und lachte. Nun hatte sie einen Namen. Niemals könnte ich jetzt ihr Werk vernichten. Doch sie hatte etwas vernichtet: meinen Ekel.

Edit: geänderte Fassung: siehe unter Kurzprosa
Zuletzt geändert von Mucki am 25.06.2008, 01:01, insgesamt 1-mal geändert.

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 04.06.2008, 20:05

[albumklebereien]

Ich sah heute einen Affe auf einem Kinderspielplatz und als ich dachte, dass ich ihn photographieren wollte, da stellte sich ein Sonnenuntergang ein, wie man sich ihn für ein gelungenes Photo wünscht.

Ich möchte zu denen gehören, die sich nicht schlafend stellen können. Zu denen, die schlafen, wenn sie schlafen und wach sind, wenn sie wachen und das nicht immerzu vor sich halten müssen, weil sie es eben einfach tun - schlafen oder nicht schlafen. Vielleicht ist man aber auch nur jemand, der sich nicht schlafend stellen kann, wenn jemand, der sich nicht schlafend stellen kann, neben einem wachliegt und spürt, dass der andere sich nicht schlafend stellt.

Affe im Abendrot. Ich war selig.

[/albumklebereien]
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Louisa

Beitragvon Louisa » 05.06.2008, 23:23

Wenn man in Monaco nicht schlafen kann:

Wenn ich mich hier in meinem kleinen, monegassischen Zimmer schlafend stelle, hat das folgende Gruende:

Ich moechte, wenn es im Flur dunkel ist, vorsichtig meine Tuer oeffnen, in die Kueche schleichen und einen Kakao anruehren, den ich dann in der Mikrowelle erhitze... um ihn anschliessend halb liegend, halb sitzend in meinem Bett zu schluerfen und dabei moechte ich lesen und eine Zigarette rauchen.
Mir ist im Grunde nicht ganz klar, wieso ich diese Beschaeftigung im Geheimen durchfuehre, als waere es eine Suende, aber mein Verhalten gibt mir zu denken. Ich wuerde ueberhaupt nicht auf die Idee kommen einen Kakao um Mitternacht anzuruehren und dabei zu rauchen, wenn es nicht so dunkel und versteckt waere.

Gestern um halb eins wollte ich wieder meinen perversen Geluesten folgen und machte mich auf Zehenspitzen auf den Weg in die Kueche... es war stockdunkel und sicher verschuettete ich etwas von dem Kakaopulver... und als ich schliesslich die Mikrowellentuer leise aufzog sah ich, dass sie schon besetzt war. Besetzt mit einer Schale, die eine Substanz enthielt, die mich an geschmolzenes Plastik erinnerte.

Ich staunte und im selben Augenblick hoerte ich es hinter mir Atmen... Ich rausperte mich und sogleich erstrahlte das Kuechenlicht und meine "Gastmutter" stand mit nacktem Oberkoerper und weisser Unterhose vor mir.

"Oh." waren meine letzten sprechbaren Worte.

Sie laechelte verlegen, ich ruehrte in meinem Kakao, als ob nichts weiter sei.

"So spaet in der Nacht noch 'ne heisse Schockolade? Na, na, na... solange man es nicht jeden Tag trinkt, ist es ja nicht so schlimm!"

"Mm..."

Sie hatte den wunden Punkt aufgespiesst!

Sie langte in die Mikrowelle und holte das "geschmolzene Plastik" heraus und klatschte sich die Paste ins Gesicht. Ich sah sie entgeistert an.

"Das ist eine Maske. Morgen treffe ich doch meinen Prinzen."

"Wird das nicht hart?"

"Ja, wenn es hart ist, nimmt man es ab wie ein zweites Gesicht."

"Und wie sieht man dann aus?"

"Juenger, hoffe ich!"

"Viel Erfolg!"

