Prosalog

Hier ist Raum für gemeinsame unkommentierte Textfolgen
Nifl
Beiträge: 3884
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 23.07.2007, 18:09

Bild
Foto A.P. Sandor et moi


Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden


Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.

Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.

Ich bin gespannt!




Kleingedrucktes:

Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:

Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt

Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.



Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden
Zuletzt geändert von Nifl am 04.08.2007, 09:08, insgesamt 1-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9468
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 09.10.2009, 09:24

"Morgen"

Gestern Früh auf der großen Runde. Ich war geknickt und ärgerte mich über diese drahtigen Gedanken, wie man sie in Blumen steckt, damit ihre lastigen Köpfe nicht hängen. Wie sie dann herausbohren, so pieksig, mitten aus dem Auge, dass man nichts anderes mehr sieht.

Ein Schwarm kleiner Vögel ließ sich auf dem alten Apfelbaum nieder und sang. Ja, seltsam, sie zwitscherten nicht heimisch. Ich schaute hinauf, die Hand schirmte das blendende Sonnengrau ab, und betrachtete sie näher. (Später wollte ich nachschlagen, was mir dann aber nicht mehr wichtig erschien.) Sie hatten lange spitze Schnäbel, braun geflecktes Federkleid, äußerlich völlig unscheinbar. Aber ihr Klang!
Trauer samte sich in die Luft. Dann hob einer an, ahmte das Kreischen einer Möwe nach. Ein Wellenschlag über den gepflügten Feldern.

In einer Astgabel weit oben wuchs ein Pilz, schneckenfern unversehrt mit leuchtendem Hut. Er wirkte fremd dort oben, als schattiger Bodenbewohner. Um ihn herum Himmelslöcher. Und dieser warme Wind der mich anging, als wären wir vertraut. Ich war unleidlich, weil ich ihn nicht von mir weisen konnte.

Da bog er wieder um die gewohnte Ecke, der alte Mann mit seinem Stock und dem hellen Blick. Er hat nur noch einen Gesichtsausdruck, nicht unfreundlich, nur bei sich, vielleicht leidet er unter Parkinson. "Morgen" Das ist sein Wort. Ich kann mir kein anderes zu ihm denken. Am Ende hebt er die Stimme an, als sei es eine Frage und mit ihr zugleich alles gesagt, als seien alle anderen Worte darin enthalten. Er sucht kein Gespräch, das macht er deutlich, verzögert nie seinen Schritt, hält nicht inne, dreht sich nicht um. Eine halben Stunde später, hat er mich wieder auf seine eigene Art angeschaut, als sähe er mich zum ersten Mal, als wäre er mir noch nie begegnet. "Morgen"

Wie anders die gebückte Frau mit ihrem Gehwägelchen. "Ach, isch des a netts Hundle un so freindlich. Un warm ischs heit, dabei isch doch scho Herbscht, gell?" Wir unterhielten uns ein wenig, sie strahlte durch ihre Falten, trug ein cremefarbenes Strickjäckchen, ihre blauen Augen waren zart geschminkt, die Lippen glänzten pfirsichfarben und das weiße Haar lag fein onduliert um ihr schmales Gesicht. Dann zwinkerte sie mir zu und meinte sie müsse jetzt weiter. "S’Läbe isch zu kurz, ums zu verbaatsche." Sie schob sich den Hügel hoch in seiner Spur. Ich stellte mir vor, sie hätten ein heimliches Rendezvous, das keiner bemerkt. "Morgen"
Mein Nachbar ist gestorben.

