Prosalog
Foto A.P. Sandor et moi
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Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.
Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.
Ich bin gespannt!
Kleingedrucktes:
Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:
Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt
Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.
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Zuletzt geändert von Nifl am 04.08.2007, 09:08, insgesamt 1-mal geändert.
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
Mein früherer Schreibgruppenleiter hat mir mal (bei einer Sprechprobe für eine Lesung) gesagt, in Südeuropa aufgewachsene Leute hätten beim Singen und Sprechen einen automatischen Vorteil. Weil die Menschen dort viel mehr Zeit im Freien zubringen, könnten sie lauter. Italien ist ja nicht umsonst das Heimatland der guten Tenöre. Auch Südfranzosen unterhalten sich gern temperamentvoll und schreiend. Spanier hingegen überhaupt nicht. Es wird zwar viel geredet in Spanien. An Bushaltestellen und Straßenecken fangen die Leute sofort ein Gespräch an. Man sieht kaum jemanden alleine irgendwo herumstehen. Aber, das ist der Punkt, Spanier reden nicht so wie Italiener oder Südfranzosen. Sie reden weder laut noch gleichzeitig. Typisches Bild ist, dass mehrere zusammenstehen, also mindestens zwei, und einer redet. Die anderen hören zu. Der Redende spricht so leise und gleichmäßig, als halte er eine Vorlesung. Die klassische Geste dazu ist ein leichtes Wippen einer geöffneten Hand mit aneinandergelegtem Zeigefinger und Daumen. Der Tonfall ist fortfließend ohne Pausen und ohne auffallende Betonung. Dem Zuhörenden sind Einwürfe wie "ah", "ahem", "hmpf" und "si" erlaubt, solange sie den Redefluß nicht stören. Kurz gesagt, Spanier sind große Monologisierer.
Da ich selbst kein Spanisch verstehe, habe ich mich oft gefragt, worüber man so lange und unaufgeregt reden kann. Ich könnte zum Beispiel zehn Minuten lang von meinem Schwager erzählen, aber da wäre der Tonfall ganz anders. Ich könnte auch meine Haustür beschreiben oder erklären, wie eine Strickmaschine funktioniert. Aber das will doch keiner wissen. Worüber reden Spanier? Eine Zeitlang nahm ich an, sie erzählen einander Geschichten. Spanier schätzen Geschichten sehr, sonst würden nicht so viele mit aufgeschlagenem Buch in der Metro stehen. Sogar beim Aussteigen, Erklimmen der Rolltreppen und bei den letzten Metern Gehweg zum Arbeitsplatz lesen sie weiter. Dabei haben sie richtig schöne Bücher dabei, keine zerfledderten broschierten Schwarten, sondern dickleibige Romane mit Schutzumschlag. (Einmal stand mir in der Metro eine Frau gegenüber, die einen Roman las, auf dessen Umschlag eine halb verweste Leiche abgebildet war.) Wenn so ein Spanier mit einem anderen zusammensteht und monologisiert, erzählt er vielleicht, was er zuletzt gelesen hat, dachte ich.
Bis ich unseren Hotelrezeptionisten gefragt habe, wie lange ich mit meiner Metro-Dauerkarte noch fahren kann. Genauer gesagt, meine Tochter fragte und ich stand dabei. Es war eine Wochenkarte, Samstag gegen vier Uhr nachmittags gelöst, und unsere Frage (die wir Freitagabend stellten) war die, ob diese Karte am Folgetag, also Samstag, noch benutzt werden könne.
Der Rezeptionist, ein sehr netter junger Mann übrigens, nahm die Karte in die Hand, betrachtete sie von allen Seiten und fing an zu reden. Er redete sehr lange. Sehr, sehr lange, in freundlichem Ton und mit einer Miene, die zu besagen schien, dass er sich intensiv mit unserer Frage auseinandersetzte. Ich verstand kein Wort. Aber ich konnte sehen, dass er mehrmals etwas an seinen Fingern abzählte.
Hinterher fragte ich meine Tochter: "Was hat er gesagt, geht die Karte noch?"
"Er weiß es nicht", sagte sie.
Darüber musste ich erst mal nachdenken. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben.
"Wenn er es nicht weiß, was hat er dann die ganze Zeit geredet?"