Sie machte sich "maskiert" von Dannen und ich trank den Kakao. Kalt.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 06.06.2008, 14:13

Die Welt ist verrückt. So verrückt, dass nichts mehr dahin passt, wo es vorher noch bequem Platz nahm. Wie lebt es sich zwischen den Stühlen ohne Lehnen (damit man den anderen noch mehr auf die Pelle rückt)? Das weiß ich nicht.
Ich sitze im Schneidersitz und schenke mir Raum ohne Kanten.

jondoy
Beiträge: 1593
Registriert: 28.02.2008

Beitragvon jondoy » 09.06.2008, 12:41

Ich geh durch Deutschlands Fußgängerzone - Städtenamen beliebig austauschbar -
und denk mir, eine Revolution würden die gebrauchen, wie wärs mit Fenster einschmeissen.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5722
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 14.06.2008, 16:52

am wochenende sitzt sie vor dem rechner und chattet. es geht bis drei uhr früh. die häuslichen themen: ein hustendes frettchen, läuse am geißblatt, eine abgängige zahme ratte.
sie ist unter zwei namen gleichzeitig im chat, macht hin und wieder eine spitze bermerkung, weist sich gleich darauf selbst milde zurecht und legt auf der freien tischhälfte neben dem rechner ein 1000-teile-puzzle vom markusplatz. tauben, tauben, tauben. verflogene brieftauben, im garten gefunden, entkräftet. blutig gehackte hälse. johannisbeersträucher voller grauer federn. eine wolke aus flattergeräusch, in weißglühende luft aufsteigend wie ferner kanonendonner. sie legt ein teil an seinen platz und schreibt in das antwortfeld auf dem bildschirm, dass es auch für haustiere heilpraktiker gebe. heilmassagen für traumatisierte zurückgekehrte zahme briefratten. nachtstille um drei uhr früh, nur in der ferne dröhnt die autobahn.
die gezähnten pappstückchen schieben sich zwanglos ineinander, fügen taubenköpfe an taubenhälse, taubenflügel an taubenkörper, taubenscheiße an touristenärmel, bevorzugt japanische.
ein teil bleibt übrig. das puzzle hat noch eine lücke, tief im grund des pflasters, es müsste dunkelgrau sein, doch das übrig gebliebene teil ist hellgrau. beinahe weiß.
sie legt den deckel auf die schachtel und schreibt in das antwortfeld auf dem bildschirm: deine ratte wurde in venedig gesichtet. ein weißer fleck auf der grauen landkarte. beeile dich und hol sie ab, sie macht gerade den flugschein.
sie schaltet den rechner aus, geht in die küche und verstaut die leeren flaschen im unterschrank der spüle. mitten durch die küche führt eine ameisenstraße. neuerdings. die ameisen sind alle beringt. es scheint sich um briefameisen aus belgien zu handeln. sie sehen müde aus, aber unbeirrt finden sie ihren weg in den kühlschrank.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 17.06.2008, 16:16

Goldkuhfußhebendstrahlend

Sie hat sich dieses Wort einmal ausgedacht und heute hat sie es wiedergefunden


Das Hirn: So wie ich die Dinge sehe –
Das Herz: Sei still, lass dich zeichnen. Verscheuch die anderen nicht, ich liebe sie. Eines Tages...
Die Haut: Oh Gott, mir ist –

Das Hirn: ...eines Tages...9 Jahre, 4 Monate,
Das Herz: Still sein sollst du, der Schmerz lässt sich nicht zählen, er ist keine Vokabel.
Die Haut: als ob...


Das Hirn: 6 Tage, 11 Stunden, 32 Minuten, 57 Sekunden, 9 Zehntel..
Das Herz: Still sein sollst du, der Schmerz lässt sich nicht zählen, er ist keine Vokabel.
Die Haut: ...es ist so heiß...

Das Hirn: Die Hunde haben sich im Feuer ihr Nest gescharrt.
Das Herz: - -
Die Haut: ...so unerträglich heiß...

Die Haut ist weg, das Hirn hat ausgezählt, der Muskel



Sie hat sich dieses Wort einmal ausgedacht und heute hat sie es wiedergefunden.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Nifl
Beiträge: 3896
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 17.06.2008, 19:03

Bild

Ich bin eine blaue Flasche (nicht etwa eine blaue Blume). Gehöre nirgendwo rein. Stehe immer daneben und allein. Passe nicht in diese Welt.

Ich bin ein Sonderling.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

scarlett

Beitragvon scarlett » 17.06.2008, 20:23

Lieber eine blaue Flasche als eine blaue Blume. Lieber einsam als verdächtig. Unkaputtbar - hach, was für ein herrliches neudeutsches Wort! - bleibt allerdings nur: die Blume!

L´important ... c´est la rose .... l`important ... sang schon Gilbert Bécaud.
Und er sang nicht schlecht...