Peter

Beitragvon Peter » 09.10.2009, 10:35

Mein Nachbar, der Maler

Tot und doch lebendig -
wie gestern im Malen das Auge, das eher zufällig aus der rinnenden Farbe aufkam, sich aufschlug und wieder schloss.
Farbe, in der ein Bewusstsein ruht, das allseits glimmt in Rot und Blau. Und doch nirgends ganz herauszufinden, wie stark und lebendig auch sich die Farbschichten zeigen. Nirgends herauszufinden, desto drängender auch das Herz schlägt.
So hat der Nachbar seine letzten Tage verbracht.
Lebendig in einem Tod, der sich durch die Tage wie das trübe Wetter legte,
die Straßen mit schwarzem Regen beschlug, der feucht an die Fenster drängte -
wie warm es die letzten Tage wieder war, obwohl so spät im Herbst,
selbst eine Grille war noch mal zu hören, und auf dem Gartenweg ging ein warmer Wind
und der Kirschbaum rauschte und im Dunkel sah man seine braunen Blättern nicht
und die Lichter der Fenster waren noch mal gelb und die Gartenstühle noch mal warm.
In der Nacht saß der Maler am offenen Fenster.
Manchmal, dass ihm alles als derselbe Film erschien.
Ob er in den Fernseher sah oder zum Fenster hinaus, machte keinen Unterschied.
Ein ewiges Mit-Dasein, das nur aus Zuschauen bestand.
Ungeheur ungefähr war ihm das Leben zuletzt, ungeheuer, wenn er es zu rufen begann - er tat nichts anderes, wenn er malte - ; sacht und fast behütend schien es, wenn er schwieg.
Bis ans Herz war er sich ungefähr; Symbol und Schatten, und so bis ins Fernste aufgestellt.
Was ihm Weg und Atem, das das ganze Rätsel,
hätte sein sollen, wie drängte er danach!
kam ihm zuletzt nur noch als Verschlüsselung daher;
ungreifbar; ging vorüber; halbes Angesicht, dessen andere Hälfte in den Abgrund stürzte; strömend.
Wollte er nicht sagen, ein seltsamer Trost. Musik des Abgrunds, die ihn schauen ließ und schwindelte, aber ihn nicht ergriff und nicht mit sich zog.
Wollte er sagen, ein Entsetzen; denn nichts war sagbar und ihn gab es nicht.
Kein Wort für sein letztes Bedürfnis. Kein Wort - aber den Schmerz.
Aber der Schmerz, und aus dem Schmerz der Beweis.
Ja, er brauchte.
Er hatte gebraucht. Er brauchte immer noch. Er würde immer brauchen.
Farbe, Form, Beweglichkeit, die Linie unter den Dingen, die sich doch zu Zeiten in ihn schenkte.
Wie schmutzig jeder Ausdruck! Wie schmutzig seine Hände!
Wie trüb die Nacht, wie schief das Bild, das er aufgehängt hatte,
und an dem er wegsank und schlafen ging, an dem Tag, als er nicht mehr aufwachte:
das schiefe Bild -
aber die Linie.
Da hat ihn niemand mehr verstanden.
Um was geht es im Malen? - Um die Linie.
Was sind wir sonst, was sind wir denn!
Die Linie wollte er malen. - Welche? - Unter den Dingen!
Sie, die hervorkommt... Sie, die aufscheint.... Sie...: Atem ...
Merkwürdig, wenn ich mir vorstelle, dass er nun dort drüben liegt.
Der Wind ist noch immer warm, das Fenster ist offen.
Dort, im Dunkel, muss er liegen. An dem Nagel das schiefe Bild.

Nifl
Beiträge: 3884
Registriert: 28.07.2006
Geschlecht:

Beitragvon Nifl » 09.10.2009, 20:46

Ich habe mir nie einen Rosengarten gewünscht

Wenn ich ehrlich bin, mag ich Rosen nicht besonders. Jedenfalls im Garten. Allein der Botanische Name „Rosa“ klingt doch schon odinär (jetzt hängt mein R. Der Krümel muss vom F zum R gewandert sein. Oder wollte mein Überich odios schreiben?) und müsste im Pflanzenbuch gleich neben Thuja stehen. Ich stelle mir gerade die schweinchenrosa Rankrose vom Kitschdurchgangsbogen vor. Verschwenderisch blüht sie immer noch (als wollte sie mich partout von ihrer Schönheit überzeugen). Ich habe ihr gesagt, dass sie das wegen mir nicht brauche. Ich würde sie aus anderen Gründen mögen. Sie nickte nur, aber ich weiß nicht, ob sie auch wirklich verstand. Ich frage mich oft, wie die Frau wohl ausgesehen haben mochte, als sie die Rose vor über fünfzig Jahren eingepflanzt hatte. Vielleicht war sie in meinem Alter (ich könnte es recherchieren, will es aber nicht), als sie den Spaten schwang. Bestimmt hat sie dabei gelächelt und sich vorgestellt, wie eines Tages der ganze Bogen zartrosa blüht und wie sie dann durch eben diesen flaniert, den Duft genießt und hochschaut in einen strahlendblauen Himmel. Sie meinte bestimmt, strahlendblau und strahlendrosa ergänze sich ganz hervorragend, und sicher, es sei dann wie ein kleines Tor ins Paradies. Sie erlaubte sich die Vorstellung mit der Entschuldigung, dass der Krieg immerhin schon dreizehn Jahre vorbei sei, man sich nun auch endlich wieder das Recht nehmen dürfe aufzuschauen, ohne Angst haben zu müssen. Und weil ich sie mit ihren roten Haaren (eine Strähne hatte sich beim Graben befreit) und dem eigentlich sonst immer ernsten (ich kenne sie nicht anders in meiner Vorstellung), schmalen Gesicht an dieser Rose lächelnd aufschauen sehe, mag ich sie ... und sie.

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 09.10.2009, 21:56

Kreta

Morgens um sechs Uhr nahm ich auf dem Balkon Abschied von der geliebten Insel. Noch war es dunkel. Der volle Mond rechts über den Bergen silberblass. Die Hunde heulten ihn an. Minuten später, auf dem Bergkamm links von mir, kündigte sich der neue Tag (der meiner Abreise) in einer zartrosa Linie an. Die Hähne krähten. Der Himmel wandelte sich in Grau, dann Blau, die Flut im Meer vor mir setzte mit rauschenden Wellen ein und ich weinte.
Schreiben ist atmen

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 17.10.2009, 19:43

Einst und Stets

Einst dachte ich, die Schallmauer verliefe über unserem Haus. Ich komme nicht hinaus über diesen Satz. Vielleicht ist da jemand, der das verstehen kann.
Wenn ich den kleinen, roten Punkt auf der Nase meines Vaters sah und befühlte, wünschte ich mir auch einen solchen. Mein Vater lachte und sagte: Na, warte mal etwas ab, später möchtest du den bestimmt nicht mehr. Ich war abwechselnd empört, geknickt, belustigt von seiner Behauptung, ja, manchmal ekelte mir aufgrund von ihr sogar vor ihm und meine Augen stellten auf seine gelben Zähne scharf, immer aber war ich auf eine wie ich heute weiß herrliche Weise absolut überzeugt davon, dass er sich irrte. Später bekam ich dann tatsächlich solch einen kleinen, roten Punkt auf der Nase, aber schon am Tag, als ich ihn entdeckte, hatte mein Vater Recht behalten.
Wir werden in einen Spalt von Tür geboren. Ein kurzes Lauschen bleibt uns, nach den Schatten der Schatten von schluchzenden Spiegeln. Was stets nur eine Ahnung war wird bald schon nur eine Ahnung sein. Von dem Graus, den man bestreichelt, weil das Gras sich uns zitternd entzieht.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 17.10.2009, 20:59

Apnoe

Wir werden in einen Spalt von Tür geboren. Ja. Und wir denken, uns gehört die Welt, in die wir einfach unser Leben reinwerfen. Und dass es lange dauern wird. Und dann zeigt uns das Leben, dass dieser Spalt nicht mal ein Spalt ist. Nein. Es ist nur ein Loch in der Luft. Was machen wir in einem Loch in der Luft? Nach Luft schnappen? Nein. Wir schmieren Schmelzsalze um die Löcher und legen uns den Schweizer Käse auf's Brot. Bis uns Augen wachsen, die sehen, wie der Käse schmilzt und sie freilegt. Die Löcher. Und schnappen doch nach Luft.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5722
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 20.10.2009, 02:07

Schönes Zimmer. Perfekt. Was ich noch brauche, ist die Unterschrift der Vormieterin, dass ich in den Mietvertrag eintrete und sie austritt. Das Blankoformular habe ich. Die Vormieterin ist nach Freiburg gezogen. Was tun? Ich brauche die Unterschrift, sonst kommt der Mietvertrag nicht zustande. Ich rufe an. Zwei Tage später Einschreiben: Schlüssel und Formular. Ohne Unterschrift.

Ich schicke es zurück, das Wochenende liegt dazwischen, ich zahle weiter Miete für mein jetziges Zimmer, kann es nicht kündigen, weil ich das neue nicht mieten kann, Oktober ist rum.

Als ich sie kennen lernte, machte sie Physikum. Zahnmedizin. Eigentlich braucht man Verstand für so was.

---



Das sollte ein Drabble werden, aber jetzt ist es unverständlich und immer noch ein Wort zuviel. Wie im wahren Leben: Viel Gelaber, aber am Ende ist man nicht klüger als zuvor. Immer wieder frage ich mich, ob dieses Hin- und Hergequake die Dinge nicht nur unnötig kompliziert macht. Es kann durchaus sein, dass die Menschen die Sprache erfunden haben, um sich beschäftigt zu halten. Die Bonobos machen statt dessen Sex. Das entspannt. (Gestern war ich im Fankfurter Zoo. Das stand es an der Schautafel im Affenhaus. Sollte man öfter machen. In den Zoo gehen, meine ich. Den Rest auch.)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Max

Beitragvon Max » 22.10.2009, 21:48

Dass ich in der Besichtigung von Wohnungen schlecht bin - gerade von solchen die schon bewohnt sind - war mir bewusst. Stets leitet mich dabei der Gedanke: Wenn der dort leben kann, kann ich es bestimtm auch. Das hat mir schon zu Studentenzeiten so manche Bruchbude und den Spott meiner Freunde eingetragen (gut noch erinnere ich mich des irritiertren Blickes einer Freundin, während sie sagte: Was willst du denn mit dem Hochbett - dem Stolz meiner Wohnung - dir hätte vielmehr auffallen sollen, dass die Wohnung kein Fenster hat).

Als ich meine erste Berliner Wohnung besichtigte, fand ich sie schön warm. Das war im kalten Berliner Februar eine wichtige Sache, also nahm ich sie - möbliert, wer will schon ohne Möbel wohnen.
Vier Wochen später, als ich an einem warmen Frühlingstag einzog, waren mit einem Male andere Dinge wichtiger. Plötzlich wusste ich, was mein Vermieter unter einer wenig gütlichen Scheidung verstand, die er hinter sich hatte. Er hatte nicht nur sämtliche Betten der ehemaligen Ehe erstritten, insgesamt waren es fünf in einer Zweiraumwohnung, zwei standen gar senkrecht im Badezimmer, sondern auch alle Regalbretter, die das Paar besessen hatte. Dabei hatte er aber bei Seitenständern der Regale deutlich den Kürzeren gezogen, davon besaß er gar keine. Froh stimmen konnte micht da weder die Arbeitserleichterung durch meinen Vermieter (auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel: Du brauchst das Bett nicht zu beziehen, ich habe erst eine Nacht darin geschlafen), noch mein Bruder, der mit eienm Ruck die Vorhänge beiseite zog und rief: Schau, wie schön hell die Wohnung ist! Tatsächlich war sie in dem Moment besonders hell, er hatte die Gardinen von den Stangen gerissen.
Gelacht habe ich dann zwei Tage später wieder. Ich lag auf dem Rücken in einem der Betten im Wohnzimmer. Plötzlich fiel mir auf: Ein wesentlicher Vorteil der Wohnung war mir ja bislang verborgen geblieben: Die Decke war tapeziert! Allerdings bei genauem Hinsehen vermutlich von einem Betrunkenen. Während die Bahnen auf der einen Seite um mindestens zwanzig Zentimeter überlappten, trieb es es sind dann keilförmig auseinander, so dass sie auf der anderen Seite der Decke einen Spalt von 30 Zentimetern aufwiesen.
Zuletzt geändert von Max am 23.10.2009, 21:10, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 23.10.2009, 19:36

Schwund

Gefühlte tausend Mal bin ich umgezogen. Jeden Ortswechsel nutzte ich, um mich von etlichen Dingen zu trennen. Befreiung vom Ballast. Flohmarkt, Zeitungsinserate, ebay, Schenkungen u.s.w. waren da recht hilfreich. Und die Mülltonnen. Alte Kinderbücher und Zeichnungen von mir. Meine ersten selbstgeschriebenen, so schrecklich kitschigen Geschichten, als ich zehn Jahre alt war. Fotos von früher? Weg damit. Wozu sollten sie noch nützlich sein. Sie hielten mich doch nur fest. Leben im Heute, nicht im Gestern. Japanisch wohnen. Das war meine Devise. Große offene Räume mit wenig Möbeln und viel Freiraum.
Wie schmiede ich mir meine innere Bōgu, um all den verlorenen Schätzen nicht mehr nachzutrauern?

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 11.11.2009, 22:12

Wundtraum

Jemand biss mir in die Ohren, am rechten gab es nur eine kleine Wunde, das linke aber blutete anders: es fehlte ja auch ein ganzes Stück. Es lag im Dunkeln, wer das getan hatte, sobald ich unter die Meinen zurückgekehrt war (der Weg: eine Tür bei den äußersten Stämmen des Waldes). Ich schob mein Haar über der Wunde zurecht, dass keiner sie sah, und blickte mich um. Und tatsächlich, keiner sah sie. Nicht einmal als meine Hand sorgenvoll das Ohr unter dem Haar befühlte. So stand ich ganz nah in einiger Entfernung und weinte bitter in mich hinein, dass mir gelang, was ich nicht nicht wollen konnte.
Andere wiederum träumen von Brötchen, die sie nicht fortschmeißen können, obwohl die Bären längst die Witterung aufgenommen haben, ja, schon lange los, hinter einem her sind.

Wir träumen doch, wenn wir träumen, nicht wahr?
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 15.11.2009, 01:00

Tagedieb

Merle kauert auf der Fensterbank, lauert dem Übergang zur Nacht, diesem ganz besonderen Moment. Sie muss achtgeben, ihn nicht zu verpassen. Wenn er lebendig wird, macht es Klick auf der obersten Kuppe ihres Ringfingers. Keine Musik. Sie spürt den Klick noch nicht, sie hört ihn. Hat ihre Nachtbeutezeit begonnen, spürt sie den Klick. Sie spürt den Klick aber nur, wenn sie ihn vorher gehört hat. Und wie! Tausend piekende Nadeln, die sich schmerzhaft, so wunderbar schmerzhaft in ihre Haut bohren.
Er hat Merle heute vieles gestohlen, der Tagedieb. Das Licht sein Handlanger. Grässlich loyal. Im Hellen sieht alles so erschreckend angezogen aus. Tagsüber kann Merle nicht nackt sein. Sie wird sich alles wiederholen. Im Traum. Nur im Traum ist alles wahr.
Merle streckt sich aufgeregt. Sie hat den Klick gehört.

Benutzeravatar
Zefira
Beiträge: 5722
Registriert: 24.08.2006

Beitragvon Zefira » 15.11.2009, 01:15

Ein Punkt war mir im Weg. Ein winzig kleiner Hautpartikel auf meiner Unterlippe. Tote Haut, kaum wert, beachtet zu werden. Wir haben ständig tote Haut an uns. Alles wird erneuert und stößt das Alte von sich. Nur manchmal bleibt es kleben und stört. Dieses Ding an der Lippe.
Ich kickte mit dem Zeigefingernagel dagegen, bis es zugab zu sein, und sich langsam vom Untergrund löste. Da schaffte ich es, einen ganzen daranhängenden Streifen Haut von der Unterlippe abzuziehen, von links nach rechts. Der Hautstreifen rieselte auf die Tastatur. (Ich surfte gerade.) Ich pickte den Hautstreifen auf und steckte ihn in den Mund.
Die Lippe fühlte sich wund an, aber es blieb keine Blutspur, als ich mit dem Finger darüber fuhr. Ich liege noch nicht restlos blank. (Erleichterung.)
Wärhrend ich dies schreibe, sucht der Zeigefingernagel erneut nach einer toten Zelle auf der Lippe.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 21.11.2009, 21:59

Heut nacht

Heut nacht träumte mir von einem Mann, der war 100 Meter groß. Er sah aus wie die Rentner, die im Fernsehn interviewt werden: karierte Mütze, grüner Trench und natürlich mit Stock. Er stand im Dienste einer Fabrik zu seinen Füßen.

Wie kann es so große Menschen geben.
Das ist doch nur ein Hologramm.
Achso.

Der Riesenmann zeigte seine alten Zähne. Und lachte. Mir kam es vor, als wolle er sich fallen lassen, so wie wenn man furchtbar müde ist. Und natürlich, wie das in Träumen so ist, hatte ich Recht mit meiner Vermutung. Ich sah, wie der Schatten sich am Himmel verschob, wie ein ganz eigener Mann und begann fortzulaufen und dabei anhand des Schattens auszurechnen, wohin der Mann wohl fallen würde. Aber der Schatten war so groß, dass ich es nicht wusste.

Gleich bist du fort, mein Denken

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 26.11.2009, 00:19

Der Schattenmann

Flüchtig weht er sich seine grauen Fetzen zusammen, so dicht, bis sie zu fettem Schwarz werden. Ein schwarzer Klumpen. Der Schattenklumpen wabert sich zur länglichen Form, schleicht sich von hinten an sie heran. Ein feiger Schatten. Er kann ihr sein Gesicht nicht zeigen, weiß er doch, dass nur Angst ihn nährt.
"Komm doch, Schattenmann, komm nur! Versuche, in mich hineinzukriechen!", ruft sie ihm spöttisch entgegen und dreht sich blitzschnell um, in der Hoffnung, seine Achillesaugen zu erhaschen, doch er ist schwächer als ihre Furchtlosigkeit.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 13 Gäste