"Er hat die Karte in die Hand genommen. Ja, das sei eine Wochenkarte. Und die sei gelöst am Samstag, sechzehn Uhr dreizehn. Da in der Ecke steht es, Samstag sechzehn Uhr dreizehn. Die Karte gilt eine Woche. Also bis zum Samstag drauf sechzehn Uhr dreizehn. Heute ist Freitag, jetzt ist es gerade neunzehn Uhr dreißig. Also gilt die Karte heute noch, weil sie Samstag, sechzehn Uhr dreizehn abläuft. Die Karte ist eine Wochenkarte, das heißt, sie gilt sieben Tage. Gelöst am letzten Samstag. Heute haben wir Freitag. Das sind seit letzten Samstag (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, also sechs Tage, und morgen gilt die Karte bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind dann genau sieben Tage. Nach sechzehn Uhr dreizehn dann wohl nicht mehr, weil das mehr als sieben Tage wären. Samstag sechzehn Uhr dreizehn, dann (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und der halbe Samstag bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind genau sieben Tage. Er ist nicht sicher. Aber er meint, normal dürfe die Karte nur noch bis morgen sechzehn Uhr dreizehn gelten. Du kannst also noch bis sechzehn Uhr zwölf damit Metro fahren. Das sind dann genau sieben Tage (zählt zum dritten Mal an den Fingern ab). Also morgen nach sechzehn Uhr dreizehn kannst du mit der Karte nicht mehr fahren. Aber sicher ist er nicht. Du kannst es ja einfach ausprobieren. Da sind doch die Durchgänge in den Metrostationen, die automatisch geöffnet werden, wenn man die Karte in den Schlitz steckt, da steckst du die Karte rein und wenn der Durchgang dann aufgeht, dann gilt die Karte noch. Wenn nicht, musst du eine neue kaufen oder zu Fuß gehen. Das hat er mir erklärt. Dann hat er mir Gott sei Dank die Karte endlich wiedergegeben."
Ich glaube, ich habe meiner Tochter daraufhin gesagt: "Ich will den als Schwiegersohn." Aber sicher bin ich nicht.
Am Tag darauf waren wir in Segovia und sahen eine Osterprozession. Diese Prozessionen haben etwas entschieden Unheimliches wegen der Vermummung, die viele der Teilnehmer tragen, und dem merkwürdigen langsamen Wiegeschritt, in dem sie sich fortbewegen. Und sicher auch wegen der schrägen Musik, die manchmal dazu gespielt wird. Ich wurde von der Menschenmenge am Straßenrand verkeilt und konnte mich keinen Zentimeter mehr wegbewegen. Die Büßertruppe, in mitternachtslila Samt gekleidet und mit riesigen Spitzhüten auf den Köpfen, wankte auf mich zu; dazu erschollen einzelne schrille Trompetenstimmen und das Gedröhne einer Pauke. (Im Hintergrund meinte ich bereits den Großinquisitor zu erkennen.) Direkt vor mir zog sich einer der Vermummten die Kappe vom Kopf. Er sah ganz ähnlich aus wie unser Hotelrezeptionist, vielleicht 25, nett und lustig mit spitz aus der Stirn gezogenem Haar und einem Silberring in der Unterlippe. "Qué calor", bemerkte er und lachte.
Ich habe noch gewartet (konnte sowieso nicht weg), aber mehr sagte er nicht. Ob ich doch lieber den als Schwiegersohn ...?
Da ich selbst kein Spanisch verstehe, habe ich mich oft gefragt, worüber man so lange und unaufgeregt reden kann. Ich könnte zum Beispiel zehn Minuten lang von meinem Schwager erzählen, aber da wäre der Tonfall ganz anders. Ich könnte auch meine Haustür beschreiben oder erklären, wie eine Strickmaschine funktioniert. Aber das will doch keiner wissen. Worüber reden Spanier? Eine Zeitlang nahm ich an, sie erzählen einander Geschichten. Spanier schätzen Geschichten sehr, sonst würden nicht so viele mit aufgeschlagenem Buch in der Metro stehen. Sogar beim Aussteigen, Erklimmen der Rolltreppen und bei den letzten Metern Gehweg zum Arbeitsplatz lesen sie weiter. Dabei haben sie richtig schöne Bücher dabei, keine zerfledderten broschierten Schwarten, sondern dickleibige Romane mit Schutzumschlag. (Einmal stand mir in der Metro eine Frau gegenüber, die einen Roman las, auf dessen Umschlag eine halb verweste Leiche abgebildet war.) Wenn so ein Spanier mit einem anderen zusammensteht und monologisiert, erzählt er vielleicht, was er zuletzt gelesen hat, dachte ich.
Bis ich unseren Hotelrezeptionisten gefragt habe, wie lange ich mit meiner Metro-Dauerkarte noch fahren kann. Genauer gesagt, meine Tochter fragte und ich stand dabei. Es war eine Wochenkarte, Samstag gegen vier Uhr nachmittags gelöst, und unsere Frage (die wir Freitagabend stellten) war die, ob diese Karte am Folgetag, also Samstag, noch benutzt werden könne.
Der Rezeptionist, ein sehr netter junger Mann übrigens, nahm die Karte in die Hand, betrachtete sie von allen Seiten und fing an zu reden. Er redete sehr lange. Sehr, sehr lange, in freundlichem Ton und mit einer Miene, die zu besagen schien, dass er sich intensiv mit unserer Frage auseinandersetzte. Ich verstand kein Wort. Aber ich konnte sehen, dass er mehrmals etwas an seinen Fingern abzählte.
Hinterher fragte ich meine Tochter: "Was hat er gesagt, geht die Karte noch?"
"Er weiß es nicht", sagte sie.
Darüber musste ich erst mal nachdenken. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben.
"Wenn er es nicht weiß, was hat er dann die ganze Zeit geredet?"
"Er hat die Karte in die Hand genommen. Ja, das sei eine Wochenkarte. Und die sei gelöst am Samstag, sechzehn Uhr dreizehn. Da in der Ecke steht es, Samstag sechzehn Uhr dreizehn. Die Karte gilt eine Woche. Also bis zum Samstag drauf sechzehn Uhr dreizehn. Heute ist Freitag, jetzt ist es gerade neunzehn Uhr dreißig. Also gilt die Karte heute noch, weil sie Samstag, sechzehn Uhr dreizehn abläuft. Die Karte ist eine Wochenkarte, das heißt, sie gilt sieben Tage. Gelöst am letzten Samstag. Heute haben wir Freitag. Das sind seit letzten Samstag (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, also sechs Tage, und morgen gilt die Karte bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind dann genau sieben Tage. Nach sechzehn Uhr dreizehn dann wohl nicht mehr, weil das mehr als sieben Tage wären. Samstag sechzehn Uhr dreizehn, dann (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und der halbe Samstag bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind genau sieben Tage. Er ist nicht sicher. Aber er meint, normal dürfe die Karte nur noch bis morgen sechzehn Uhr dreizehn gelten. Du kannst also noch bis sechzehn Uhr zwölf damit Metro fahren. Das sind dann genau sieben Tage (zählt zum dritten Mal an den Fingern ab). Also morgen nach sechzehn Uhr dreizehn kannst du mit der Karte nicht mehr fahren. Aber sicher ist er nicht. Du kannst es ja einfach ausprobieren. Da sind doch die Durchgänge in den Metrostationen, die automatisch geöffnet werden, wenn man die Karte in den Schlitz steckt, da steckst du die Karte rein und wenn der Durchgang dann aufgeht, dann gilt die Karte noch. Wenn nicht, musst du eine neue kaufen oder zu Fuß gehen. Das hat er mir erklärt. Dann hat er mir Gott sei Dank die Karte endlich wiedergegeben."
Ich glaube, ich habe meiner Tochter daraufhin gesagt: "Ich will den als Schwiegersohn." Aber sicher bin ich nicht.
Am Tag darauf waren wir in Segovia und sahen eine Osterprozession. Diese Prozessionen haben etwas entschieden Unheimliches wegen der Vermummung, die viele der Teilnehmer tragen, und dem merkwürdigen langsamen Wiegeschritt, in dem sie sich fortbewegen. Und sicher auch wegen der schrägen Musik, die manchmal dazu gespielt wird. Ich wurde von der Menschenmenge am Straßenrand verkeilt und konnte mich keinen Zentimeter mehr wegbewegen. Die Büßertruppe, in mitternachtslila Samt gekleidet und mit riesigen Spitzhüten auf den Köpfen, wankte auf mich zu; dazu erschollen einzelne schrille Trompetenstimmen und das Gedröhne einer Pauke. (Im Hintergrund meinte ich bereits den Großinquisitor zu erkennen.) Direkt vor mir zog sich einer der Vermummten die Kappe vom Kopf. Er sah ganz ähnlich aus wie unser Hotelrezeptionist, vielleicht 25, nett und lustig mit spitz aus der Stirn gezogenem Haar und einem Silberring in der Unterlippe. "Qué calor", bemerkte er und lachte.
Ich habe noch gewartet (konnte sowieso nicht weg), aber mehr sagte er nicht. Ob ich doch lieber den als Schwiegersohn ...?
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Meine Holzentchen auf dem Aluminiumsee
Man sagt, es bedeute vieles, sei gar bestimmend, welches Bild über dem Kinderbette gehangen habe.
Über meinem Bett hat, soweit ich mich erinnere, nie ein Bild gehangen, aber wenn ich sagen sollte, welches dort hätte hängen können, so würde ich um eine Photographie meiner Holzentchen auf dem Aluminiumsee bitten.
Dass es eine Schönheit für die Entchen war, wenn das Papier ganz glatt war. Was es nur zu Anfang war. Denn sobald ich die Entchen bewegte, zerknickte die Oberfläche.
Irgendjemand hatte mir dieses Spiel mit dem Papier gezeigt, vermute ich sicher, gab mir das erste Mal das Papier heraus, alles daran fühlt sich danach an.
Diese Quelle der Schönheit fürchtete ich fortan, musste ich doch, da meine entstehende Manie, in immer kürzeren Abständen ein neues Papier holen zu müssen, bald die alltäglichen Haushaltsabläufe empfindlich zu stören drohte, mit klopfendem Herzen handeln.
Man sagt, es bedeute vieles, sei gar bestimmend, welches Bild über dem Kinderbette gehangen habe.
Über meinem Bett hat, soweit ich mich erinnere, nie ein Bild gehangen, aber wenn ich sagen sollte, welches dort hätte hängen können, so würde ich um eine Photographie meiner Holzentchen auf dem Aluminiumsee bitten.
Dass es eine Schönheit für die Entchen war, wenn das Papier ganz glatt war. Was es nur zu Anfang war. Denn sobald ich die Entchen bewegte, zerknickte die Oberfläche.
Irgendjemand hatte mir dieses Spiel mit dem Papier gezeigt, vermute ich sicher, gab mir das erste Mal das Papier heraus, alles daran fühlt sich danach an.
Diese Quelle der Schönheit fürchtete ich fortan, musste ich doch, da meine entstehende Manie, in immer kürzeren Abständen ein neues Papier holen zu müssen, bald die alltäglichen Haushaltsabläufe empfindlich zu stören drohte, mit klopfendem Herzen handeln.
Die Lyrik des Geldes
Der Betreuer meiner Diplomarbeit, der für mich in vielem eine Vaterfigur war, war ein überzeugter Marxist. Als er jedoch den bedingten Erwartungswert definieren sollte, begann er über Einkommen, über Gewinn und Verlust zu sprechen. Wir staunten.
"Ja", grinste er, "über das Geld geht die Einsicht am schnellsten!"
Heute denke ich manchmal, wie Recht er hatte. Auch die Kontraposition ist wahr: Wer das Geld nicht versteht, versteht auch die Welt nicht. So wie der Alte, der im Gartenhaus meiner Berliner Wohnung wohnte und Tag für Tag den Hinterhof im Auge hatte. Nur einmal sah ich ihn anderswo: Er hatte sich in die Bäckerei im Vorderhaus gewagt. Heiser, als sei seine Stimme aus der Übung bestellte er zwei Schrippen und zwei Schusterjungen. Getuschel als er die Backwaren mit Alusgeld bezahlte. Er war vielleicht der einzige, der noch DDR-Mark besaß.
Die Frau im schicken Supermarkt könnte seine Schwester sein. Langsam zählt sie die beiden 50 Euro Scheine in die Hand der Kassiererin, langsam nimmt sie ein paar Münzen Wechselgeld, während ich schon meine Summe im Kopf berechne. Als die Reihe an mir ist, kehrt sie noch einmal zurück. Unsicher hält sie der Kassiererin ein Eurostück hin: "Sie haben mir ein ausländisches Eurostück gegeben!", sagt sie. "Gilt das denn?" Mir liegt eine flinke Bemerkung auf der Zunge, die Frau hinter mir ist schneller. Ich lache. Erst am Nachmittag tut es mir leid.
Der Betreuer meiner Diplomarbeit, der für mich in vielem eine Vaterfigur war, war ein überzeugter Marxist. Als er jedoch den bedingten Erwartungswert definieren sollte, begann er über Einkommen, über Gewinn und Verlust zu sprechen. Wir staunten.
"Ja", grinste er, "über das Geld geht die Einsicht am schnellsten!"
Heute denke ich manchmal, wie Recht er hatte. Auch die Kontraposition ist wahr: Wer das Geld nicht versteht, versteht auch die Welt nicht. So wie der Alte, der im Gartenhaus meiner Berliner Wohnung wohnte und Tag für Tag den Hinterhof im Auge hatte. Nur einmal sah ich ihn anderswo: Er hatte sich in die Bäckerei im Vorderhaus gewagt. Heiser, als sei seine Stimme aus der Übung bestellte er zwei Schrippen und zwei Schusterjungen. Getuschel als er die Backwaren mit Alusgeld bezahlte. Er war vielleicht der einzige, der noch DDR-Mark besaß.
Die Frau im schicken Supermarkt könnte seine Schwester sein. Langsam zählt sie die beiden 50 Euro Scheine in die Hand der Kassiererin, langsam nimmt sie ein paar Münzen Wechselgeld, während ich schon meine Summe im Kopf berechne. Als die Reihe an mir ist, kehrt sie noch einmal zurück. Unsicher hält sie der Kassiererin ein Eurostück hin: "Sie haben mir ein ausländisches Eurostück gegeben!", sagt sie. "Gilt das denn?" Mir liegt eine flinke Bemerkung auf der Zunge, die Frau hinter mir ist schneller. Ich lache. Erst am Nachmittag tut es mir leid.
allegorie des widerspruchs
atemlos der stillstehenden zeit hinterherhetzen zukunftsvisionen wunschdenken durch vergangenheitslösung auslöschen konsequent dem weg inkonsequent nicht folgen irrwitz der stagnation muße in pulsierenden geist treiben gedankenstrudel sich ruhiges duell der ratio liefern widerwillen des erlebens den willen ums leben bringen bauchgefühle den ruf der intuition im nichts verhallen lassen ruhelose suche die spuren auslöschen erfahrene antworten ungelöste fragen in zweifel setzen grundlegende prinzipien sich durch nichtbeachtung bestätigen kritische reflexion sich zum grotesken zerrbild wandelt atonale synthonie der inneren divergenz zum konsens führt tremor der glieder zum stupor des augenblicks mutieren ad absurdum gelenkte erkenntnis zur gänzlichen klarheit
allegorie des widerspruchs
oder doch nicht?
atemlos der stillstehenden zeit hinterherhetzen zukunftsvisionen wunschdenken durch vergangenheitslösung auslöschen konsequent dem weg inkonsequent nicht folgen irrwitz der stagnation muße in pulsierenden geist treiben gedankenstrudel sich ruhiges duell der ratio liefern widerwillen des erlebens den willen ums leben bringen bauchgefühle den ruf der intuition im nichts verhallen lassen ruhelose suche die spuren auslöschen erfahrene antworten ungelöste fragen in zweifel setzen grundlegende prinzipien sich durch nichtbeachtung bestätigen kritische reflexion sich zum grotesken zerrbild wandelt atonale synthonie der inneren divergenz zum konsens führt tremor der glieder zum stupor des augenblicks mutieren ad absurdum gelenkte erkenntnis zur gänzlichen klarheit
allegorie des widerspruchs
oder doch nicht?
Ein sonniger Vormittag im Sommer, es ist heiß, zwei Männer schlafen. Der Bettler unter den Platanen in der Fußgängerzone, der Lehrer mit dem Kopf auf dem Pult im Klassenzimmer. Unruhig tanzen die Schatten der Blätter der Kastanie im Hof über sein Gesicht. Die Stimmen der Kinder beim Spielen. Zwei Männer schlafen. Die Schale des Bettlers ist leer, seine Hand liegt daneben, bewegt sich kaum merklich im Traum zu greifen. Wovon träumen die schlafenden Männer? Der Lehrer, erschöpft vom Reden vor den dreißig sich ständig drehenden Stühlen, der Bettler, müde vom ewigen Nehmen. Vielleicht träumen sie davon, im Schatten eines großen Baumes zu schlafen, ihren Körper auf weichem Gras gebettet, und sich vom Füllen zu erholen. Und vielleicht lächeln sie sogar im Schlaf, wenn ein Schatten wie eine zärtliche Hand über ihr Gesicht streift und sich ihr sehnsüchtigster Traum erfüllt.
inspiriert von Ferdis "Brüdern"
inspiriert von Ferdis "Brüdern"
o si takulisses
nein. ich stelle keine fragen. der wind tobt mir ohnehin antwort um antwort. wer hinter die kulissen blickt ist selber schuld, hab ich mal gelesen. nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass jede kulisse hinter und vor sich neue kulissen aufbaut. wenn nicht objektiv so doch immerhin subjektiv. das stehlen der zeit, das verhecheln der momente - all das ist kulisse und das dahinter, davor.
das laute reden der nachbarn. es ist ein streit. und es ist einfach lautes reden. sie sind alt und hören schlecht. aber ich höre gut. also ein streit, wenn ich nicht hinter die kulissen blicke. wenn ich dahinter blicke, dann ist es kein streit. vielleicht. vielleicht ist es ihre kultur mit lautem reden nicht zu streiten. oder es ist ihre kultur mit lautem reden streiten zu vermeiden.
aber letztlich bedeutet das sehen hinter eine kulisse das beschäftigen mit der eigenen. die, die man sich nicht eingesteht, die davor. und die dahinter.
ich liebe die verhassten kulissen.
nein. ich stelle keine fragen. der wind tobt mir ohnehin antwort um antwort. wer hinter die kulissen blickt ist selber schuld, hab ich mal gelesen. nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass jede kulisse hinter und vor sich neue kulissen aufbaut. wenn nicht objektiv so doch immerhin subjektiv. das stehlen der zeit, das verhecheln der momente - all das ist kulisse und das dahinter, davor.
das laute reden der nachbarn. es ist ein streit. und es ist einfach lautes reden. sie sind alt und hören schlecht. aber ich höre gut. also ein streit, wenn ich nicht hinter die kulissen blicke. wenn ich dahinter blicke, dann ist es kein streit. vielleicht. vielleicht ist es ihre kultur mit lautem reden nicht zu streiten. oder es ist ihre kultur mit lautem reden streiten zu vermeiden.
aber letztlich bedeutet das sehen hinter eine kulisse das beschäftigen mit der eigenen. die, die man sich nicht eingesteht, die davor. und die dahinter.
ich liebe die verhassten kulissen.
Wenn die Kulissen gestorben sind, bleibt die Essenz. Bleibt die Essenz? Wenn die Wände zwischen den Seinsweisen durchlässig geworden sind, ist alles Botschaft. Ist alles Botschaft? Wenn ich Fragen in die Leere empfinde, liegen Antworten vor meinen Füßen. Liegen Antworten vor mir? Ich hebe sie auf, ich freue mich. Sie sind schön, sie sind einfühlsam, sie sind kostbar. Als wär's ein Stück von dir. Gibt es dich noch stückweise?
Jetzter wird's nicht. D. Wittrock
Die Essenz der Unruhe
Als ich vor kurzem wieder einmal fasziniert 'Das Parfum' sah, fragte ich mich, welchen Duft wohl meine Essenz tragen würde. Vanille? Nein, zu süß. Ich bin nicht süß. Zitrone? Nein, auch nicht. Hm. Es würde wohl eher ein herber, ein würziger Duft sein, der seine richtige Note erst entwickelt, wenn er schon aufgetragen wurde: ein zorniger, wütender Duft, ein temperamentvoller. Einer, der den Menschen aufregt, wenn er ihn hinters Ohrläppchen träufelt. Nein, bloß nicht träufeln! Nur einen winzigen Tupfer. Ja, ein Duft, der Unruhe erzeugt, so ein Drängen hervorruft, ein ruheloser Ameisenhaufenduft. Das Kribbeln würde denjenigen verrückt machen. Was für ein toller Gedanke!
Komm, Jean-Baptiste, mach die Welt verrückt mit mir!
Als ich vor kurzem wieder einmal fasziniert 'Das Parfum' sah, fragte ich mich, welchen Duft wohl meine Essenz tragen würde. Vanille? Nein, zu süß. Ich bin nicht süß. Zitrone? Nein, auch nicht. Hm. Es würde wohl eher ein herber, ein würziger Duft sein, der seine richtige Note erst entwickelt, wenn er schon aufgetragen wurde: ein zorniger, wütender Duft, ein temperamentvoller. Einer, der den Menschen aufregt, wenn er ihn hinters Ohrläppchen träufelt. Nein, bloß nicht träufeln! Nur einen winzigen Tupfer. Ja, ein Duft, der Unruhe erzeugt, so ein Drängen hervorruft, ein ruheloser Ameisenhaufenduft. Das Kribbeln würde denjenigen verrückt machen. Was für ein toller Gedanke!
Komm, Jean-Baptiste, mach die Welt verrückt mit mir!
Wieder Köln, wieder Rhein. Der Fluss kennt mich seit 25 Jahren. Hier habe ich gesessen, wenn ich mich leer fühlte oder übervoll, mit Liebeskummer und mit Zukunftssorgen. Als ich zum ersten Mal hier war, war Böll noch am Leben und einer meiner Heiligen neben Frisch. Ein Heiliger der dritten Generation, nach Einstein und lange nach Beckenbauer und Müller.
Das Ludiwgmuseum mit dem Gekreuzigten von Dali, der Böllplatz, auf dem ich mit den Holländerinnenen gesprochen habe, die Deutzer Brücke. Am ufer knutschen zwei in meinem Alter. Wie oft kann man sich das Gleiche versprechen und es immer wieder glauben, auch wenn es so leicht zeerbricht?
Morgen beginnt die Weltmeisterschaft: Man soll nicht alles so schlecht reden, wie es ist ....
Das Ludiwgmuseum mit dem Gekreuzigten von Dali, der Böllplatz, auf dem ich mit den Holländerinnenen gesprochen habe, die Deutzer Brücke. Am ufer knutschen zwei in meinem Alter. Wie oft kann man sich das Gleiche versprechen und es immer wieder glauben, auch wenn es so leicht zeerbricht?
Morgen beginnt die Weltmeisterschaft: Man soll nicht alles so schlecht reden, wie es ist ....
Kein Fluss, der mich kennt. Wir begegnen uns zögerlich, er ist so braungrün wie der Schlamm, den ich mitbringe. So hatten wir nicht gewettet! Ich hatte darauf gehofft, dass du mir klar und durchscheinend ein paar funkelnde Lichtblitze auf deiner friedfließenden Oberfläche präsentierst. Dass du dadurch wandelst, verklärst, erhellst! Lebensfluss, Styx, Wasser am laufenden Band, da sitze ich zerflossen an deinem Ufer und warte auf Halt. Und wenn du einfach mal stehen bleibst ? Die Blätter trudeln an Ort und Stelle, zwei irritierte Enteriche verstehen die Welt nicht mehr. Das kann ich nicht verantworten - durchgeknallte Vögel. Also gut. Du fließt weiter und ich gehe pinkeln.
(Für die Hüterin des Ortes)
(Für die Hüterin des Ortes)
Jetzter wird's nicht. D. Wittrock
Der Mann ist mir schon gestern Abend aufgefallen. Das stets Alarmierte in seinem Benehmen, so als sei er jederzeit bereit zu fliehen. Und natürlich die Neurodermitis, die in seinem Gesicht blüht und sich von dort bis auf die Kopfhaut fortpflanzt wie ein Kontinent, der aus dem Wasser steigt. Nun ist es an ihm sich der Gruppe vorzustellen: er schickt kurze Blicke in die Runde, bevor er die Augen wieder senkt. Sein Atem ist der eines Läufers nach langer Strecke, als er sagt, er sei in den letzten Jahren nicht zum forschen gekommen. Die anderen lächeln, aber man sieht das Mitleid. Der ist schon mal kein Konkurrent. Wenn er ein Hunde wäre, denke ich, müsste man ihn in ein ganz anderes Rudel setzen und mit ihm ganz viel selbstvertrauen trainieren. Er aber hat ja sein Rudel selbst gewählt. Die vielen Alphatiere. Dann stellt sich der nächste vor.
Vuvuzela-Alarm
Vor der WM hatte ich diesen seltsamen Namen noch nie gehört.
Bei jeder WM gucke ich mir die Spiele an, aber nur, wenn Deutschland spielt. Oder Chile. Wenn Deutschland spielt, fiebere ich für die deutsche Mannschaft. Wenn Chile spielt, für die Chilenos. Wenn Deutschland gegen Chile spielt, hab ich ein Problem. Nicht nur mit meinem Mann. Obwohl ... eigentlich sind gerade diese Spiele, wenn auch sehr rar, am Aufregendsten, weil ich mich, natürlich nur, um meinen Mann zu ärgern, dann spontan entscheide, in diesen 90 Minuten zu 100 % Chilenin zu sein, und nicht nur zur Hälfte. Auch bei der Halbzeit ändere ich meine Nationalität nicht, nee, kommt nicht in Frage. Dann feuere ich sie an, gröle wie doof und mein Mann versteht nur Spanisch.
Aber bei dieser WM hab ich ein größeres Problem. Sie nerven, diese Tröten, sie nerven derart, dass ich, auch beim Deutschland-Spiel, den Ton abschaltete. Mein Mann hat nicht protestiert. Er spielt sowieso immer nebenher Schach, kann nicht TV gucken, ohne etwas nebenher zu machen. Das nervt mich auch, vor allem, wenn er mir nicht zuruft, wenn die Werbung zu Ende ist, da ich gerade vorm PC sitze oder auf dem Klo. Jede Scheißwerbung muss ich ja nutzen. Ich hock doch nicht vor dem Fernseher und guck die Werbung. Nee, das nervt mich total.
Sogar der Reporter war von den Vuvuzelas hörbar genervt. Die gehören verboten!
Aber ich habe ein noch größeres Problem, das größte genaugenommen.
Irgendein Fuzzi hat ja diese Trompeten in Deutschland eingeführt und sie werden viel verkauft.
Unter uns wohnen Afrikaner ...
Vor der WM hatte ich diesen seltsamen Namen noch nie gehört.
Bei jeder WM gucke ich mir die Spiele an, aber nur, wenn Deutschland spielt. Oder Chile. Wenn Deutschland spielt, fiebere ich für die deutsche Mannschaft. Wenn Chile spielt, für die Chilenos. Wenn Deutschland gegen Chile spielt, hab ich ein Problem. Nicht nur mit meinem Mann. Obwohl ... eigentlich sind gerade diese Spiele, wenn auch sehr rar, am Aufregendsten, weil ich mich, natürlich nur, um meinen Mann zu ärgern, dann spontan entscheide, in diesen 90 Minuten zu 100 % Chilenin zu sein, und nicht nur zur Hälfte. Auch bei der Halbzeit ändere ich meine Nationalität nicht, nee, kommt nicht in Frage. Dann feuere ich sie an, gröle wie doof und mein Mann versteht nur Spanisch.
Aber bei dieser WM hab ich ein größeres Problem. Sie nerven, diese Tröten, sie nerven derart, dass ich, auch beim Deutschland-Spiel, den Ton abschaltete. Mein Mann hat nicht protestiert. Er spielt sowieso immer nebenher Schach, kann nicht TV gucken, ohne etwas nebenher zu machen. Das nervt mich auch, vor allem, wenn er mir nicht zuruft, wenn die Werbung zu Ende ist, da ich gerade vorm PC sitze oder auf dem Klo. Jede Scheißwerbung muss ich ja nutzen. Ich hock doch nicht vor dem Fernseher und guck die Werbung. Nee, das nervt mich total.
Sogar der Reporter war von den Vuvuzelas hörbar genervt. Die gehören verboten!
Aber ich habe ein noch größeres Problem, das größte genaugenommen.
Irgendein Fuzzi hat ja diese Trompeten in Deutschland eingeführt und sie werden viel verkauft.
Unter uns wohnen Afrikaner ...
Das dritte Land
Mein Sohn hat drei Fussballänder. Frankreich natürlich. Deutschland natürlich. Und seit zwei Jahren Uruguay. So entkommt er dem abendländischen Kulturstreit, lässt die Leitkulturen hinter sich und lernt Spanisch mit jener Geschwindigkeit, die Zweisprachler an sich haben. Zu seiner deutschen Mutter hat er ein seltsames Verhältnis. Er hat sie starken Aggressionen ausgesetzt. Ich habe stand gehalten, und er sagte, nun setz' deine Leidensmiene nicht auf. Ein Jahr lang hatten wir alle der deutschen Sprache eine echte Chance hat geben wollen. Ein ganzes Schuljahr in Deutschland. Ich vermute, es war eine gute Gelegenheit, dem Geigenunterricht ein Ende zu setzen. Ein Jahr in Schleswig-Holstein. Mit ordnungsbesessenen Internatsbetreuern. Die Deutschen verstehen nichts vom Film, sagte er zu mir. Und hatte also trotz allem unsere Cinephilie mitgekriegt. Sein Zimmergenosse, ein unheimlich glatzköpfiger junger Mann habe ihn mal testen wollen. Er kenne einen Ällän Dällon. Und mein Sohn sagte, vermutlich etwas unwirsch, den kenne er nicht. Der Zimmergenosse behauptet: Ein Star, ein französischer Filmstar. Und der sowieso hin-und herschwankende, der gerade versuchte einer Zwickmühle zu entfliehen, der Franzose, dessen Deutsch gut genug war und dennoch nicht ausreichte, sagte völlig unkämpferisch, der könne ihm den Buckel runterrutschen, dieser Ällän Dällon. "Den kenne ich nicht". Nun, er kannte auch Alain Delon nicht wirklich.
Heute können wir über solche Geschichten schmunzeln und zugeben, dass wir es beide schwer hatten, er und ich.
Ich bin froh, dass er ein drittes Land gefunden hat.
Mein Sohn hat drei Fussballänder. Frankreich natürlich. Deutschland natürlich. Und seit zwei Jahren Uruguay. So entkommt er dem abendländischen Kulturstreit, lässt die Leitkulturen hinter sich und lernt Spanisch mit jener Geschwindigkeit, die Zweisprachler an sich haben. Zu seiner deutschen Mutter hat er ein seltsames Verhältnis. Er hat sie starken Aggressionen ausgesetzt. Ich habe stand gehalten, und er sagte, nun setz' deine Leidensmiene nicht auf. Ein Jahr lang hatten wir alle der deutschen Sprache eine echte Chance hat geben wollen. Ein ganzes Schuljahr in Deutschland. Ich vermute, es war eine gute Gelegenheit, dem Geigenunterricht ein Ende zu setzen. Ein Jahr in Schleswig-Holstein. Mit ordnungsbesessenen Internatsbetreuern. Die Deutschen verstehen nichts vom Film, sagte er zu mir. Und hatte also trotz allem unsere Cinephilie mitgekriegt. Sein Zimmergenosse, ein unheimlich glatzköpfiger junger Mann habe ihn mal testen wollen. Er kenne einen Ällän Dällon. Und mein Sohn sagte, vermutlich etwas unwirsch, den kenne er nicht. Der Zimmergenosse behauptet: Ein Star, ein französischer Filmstar. Und der sowieso hin-und herschwankende, der gerade versuchte einer Zwickmühle zu entfliehen, der Franzose, dessen Deutsch gut genug war und dennoch nicht ausreichte, sagte völlig unkämpferisch, der könne ihm den Buckel runterrutschen, dieser Ällän Dällon. "Den kenne ich nicht". Nun, er kannte auch Alain Delon nicht wirklich.
Heute können wir über solche Geschichten schmunzeln und zugeben, dass wir es beide schwer hatten, er und ich.
Ich bin froh, dass er ein drittes Land gefunden hat.
Gelegentlich erinnere ich mich meiner ehemaligen Zukunft. Chirurg wollte ich werden, als könnte ich wieder gut machen, was ein alkoholabhängiger Arzt an meiner Mutter zerbrach. Fußballer. Der Traum scheiterte an der Wahl meines Vaters, der lieber einen Gymnasiasten wollte als einen Fußballer. Dann wollte ich Physiker sein, Jurist, Journalist. Von der gegenüberliegenden Seite betrachtet scheint der Lauf der zeit weniger zwangsläufig als wenn man ihn vom Ende her betrachtet. Ich rühre meinen Kaffee um - auch das ist irreversibel.
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