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5722
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 20.06.2008, 00:54

Sie kann nur bei Plus einkaufen, es gibt keinen anderen Laden hier, und am liebsten wäre es ihr, wenn Zerbe nicht an der Kasse säße, wenn sie kommt.
Zerbe hat einen Sticker an seinem weißen Kittel, ungefähr in Höhe der linken Brustwarze: Hakan Zerbe. Impulsiv fragt sie sich immer, wenn sie dieses Schild sieht, ob er überhaupt in Euro denkt, ob er nicht lieber etwas anderes abkassieren würde, was sie nicht kennt. (Sie kennt die türkische Währung nicht und wenn sie weiter denkt, kommen ihr nur Ziegenherden in den Sinn. Politisch unkorrekt. Sie verbannt die Ziegenherden aus ihrem Kopf.)
Zerbe zieht einen Gegenstand nach dem anderen über den Scanner, hält inne bei der Schokolade, mustert prüfend die Tafel und sie, die Kundin, die Schokolade kauft; taxiert ihre Körperform ab, schaut zurück auf die vorbeigelaufene saure Sahne, den Salatkopf, das Knäckebrot; schaut vorwärts auf das, was noch kommt: Gummibärchen, eine Flasche Ramazotti, ein dickes Putenschnitzel. (Man erkennt die Alleinstehenden an ihren Einkäufen.)
Er zieht die Schokolade über den Scanner. Piep.
Im Hinausgehen: ICH HASSE HAKAN ZERBE.
Sie muss herausfinden, wann er Schicht hat, sie lässt sich sowieso viel lieber von Frauen abkassieren. Hakan Zerbe hat einen zurückgekämmten Irokesenzopf und einen pharaonenhaften Augenschnitt, der nichts verrät von seinen Gefühlen, nur eine ganz allgemeine Verachtung in alle Richtungen abstrahlt. Das nächste Mal wird sie nur gesunde Sachen einkaufen. Wieder Salat, aber keine Schokoladen, sondern Pumpernickel, rechtsdrehende Margarine, Gurke, Dinkelkeks.
Als sie das letzte Mal Ziegenkäse kaufte, war die Verpackung irgendwie verdreht, der Strichcode nach innen umgeknickt. Hakan Zerbe kniebelte am Zellophan herum, suchte es in die richtige Stellung zu bringen, werkte verkniffen wie ein Fotograf, der Arme und Beine seiner Models sortiert, gab schließlich auf. Pfriemelte die Verpackung auf, gab den Strichcode per Hand ein und biss ein Stück vom Ziegenkäse ab.
Ihr fällt dazu nichts ein, sie packt den Käse in ihren Korb, zahlt, rollt den Einkaufswagen zu ihrem Auto. Fährt nach Hause. Räumt die Einkäufe in ihren Kühlschrank. Zerbes Zahnabdrücke im Ziegenkäse. Starke Zähne, weiß; der undeutbare Mandelaugenblick, der dicke schwarze Irokesenzopf. Sie sagt besser nichts. Sie denkt besser nichts.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 20.06.2008, 15:00

Ratten im Kopf

Mit Käsefallen ist ihnen nicht beizukommen. Sie sind clever, schnappen sich jeden Ausraster, ohne ein Füßchen einzuklemmen und nutzen die Irrsinnshappen, um sich zu vermehren. Je mehr Wahnsinnsfutter du ihnen lieferst, umso verrückter werden sie, erkennen deine Achillesfersen, stigmatisieren deine Macken in ihr Beuteschema. Du hast nur eine Chance. Laufe mit ihnen Amok, aber sei schneller. Wenn es still wird in deinem Kopf, bist du deinen weißen Schatten entkommen.

Max

Beitragvon Max » 21.06.2008, 15:46

Wir hatten zwei Ratten, Schoko und Ritter. Die erste war von aggresiver Natur - sie hasste Menschen und man hatte stets die Ahnung, sie wusste warum, die zweite von einer Trägheit, die sich leicht mit Zahmheit verwechseln ließ. Es ließe sich noch anfügen, dass wir die meisten Tiere paarweise kaufen: Hunde, Hamster, meist auch Forellen.

Dennoch war ich jenem Abend allein, um auf Ratten, Hunde und Hamster acht zu geben - nur die Forellen hatten wir schon zu Mittag verspeist und ich war deutlich überfordert. Während ich die Hamster fütterte, gierten die Ratten und als die Ratten ihr Futter bekamen, lechzten die Hunde schon nach ihrem Anteil. Ja, ich gebe es zu: Als schließlich die Hunde ihr Fleisch erhielten, habe ich eine der drei Türen des Rattenkäfigs (warum muss der überhaupt drei Türen habe?) offen stehen lassen, die Ratten entkamen. Die Hunde waren sofort Feuer und Flamme, fliehendes Futter ziehen sie seit jeher Dosenfutter vor.

Vielleicht hätte ich sie gewähren lassen sollen, doch ich sperrte sie fort, nur um mich selbst auf die Jagd nach den Ratten zu begeben. Ritter war schnell gefunden. Er hatte seine Flucht neben dem Papierkorb beendet und war dort eingeschlafen. Anders Schoko. Unschlüssig, ob er mich angreifen oder vor mir fliehen sollte, raste er durch den Raum. Suche ich ihn unter dem Bett, war er hinter dem Schrank, war ich beim Schrank, so rannte er schon unter dem Schreibtisch. Auch meine Bewaffnung, ein Besen, vor dem die Hunde regelmäßig erzittern, vermochte ich ihn nicht zu beeindrucken. Da ich jedes Möbelstück, hinter dem er sich befinden konnte, von der Wand abrückte, das Bett gar vollständig auseinandernahm, glich das Zimmer bald einem Schlachtfeld. Ich schrie, die Ratte floh, von draußen bellten die Hunde.

Mit einem Mal war es still. Schoko war verschwunden. Jeder Schlupfwinkel war einsehbar, doch nirgends eine Ratte. Dann ein leises Scharren. Stille, wieder ein Scharren vom Fenster her. Ich stürzte hin. Schoko war hinter dem Heizkörper, versuchte sich festzukrallen, wie ein Bergsteiger im Kamin. Rutschte ab, kraxelte wieder nach oben, rutsche wieder, aber war nicht gewillt hervorzukommen. Vorsichtig griff ich von unten hinter die Heizung und hielt einen Rattenschwanz in den Händen. Ich zog leicht. Die Ratte schrie und klammerte sich noch fester. Zog ich nicht, hörte auch ihr Schreien auf und sie kletterte wieder ein Stück höher.

So ging es vielleicht eine halbe Stunde, dann faste ich mir ein Herz und zog kräftiger. Schoko schrie lauter, ich versuchte, ihr Schreien mit meinem Schrei zu übertönen. Die Hunde vor der Türr tobten. Dann hielt ich eine verängstigte Ratte in Händen.

Als ich an jenem Abend ins Bett ging, kam ich mir vor wie ein Held. Dabei sah die Wohung aus wie immer. Die Ratten schliefen friedlich.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 24.06.2008, 18:27

Champagnermomente

Ein Croissant ist ein Croissant. Nicht für Merle. Ein Croissant ist Versuchung, ein Ritual. Merle beißt nur die beiden Enden ab und lässt den Rest liegen. Nur die Ecken sind Versuchung.
So, wie sie beim Eis in der Waffel zuerst die Spitze abbeißt und das Eis von unten nach oben isst.
Das ist es.
Im Restaurant bestellt sie sich immer etwas mit Erbsen, weil sie Erbsen nicht mag. Es muss ein Gericht sein, das besonders viele Erbsen enthält, damit sie im Essen herumstochern kann, um jede Erbse sorgfältig am Tellerrand zu drapieren. Hungrig erwartet sie den fragenden Blick des Kellners. Seinen dezenten Blick. Es ist ein vornehmes Lokal. Wäre es kein vornehmes Lokal, würde sie kein Gericht mit besonders vielen Erbsen bestellen. Der Teller ist blank geputzt. Nur die Erbsen liegen noch da, dekorieren den Teller wie ein Lorbeerkranz. Beim nächsten Mal wird sie die doppelte Portion im gleichen Restaurant und beim gleichen Kellner bestellen, auch wenn sie nicht hungrig ist. Dieser Blick des Kellners ist ihr Dessert.
Sie verlässt das Lokal, hinaus in den Regen, und springt in jede Pfütze, auch wenn sie bequem drumherum gehen könnte. Die Pfützen gehören ihr ganz allein. Jedoch nicht immer. Manchmal eifern Kinder ihr vergnügt nach und sie hört das Gezeter der Eltern. Merle lacht.
Ihr Leben würde nicht prickeln ohne diese Champagnermomente.

Edit: geänderte Version: siehe unter Kurzprosa


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast