Prosalog

Hier ist Raum für gemeinsame unkommentierte Textfolgen
Nifl
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Beitragvon Nifl » 23.07.2007, 18:09

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Foto A.P. Sandor et moi


Prosafluss - Geheime Nachrichten - Flüsterpost - Prosapool - ungebunden - verbunden - Prosadialog - Prosakette - Prosa rhei - ungebunden - verbunden - Prosa - Blitzlichter - Prosalog - Wort zu Wort Beatmung - Prosafolge - ungebunden - verbunden


Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.

Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.

Ich bin gespannt!




Kleingedrucktes:

Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:

Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt

Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.



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"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 14.01.2013, 20:13

Wortgesang der dritte - die Fallgrube zwischen zwei Worten

Eine hinreißende Wortgeste entschlüpft A.J.Cronins Heldin Lucy Moore. Daran ist Cronin selbst mit einiger Sicherheit völlig unschuldig, wahrscheinlich auch sein Übersetzer Richard Hoffmann: Lucy erfindet ihr Bonmot ganz alleine. Lucy ist ein taffes Frauchen und hätte, lebte sie in der Gegenwart, bestimmt Karriere gemacht. Leider ist sie um 1880 geboren, was ihr nicht viel Spielraum lässt. Genau genommen gar keinen außer der Option, aus ihrem Gatten einen Mann zu machen. Leider ist der aber ein Schlaffi und trotzt ihren Bemühungen mit einem stillen, sympathischen Galgenhumor.
Ein scharfes Auge hat Lucy auf die Kusine Anna, die sie selbst für eine Woche eingeladen hat (wofür sie sich später ohrfeigen möchte). Anna ist trocken-direkt, auf sinnliche, etwas träge Art attraktiv, intelligent und selbstbestimmt. Obendrein hat sie, wie Lucy hintenherum erfährt, vor Jahren ein uneheliches Kind gehabt (es ist im Babyalter gestorben) und den Vater dazu nie benannt. Das schlägt dem Fass den Boden aus. Lucy traut sich kaum noch, ihren Mann mit diesem Vamp allein zu lassen. Ihren hausfraulichen Ehrgeiz gibt sie indessen keine Minute auf. Anna bekommt jeden Tag ihr Frühstückstablett und ein vorher geplantes Picknick wird mit größter Sorgfalt vorbereitet: Lucy macht nach meiner Rechnung für drei Erwachsene und einen achtjährigen Jungen mindestens zwölf belegte Brote, eine Tüte Krapfen, einen Obstkuchen, ein Paket Zwieback und einen Schwung hartgekochte Eier zurecht (das nur nebenbei). Sie selbst will nach dem Picknick Himbeeren pflücken gehen, ihr Sohn seine Angel ausprobieren – wer beaufsichtigt aber ihren Mann und Anna? Die Sorge treibt Lucy ununterbrochen um und gibt ihr, als an Ort und Stelle der Picknickplatz gewählt wird, die Frage an Anna ein:
„Möchtest du fischen oder pflücken?“

Vielleicht muss man, um diese Frage so zu lesen wie ich, vorher zehn engbedruckte Seiten lang Zeuge von Lucys Sorgen und Ängsten geworden sein. Ich habe jedenfalls weder „fischen“ noch „pflücken“ gelesen, sondern ein anderes Wort, das genau zwischen fischen und pflücken liegt .... Und so kommt Lucys Mann auch, getrieben durch Lucys ununterbrochenen Argwohn, fünf Seiten später zu Fall.
Genauso wie ich, ihe Leserin.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 05.02.2013, 23:10

Abends gegen acht öffne ich ein letztes Mal die Terrassentür, um das Wohnzimmer durchzulüften, und setze mich solange mit meinem Buch und dem letzten Kaffee in die Küche ...

Da stehen sie plötzlich neben mir, einer links, einer rechts.
Der eine schwarz, der andere rot. Der schwarze gehört dem Nachbarn, das weiß ich. Der rote ist von weiter weg, aber es ist ein Kater, unkastriert (soweit ich das erkennen kann), sieht gepflegt aus.

Sie haben Hunger. Sie sitzen vor dem Kühlschrank, obwohl ich nichts aus dem Kühlschrank gebe; das wissen beide. Ich habe nur Trockenfutter, Leckerli. Zwei Handvoll schütte ich auf den Boden. Sie fressen heißhungrig und drehen danach eine Runde durch das ganze große Esszimmer/Wohnzimmer/Wintergarten, alles ist offen, überall kriechen sie hin und begutachten alles. Ich bin nicht sicher, ob sie stubenrein sind, deshalb behalte ich sie genau im Auge.
Das ist anstrengend, aber schnell vorbei. Binnen fünf Minuten sind sie wieder draußen. Habe ich die Terrassentür inzwischen zugemacht, weil mir zu kalt wurde, stehen sie davor und miauen.

Es sind junge Männer. Sie wollen raus.
Sobald ich die Tür aufmache, rennen sie davon auf neue Abenteuer. Draußen ist Schneesturm, aber das ist ihnen egal.

Ich schaue ihnen nach (mit leisem Neid), dann schließe ich die Tür endgültig; mittlerweile ist es viertel nach acht - Tatortzeit - und ich stelle den Fernseher an und nehme mein Strickzeug.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.02.2013, 00:04


Kontakt

Letzte Woche ging ich in die Stadt. Dummerweise hatte ich vergessen, Kontakt mit dem Wettergott aufzunehmen. Als ich aus der Haustür trat, schüttete es aus Eimern. Also Regenschirm aufspannen, den ich immer im Shopper habe, noch schnell eine Zigarette anzünden, solange ich Schutz unterm Dach habe, Shopperriemen um die Schulter legen, Mantelkragen hochschlagen, Brille, die an einem Lederbändchen hängt, irgendwie um den Kragen friemeln und los. An der nächsten Ecke klappte der starke Wind mir den Schirm nach hinten, die Riemen meiner Tasche rutschten zur Seite und die Zigarette ging im Regen aus. Meine Haare hingen binnen Sekunden klatschnass an meinem Gesicht und die Riemen rutschten weiter. Während ich versuchte, den Schirm wieder aufzuspannen, mit dem Rücken zum Wind, spürte ich, wie mittlerweile ein eiskalter Rinnsal in den inzwischen vom Wind breit aufgeklappten Mantelkragen meinen Nacken entlang in den Rücken lief. Den wieder geöffneten Schirm hielt ich in Schräglage und lief so schnell ich konnte in gebückter Haltung in die Stadt. Normalerweise hätte ich kehrt gemacht, doch ich hatte einen wichtigen Termin einzuhalten, der schon monatelang vereinbart war. Auf dem Weg zum Termin hetzte ich noch in die Drogerie. Ich bin weitsichtig. Eine Packung Schaumfestiger, also die richtige Marke, erkenne ich noch ohne Brille, aber beim Stärkegrad ist Schluss. Also setzte ich die Brille auf. Und sah gar nichts. Sie war übersäht von Regentropfen. Ich warf den nassen Schirm auf den Boden, den Shopper gleich daneben, um in meiner Riesentasche nach einem Brillenputztuch zu suchen. Wie immer fand ich keines auf Anhieb. Warum können die heutzutage keine multifunktionalen und gut durchdachten Shopper herstellen? Meine selbstgemachten sind sehr funktional. Zwei Außentaschen, mehrere Innentaschen, eine Handytasche, eine Brillentasche. Ich denke dabei wirklich an alles. Nur leider sind meine selbstgemachten Shopper aus wunderschönen Paneesamt- oder Gobelinstoffen gefertigt, sprich für dieses Regenwetter nicht geeignet. Also legte ich diverse Utensilien aus meinem nicht-funktionalen Shopper auf den Boden neben den nassen Schirm. Ein kleiner Haufen lag da und ich suchte immer noch nach einem Brillenputztuch, wobei mir die Suche erschwert wurde durch die Tatsache, dass das Innenleben des nicht-funktionalen Shoppers komplett schwarz war und ich meine Brille nicht benutzen konnte, da sie mit Regenflecken übersäht war. Es war somit mehr ein Ertasten als Suchen. Doch diese Brillenputztücher sind eckig, also gut zu erspüren. Während ich weiteren Krimskrams auf dem Boden verstreute, kam ein Frau mit einem Einkaufswagen und zwei Kindern an. "Können Sie mich mal vorbeilassen?" Ich schob den inzwischen fast kompletten Inhalt meines nicht-funktionalen Shoppers beiseite und ließ sie passieren. Die Zeit rannte mir davon. Der Termin! Als ich ein Brillenputztuch aus der Tasche nahm, sah ich, dass sie keinen Schaumfestiger in der von mir gewünschten Stärke da hatten. Stufe 1 und 5 waren vorhanden. Ich brauchte aber Stufe 3. Also wieder raus aus dem Laden. Ich hatte noch ein paar Dinge auf meiner Liste, die ich in der Apotheke gegenüber kaufen wollte, doch das passte zeitlich nicht mehr. In der Drogerie hatte ich die Liste mit der gerade geputzen Brille schnell noch mal durchgesehen. So kam ich klatschnass und mit etlichen unerledigten Dingen bei meinem Termin an und hatte es danach sehr eilig, wieder nach Hause zu kommen.

Gestern musste ich wieder in die Stadt. Um 14.30 Uhr würde ich das Haus verlassen. Um 14.00 Uhr schaute ich raus. Es nieselte. Der Himmel war schwarz-grau. Ich musste aber in die Stadt. Wieder eine Terminsache. Ich schaute nach oben und bat, es möge in Strömen regnen, und zwar jetzt sofort. Und um 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr möge die Sonne scheinen und sich ein strahlend blauer Himmel zeigen. Eine Sekunde später hörte ich das heftige Prasseln des Regens. Als ich mir den Mantel anzog und den Haustürschlüssel in die Hand nahm, schien die Sonne bei sommerlich blauem Himmel. Der Schirm blieb geschlossen in meinem Shopper, der Mantel geöffnet, die Shopperriemen rissen sich am Riemen und ich ging, gemütlich eine Zigarette rauchend, in die Stadt. Ich erledigte alles, was ich zu erledigen hatte, dieses Mal war auch meine Schaumfestigerstärke vorhanden, ich nahm meinen Termin wahr und schloss um 17.00 Uhr wieder die Haustür auf. In diesem Moment fing es an, in Strömen zu regnen.

Als mein Mann nach Hause kam, sagte er:
"Von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr warst du in der Stadt, stimmt's? Diesmal hast du dran gedacht!"

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Eule
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Beitragvon Eule » 26.02.2013, 16:51

Die Kontaktaufnahme erwies sich als schwierig. Weder war jemand am Treffpunkt zu entdecken gewesen, noch sonst ein menschliches Lebenszeichen zu finden. Fassungslos betrachtete ich die dunklen Risse im Mauerwerk, die bröckelnden Verfugungen im Fensterbereich, die Plattenbauten neben dem Abbruchhaus, die Ameisenstraßen über und neben dem Gehweg: eindeutig Spandauring 45, neben der alten Spreebrücke, zur Nummer 47 hin. Wir hatten an alles gedacht, incl. digitaler Stadtplanausschnitte und Tageschat, eine halbe Stunde bevor ich vom Computer zum Treffpunkt aufbrach. Meine Bekanntschaft hatte sich aufgelöst in einen grauen, wolkenverhangenen Regenhimmel und einen abgemeldeten Nicknamen, das wußte ich schon vorher: Meinen "Trabantenprinzen" mußte es wohl irgendwie geben, aber er hatte sich neu maskiert, mit allen hier zur Verfügung stehenden Mitteln.
Ein Klang zum Sprachspiel.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 07.03.2013, 01:30

In der langen Kette der Katerbesuche heute ein bizarrer Tag.
Kater schwarz, stammt von nebenan, besucht uns seit letzten Frühsommer (damals gerade mal eine Handvoll Kater) kam heute nicht in Begleitung seines großen roten Freundes, sondern allein. Streunte zur offenen Terrassentür herein. Schnurrte lauthals. Wollte Leckerli. Ich nahm ihn hoch und ließ ihn vor Schreck beinahe wieder fallen, weil er am Bauch einen sieben Zentimeter langen kahlen Fleck hatte. Die Haut darunter seltsam bläulich. Eine lange rote Narbe.
Was hat ihm gefehlt? Keine Ahnung. Mir schien er immer kerngesund. Ich habe mir vorgenommen, die Nachbarn zu fragen. Bis dahin setze ich insgeheim vor dem Wort „Kater“ einen Vorbehalt. Mir wurde er als Kater vorgestellt und hat einen Männernamen. Aber dass er hinten herum irgendwie anders aussah als Kater rot, das habe ich mir schon länger gedacht. Vielleicht sind die Nachbarn auf den gleichen Gedanken gekommen.

Irgendwann nach zehn Uhr abends, als ich mit meiner Tochter fernsah, kam Kater rot an die Tür. Ich machte auf. Er kam schnurrend hereinstolziert, wollte Leckerli. Kater rot ist etwas freundlicher (und meiner Meinung nach intelligenter) als Kater schwarz. Ich biete ihm gern eine Kleinigkeit an, daher weiß er, wo die Büchse steht. Als er vor mir her in die Küche lief, fiel mir das Herz in die Hosen. Auch Kater rot ist kein Kater mehr. (Wenn Kater schwarz denn je einer gewesen war.)

Das Erstaunliche ist, dass beide Kater aus verschiedenen Häusern stammen. Schwarz gehört nach nebenan, Rot irgendwohin um zwei Ecken, ich weiß es nicht genau.

Mir war wehmütig zumute. Noch wehmütiger stimmte mich das Verhalten, das laute Schnurren, das Betteln, das Gleich-wieder-weg-Wollen, der unverhohlene Katzenegoismus: Bis jetzt hat sich nichts geändert. Warum sollte es auch.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.04.2013, 19:54


Was den Menschen als Egoist stigmatisiert, ist der Katze anmutiger Stolz.

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Hetti
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Beitragvon Hetti » 05.04.2013, 22:57

Mein Kater ist vierzehn Jahre alt und riecht schlecht aus dem Mund. Er hat Angina. Der weiße Frühling fordert sein Tribut. Damit er sich besser fühlt, verabreiche ich ihm fettarmen Joghurt. Den liebt er. Zugleich verbessert sich sein Atem. Mein Sohn ist in Bielefeld (mit meinem Auto). Mein Mann noch nicht zurück aus Berlin. – Was sagt uns das über Egoisten? Über anmutigen Stolz? Und über Joghurt? Ich weiß es nicht. So genau.

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 06.04.2013, 14:50

Wenn ich einmal sterbe

Eines Nachts fahre ich von einem Gedanken gepeinigt hoch, der mir beim Lesen gekommen ist – ich überflog gerade den Bestseller Shades Of Grey, den mir jemand verehrt hatte (hätte er es nur nicht getan, das Buch ist schlecht) – und springe aus dem Bett.

Der Gedanke frisst sich durch meine Gehirnwindungen, senkt sich in die Brust, tropft weiter abwärts und setzt sich in der Schamgegend fest.
Scham! Die Quintessenz dieses nächtlichen inneren Aufschreis.
Die Rahmenhandlung: Was, wenn ich aus heiterem Himmel stürbe? Es wäre an sich wünschenswert, ganz ohne vorhergehendes Siechtum abzuhauen. Das hieße aber auch, ohne Vorbereitung, ohne einen letzten Willen zu hinterlassen, und, jetzt kommt’s, ohne die Corpora delicti früherer Zeiten vernichtet zu haben, geschreddert, verbrannt, restlos alle gemacht, sodass kein Fitzelchen mehr daran erinnert.
Eine Klosterschwester kann gewiss völlig entspannt in den Himmel verschwinden, aber ich? Meine Nachfahren würden die Grabstätte, unter der ich zerfiele, niemals mit Blümchen schmücken – sie kämen höchstens, um draufzuspucken.

Nachdem ich also schon blitzwach bin, zwänge ich mich in die Abstellkammer und hieve die Kartons mit den Beweisen vom obersten Regalbrett. Ich schleppe sie auf den Wohnzimmerteppich und verfluche meine sentimentale Ader, die Schuld dran ist, dass ich jetzt zwischen Haufen von Fotos, Briefen, Andenken im Schneidersitz hocke, um meine schlimmsten Jugendsünden zu vernichten. Erst hole ich mir aber ein Glas Rotwein, weil mich das immer beruhigt, dann beginne ich die Berge zu durchforsten ...

Gegen drei Uhr morgens und nachdem die Flasche Wein geleert ist, sitze ich vor drei Stapeln, die mein Leben dokumentieren.
Der erste beinhaltet meine Kindheit. Blondes Lockenköpfchen, das zwei Babykatzen der Kamera entgegenhält, Foto mit Schultüte, Hefte, seitenweise mit undefinierbarer Krakelschrift, gespickt mit roten, ungeduldigen Korrekturen aus dem Füller der Lehrerin, manchmal ein gewalttätiger, fetter 5er darunter. Und zwischendrin ein – mein – erster Liebesbrief eines sechsjährigen Mitschülers: Du bist die schönste Frau von der ganzen Welt! Gerührt öffne ich noch eine Flasche des vorzüglichen Rotweins.
Im zweiten Stapel häufen sich Liebesbriefe und schlechte Schulnoten. Dazu kommen ein Stammbuch mit rosenumrankten Freundschaftsbekundungen und meine Tagebücher. Das erste endet mit dem Eintrag: Heute habe ich endlich meine Jungfräulichkeit verloren, Gott sei Dank! Der Daniel ist zwar ein Obertrottel, aber wurscht. Hauptsache, die Sache ist erledigt.
Dem Datum nach war ich fünfzehn Jahre alt.
„Prost!“, sage ich zum Sofa, auf das ich zu krieche, den Packen meiner Teenagerzeit unterm Arm, das Glas balancierend. Liegend stöbere ich weiter. Dramatischer Liebeskummer im zweiten Band der Aufzeichnungen, immer schien ich mich in den falschen Kerl verknallt zu haben, ich arme Sau.
Trost fand ich, wie ich mich dunkel erinnerte, in den Armen meiner besten Freundin. Wir übten auch die Sexualität miteinander, da wir dachten, vielleicht würde es uns Liebeskummer ersparen. Aber es stellte sich heraus, dass wir zu hetero waren, es half uns nicht weiter. Wir litten und rissen uns zur Kompensationen irgendwelche Jungen in der Disco auf, egal, wie sie aussahen. Ich sehe die Fotos durch. Sie wurden in der verruchtesten Diskothek der damaligen Zeit geschossen. Auf den meisten sehe ich wie schwer unter Drogen aus, unmöglich, das der Nachwelt zu hinterlassen! Es gab weiß Gott nicht viele Substanzen auf dem Markt, aber manche Appetitzügler hatten phänomenale Wirkung. Sie hielten wach, man diskutierte schlaflos über alles Mögliche, während man eine Runde nach der anderen um den Häuserblock zog, um endlich so müde zu werden, dass man schlafen gehen konnte.
Nach der zweiten Flasche Wein rutschen mir die Top-Secret-Belege vom Leib. Den Rest werde ich später... nehme ich... mir... vor...

Kichern. Kichern! Kichern?

Ich schlage die Augen auf. Sie brennen. Mein Kopf pocht. Sehr langsam drehe ich ihn dem Gekichere zu. Lore, meine halbwüchsige Tochter, wühlt in meinem Geheimsten! Alle Kraft zusammennehmend rapple ich mich auf.
„Was machst du da?!“
„Ach Mama, was warst du doch für ein heißer Feger, wow! Und sag bitte nie mehr zu mir, ich soll mich wie eine Dame benehmen, ja?“ Sie grinst mich frech an.
Ich sinke geschlagen aufs Sofa zurück.
Ich wusste es.
Schreiben ist atmen

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.04.2013, 20:29


Wenn sich nach meinem Sekundentod ein einziger Mensch zehn Jahre später für eine Minute an mich erinnert, habe ich gelebt.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 06.06.2013, 00:05

Nahezu jeder Bewohner unseres blauen Planeten, der in unserer heutigen Zeit nach dem Schlafen die Augen öffnet und dessen Wahrnehmung nicht innerlich betäubt ist wegen Apathie, Demenz oder Schmetterlingsgefühlen, und mit der Außenwelt in Kontakt tritt, wird ihr an nahezu allen Orten unseres Planeten, von Chongquing http://www.google.de/search?q=chongqing ... 80&bih=900 in der Provinz Sichuan bis zu abgelegensten Orten unseres virtuellen Erlebens http://eu.battle.net/wow/de/forum/topic/5347486089 , im Laufe eines Tages/einer Nacht begegnen, der Werbung, die uns umgibt von der Wiege bis zur Bahre, an uns klebt wie ein Kaugummi und uns auf Schritt und Tritt folgt. Nach diesem Frühlingsvorboten, wenn sich aufeinanderfolgende Tag/Nächte zu einem Jahr verbinden und wir einen ganzen Strauß davon in die Hand gereicht bekommen, unseren Lebenssommer, haben wir verstanden, was es heisst, in einem kapitalistischen Land geboren worden, in einer Welt aufgewachsen zu sein, die von der Vorstellung beseelt ist, dass alles immer verfügbar ist und zu sein hat. Und diesem menschlichen Naturgesetz unterwirft sich keiner von uns alle, seit sich der Konsumismus als Denk- und Lebensform über den ganzen verletzlichen blauen Planeten verbreitet hat.
Die jungen Menschen, die als Kinder in diese Erlebenswelt hineinwachsen, in diesen radikal anwachsenden Materialverbrauch und die damit einhergehende rapide ansteigende Naturressoursenzerstörung, und mit kritischen Augen auf diesen überdimensional großen globalen Mähdrescher sehen, bei dem hinten als Abfallprodukt chice Mode, Yachten, Transportnetze, Schuldenberge, Wokenkratzer, Trinkwasservergiftungen, konsumentäre Netzwerke, künstliche Urlaubswelten, Massenverelendungen, abgewirtschaftete Getreidefelder und Staaten, Chips, die man nicht essen kann, hochmoderne Krankenhäuser und virtuelle Sinnsucharmaturen herauskommen, stellen sich bislang brav hinten an, um seine Beglückungen zu empfangen. Dabei verbraucht diese globale Monster, dass unser politisches Personal für uns erschaffen hat, deren Zukunft.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 13.06.2013, 01:57

Abendgebet

Heisse Sonne Kalter Mond - Diese Zeile auf einem Buchcover, dass mir 2001 in einer Buchhandlung zufällig in die Hand fiel, bewog mich damals, dieses Buch aufzuklappen und hineinzusehen. Die Fotographien und die Texte in diesem Buch, die ich darin vorfand, machten mich neugierig, doch in Wirklichkeit waren es die intensiven Farben dieses Kosmos, der darin beschrieben wurde, die bestechenden Menschenfotos, die mich damals bewogen, mich in dieses Thema einzulassen, es war ein Buch über die Tuaregnomaden in der Sahara. Die Autorin dieses Buches, eine Desiree von Throtha, brachte zwei Jahre später noch ein weiteres Buch über die Tuaregs heraus mit dem Titel Wo Himmel und Erde sich berühren. Diese beiden Bücher haben mich damals ein wenig eintauchen lassen in die Kultur und in die Philosophie dieses Rebellenvolkes aus der Sahara. Wie bei uns die Zigeuner, auch so ein umherziehendes Volk, dass sich nicht an Staatsgrenzen gebunden fühlt, sich mehr über den Horizont definiert, nomadisch wohnt in seinem Herzen, wie doch auch wir hier auf der Erde bloß Durchreisende sind, dieses Unabhängige hat mich schon als Kind angezogen, da es doch die Gegenwelt zur Scholle symbolisierte. Beide Bücher konnten mich allerdings nicht restlos davon überzeugen, dass diese Desiree von Throtha es auch wirklich ernst meinte mit ihrem Interesse an den Tuaregs. Warum beschreibt sie das Leben der Tuaregs als so lebenswert, wenn sie doch selbst gar nicht dort wohnen will? Ist sie nur eine Hochglanz-Folklore-Darstellerin? Mein Misstrauen ist seit jeher sehr groß, ob sich jemand wirklich für den interessiert, über den er schreibt. Ich recherchierte damals ein wenig über sie und und erfuhr, dass sie in München lebte und erst seit wenigen Jahren, und auch nur eine minoritäre Zeit eines jeden Jahres, bei den Tuaregs im Norden Afrikas verbrachte. Also so ähnlich wie ein Zweitwohnungsbesitzer, dachte ich mir. Erst als ich aus einem Interview, dass sie in einem Medium gegeben hatte, erfuhr, dass sie selbst nicht dauerhaft bei den Tuaregs in der Desert leben könnte, sondern ihren Lebensmittelpunkt hier in Deutschland hat weil sie unsere Kultur als Ausgleich und Hafen braucht, durch die sie sich regenerieren kann, gewann sie mit dieser Aussage bei mir wieder an Glaubwürdigkeit.
Heute abend hab ich in einem Kino ihren Dokumentarfilm Woodstock in Timbuktu - Die Kunst des Widerstands aus 2011 gesehen. Ein Film über ein Musikfestival der Tuaregs im malischen Teil der Sahara. Eine Reportage über Menschen, die derzeit in alle Winde verstreut, auf der Flucht sind. Ein Film über die Identität der Tuaregs. Sensibel dokumentiert. Ein Kreis hat sich geschlossen - nach zwölf Jahren. Der Film hat mich davon überzeugt. Dass sie, diese Desiree von Trotha es ernst meint mit Ihrem Interesse an den Tuaregs. Auch wenn sich die selbst gar nicht so nennen, wie ich in dem Film erfahren hab, sie selbst nennen sich Kel Tamaschek, vergleichbar wie das mit den Inuits, die wir Ausländer Eskimos nennen. Die Araber sollen ihrem Volk den Namen touareg gegeben haben, das bedeutet im Arabischen das Volk, dass hinter dem Horizont wohnt, hinter den (Sand-)Dünen.
In diesem Dokumentarfilm spricht ein Tuareg darüber, was die Frauen für sein Volk bedeuten. Diese Sequenz in dem Film, sein persönliches Statement über die Frauen, ist etwas ganz besonderes. Ich kenn keine Stelle in irgendeinem Buch oder Netcast oder Film, die ich jemals gelesen, gehört oder gesehen habe, die in einer solchen Intensität über Frauen und ihre Bedeutung spricht.
Beim Rausgehen aus dem Kino hörte ich eine Frau sagen: "Es ist ein schöner Film". Nein, das ist kein schöner Film. Ich find, das ist was anderes.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 02.07.2013, 00:32

"my body is strong. i am beautiful. i am young." zitat aus `vollmond´, einem tanztheater von pina bausch, das größtenteils im wasser spielt)

....erneut hat die Polizei heute abend auf dem Taksim Meydanı in Beyoğlue eine Demonstration engagierter Menschen gegen die derzeitige Politik, der AKP und seines Präsidenten Erdoğan aufgelöst, welche im Windschatten des von ihr propagierten Wirtschaftsaufschwungs schleichend den konservativen Lebensstil im Land installieren will und gezielt freigeistige Kulturzentren abreißen und sie durch Einkaufszentren ersetzen lässt, Kussverbote in U-Bahn-Stationen, Lippenstift-Verbot und Lange-Röcke-Pflicht für Stewardessen in Flugzeugräumen erlässt, Demenzverhalten von seinen Bürgern einfordert...

...meanwhile......leises Vogelgezwitscher aus der Luft und den Kronen der Bäume begleitet uns beide auf dem Waldweg, auf dem wir heute abend unterwegs sind. Eben hat er mit uns eine größere Lichtung erreicht und führt uns nun an seinen grünen Wiesen vorbei, auf der langstielige Margeriten mit ihren weißen Blätterkranzköpfen und dem gelbem Pollenkorbgesicht darin wachsen.
Zwei Weidezäune entfernt, drüben am Waldrand, lassen ein paar Schumpen, die friedlich in einer Wiese grasen, rhythmisch vom Klang der Glocke begleitet, die sie um den Hals tragen müssen, ab und zu ihren Schwanz hinter sich in der Luft hin- und her zischen, um lästige Fliegen zu vertreiben.
In der Luft liegt immer noch diese dampfige Atmosphäre, die anfangs zurückbleibt, nachdem ein heftiges Gewitter zuvor für Abkühlung von schwüler Luft gesorgt hat, es in den Wiesen noch stellenweise dampft, weil wärmere Luftschichten von unten und kältere Luftschichten von oben hier ein seltenes Rendezvous feiern und sich im Luftraum besteigen und lieben, bevor ihre unterschiedliche Temperamente bis zur Unkenntlichkeit verwischen.
Beim Gehen, wenn du sehr luftig angezogen bist, spürst du die ständigen Wechsel der Luftschichten auf deiner Haut, alle paar Meter, in jeder Senke verändert sich ihre Temperatur, das ist ein irrsinig feines Gefühl.

Der Weg führt uns an einer Holzbank vorbei, die unter einer Baumgruppe, welche Botaniker als Gemeine Fichten identifizieren würden, steht. Durch die Spalten der Sitzbretter dieser Sitzbank, an denen die Farbe abblättert, drängeln sich Brennesseln hindurch und recken frech ihre Köpfe empor.
Nur einige Meter weiter liegt ein großer Laubbaum in seinem hellgrünen Frühsommerblätterkeid, unter dem ein filigranes Äste-Zweige-Korsett verborgen ist, mitten in der Wiese.
Der Sturm in der Nacht zuvor hat ihn niedergestreckt, er liegt da wie ein Kind, das böse von hinten umgestoßen wurde und nun ausgestreckt auf dem Boden liegt, nur das der hier nicht mehr aufstehen kann, eher so aussieht, als wenn er sich zum Schlafen hingelegt hätte...

...im Land der schlafenden Bäume ziehen bizarre Wolkenschiffe über ihnen am Himmel hinweg und aus deren Takelage lugt immer wieder die Sonne heraus und führt eisern ihr Sommerregiment, sie lässt die Landschaft unter ihr von einem auf den anderen Moment plötzlich erstrahlen wie ein Scheinwerfer über der Bühne einen Sommernachtstraum....

"Komm, lass uns noch am See vorbeigehen". Wir entscheiden uns für die Abkürzung, nehmen den direkten Weg durch den Wald, folgen kleinen Rehpfaden, die durch flaches Heidelbeergestrüpp führen und sich wie ein Labyrinth in alle Richtungen verzweigen. Unten an den Füßen kitzeln und kratzen ihre Zweige, wir springen über zwei, drei Fuchsbaulöcher, schwer einzuschätzen, ob sie verlassen sind oder nicht, die schwarze Erde drumherum wirkt so frisch, treten über unzählige Wurzeln, steigen über dünnarmige Aststämme, die die Natur auf dem Waldboden zurückgelassen hat und erreichen bald darauf die ersten Moorlöcher, die das weitaus größte Moorloch, den nahen Moorsee, bereits ankündigen.
In diese bassingroßen Moorlöcher, in die meist ein dicker Ast gelegt wurde, damit keiner unterging, falls ihm die Kräfte schwinden sollten, sind Kinder einst voller Freunde reingehüpft, haben ihre Körper in dieser moorig-schwarzen, nach übelriechender Erde duftenden zähflüssigen Paste versenkt, um kurz darauf als schwarze Moorleichen wieder herauszusteigen, was oft gar nicht so einfach war, weil es am Rand dieser Moorlöcher keinen Halt gab, an dem man sich hätte leicht festhalten und rausziehen können, um gleich danach mit ihren schlammbedeckten Körpern am nahen See empfindliche Badegäste zu erschrecken.
Unter einer letzten Absperrschranke hindurch erreichen wir kurz danach die Liegewiese des Sees. Der liegt strahlend vor uns in der Abendsonne, seine Wasseroberfläche glitzert leicht, ein Phänomen, dass nur auftritt, wenn ihre Strahlen abends oder morgens in einem bestimmten Winkel auf diesen See fallen oder bei feinem Nieselregeln, der von Naturlicht beleuchtet wird.

Ein paar Frösche machen sich durch vereinzeltes leises Quaken bemerkbar, und von einem nahegelegenen Baum ruft ein Kuckuck, vielleicht das letzte Mal in diesem Jahr.
Vom Wasser her hört man fröhliches Lachen, es ist ein Pärchen, ein Mann und Frau, das nackt badet, die Tatsache ausnutzt, dass die medialen Wetterfrösche mit ihrer Prognose in dieser Region wieder mal absurd daneben gelegen haben und sich nach diesem metrologisch genau berechneten, von digital vernetzten Unken ausgesprochenen Zauberbann (...heftige Gewitter sorgen für Abkühlung....die Sonne macht ein paar Tage Pause...) keine weiteren Menschen heute hierher an diesen See verirren.
Er, von ansehlicher Statur, liegt ausgestreckt auf einer Holzplattform, die sich etwas drin im See befindet, auf die hat er sich hingelegt und genießt den Augenblick.
Sie, besser ihr Kopf, schwimmt um die Plattform herum wie eine Haifischflosse, kurz darauf steigt sie, hochgewachsen, aus dem Wasser, legt sich neben ihm hin, auf den Rücken, und stützt sich dann mit ihren Händen auf und hebt ihren Kopf in die Höhe, in dieser Position fällt ihr nasses, langes, schwarzes Haar gefällig an ihrem Nacken herab wie ein Umhang, sie sieht in dieser Position aus wie eine Meernixe mit Menschenbeinen.
Sie lachen miteinander und genießen die letzten Sonnenstrahlen, reden und schweigen miteinander und drehen sich schließlich zu uns uns um, auf den Bauch, und sehen uns lächelnd an.
Am Ufer haben wir uns hingesetzt, ins Gras der Liegewiese, genießen den Ausblick, den Anblick, den Ort, der solch kleinen Paradiese zulässt. Eine blaue Libelle, immer wieder in der Luft anhaltend, fliegt direkt vor uns vorbei.
Und, wie einst auf der Insel Avalon im nebelverhangenen See, ist ganz aus der Ferne, drüben vom anderen Ufer der Zeit, leises Kirchenglockengeläut zu hören.
Irgendwann stehen die beiden auf, nebeneinander, sie sind fast gleich groß, und drehen sich beide, im Nanokosmos zwischen natürlich und lasziv, ins Profil und verweilen dort, vielleicht, um vor uns ihre Sinnlichkeit auszukosten, es gefällt uns allen, das ist deutlich zu spüren.
Dann erst springt er kopfüber ins Wasser, sie folgt ihm kurz darauf mit einem einfachen Sprung ins Wasser nach. Im Wasser wartet er auf sie, bis sie an ihm vorbei geschwommen ist, dann schwimmen sie beide in Richtung Ufer.
Sie schwimmt vor ihm her, dreht sich auf einmal um um und ruft ihm laut in schönstem Einheimischenakzent die Frage zu: "Sag mir nochmals, wann du geboren bist."

Kurz bevor sie das Ufer erreichen, um aus dem Wasser zu steigen, lässt sie sich von ihm einholen und schwimmt dann hinter ihm dicht an ihn heran, schlingt ihre Arme um seinen Kopf und unter Wasser ihre Beine um seinen Rumpf. Dann lässt sich sie von ihm heraustragen, sie lachen fröhlich dabei, sie genießt es in vollen Zügen und wirkt ganz vergnügt.
Auf der Liegewiese setzt er sie ab, sie bleiben einander zugewandt stehen und zum ersten Mal umarmen sie sich einander. Nur einen langen Augenblick, dann löst er sich aus der Umarmung, beugt sich auf den Boden, hebt ein Handtuch auf und legt es ihr um die Schulter. Sie fasst es an der Hand, schlägt es auf und hüllt auch ihn damit ein.
So eingehüllt, stehen sie in der Abendsonne und sehen sich an. Sie haben nur noch Augen für sich, ihr fröhliches Lachen hört man bis zu uns rüber.

"Lass uns gehen. Die können sich ohne einander nicht mehr überstehen." Am Parkplatz, an dem wir kurz darauf vorbeikommen, stehen zwei Autos nebeneinander, ein großes und ein kleines. Das eine trägt das Kennzeichen von da, das andere von dort. Der Kuckuck hat aufgehört, zu rufen.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 03.07.2013, 23:43

...apropos Chongqing und Chengdu, den beiden Wirtschaftszentren im Westen Chinas...

am kommenden Donnerstag, den 04.07.13 ist auf auf den Münchner Filmfesttagen ein Dokumentarfilm über einen Park zu sehen, den man "Peoples Park" nennt, inmitten eines der großen chinesischen Stadtbauprojekte im Westen Chinas, der ehemals historisch gewachsenen und nach diversen Umbaumaßnahmen künftigen Retortenstadt Chengdu gelegen, die derzeit in der chinesischen Provinz Sichuan neu angelegt wird, um die in diesem Land herrschenden Pharaonen der Neuzeit für die Nachwelt unsterblich zu machen.
Der berüchtigte 3-Schluchten-Staudamm war nur ein kleines Vorprojekt davon, das kleine extravagante Stromgeneratorenhäuschen für die beiden künftigen Städte Chengdu und Chongquing und ihres Umlandes.

In der Stadt Chengdu tragen kleine Kinder bunte Luftballons herum, die so groß wie Häuser sind, oder noch größer, vielleicht ist ja die ganze Stadt in ihrem Herzen ein einziger gigantischer Luftballon, von Architekten und Konstrukteuren entwickelt, der eines Tages möglicherweise platzt wie eine Seifenblase, und aus dem dann der Verwesensgeruch vieler toten Menschen ausströmt...

Vor einigen Tagen hat jemand einem Kind dieser Stadt eine reißfeste Schnur in die Hand gedrückt, an der ein neuer gigantischer Luftballon hängen wird, den Konstrukteure bis zu seinem vollen Fassungsvermögen von 1,7 Millionen Kubikmeter aufgeblasen haben;
seine Hülle hat außen eine weiß bis milchige Farbe, ist aber, wenn man mit ein bischen Phantasie in sie hineinsieht, durchsichtig.

Das Kind nennt seinen Luftballon das New Century Global Centre, weil, wenn es in ihn hineinsieht, es darin eine Eislaufbahn, einen Wasserpark, Universitätseinrichtungen und überhaupt viele, viele Menschen entdecken kann, und überhaupt noch so manch anderes mehr...

In einigen Tagen wird jemand diesem Kind noch eine weitere reißfeste Schnur in die Hand drücken, an der ein besonders schöner Luftballon hängt, den die britische Star-Architektion Zaha Hadid entworfen hat; von außen hat er eine Form wie eine megagroße futuristische Sonnenbrille, wenn das Kind auf den Bügelrand dieser Brille sieht, wird es darauf den Schriftzug ´Chendu Contemporary Arts Centre´ erkennen.

Der Film über diesen "Peoples Park" in Chengdu ist eine 75 Minuten lange Kamerafahrt durch diesen künstlichen Park, in dem natürliche Menschen, die in künstlichen Lebensräumen leben, Entspannung und Erholung suchen oder ihren Verstand oder Ruhe, oder was sie sonst so auf den Straßen dieser Stadt verloren haben...

Der Film fängt die verschiedenen Stimmungen, Rhytmen, Tätigkeiten im Park ein. Menschen, die beobachten und Menschen, die beobachtet werden.

Peoples Park, China/USA (2012) Regie: Libbie De Con, J.P. Snieadecki
Mit Einwohnern von Chendu, Sichuan Province, China, Länge 78 min,

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Eule
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Beitragvon Eule » 16.07.2013, 16:40

Der ungewöhnliche Winter und die Prophezeiung der Maya hätten mich warnen können: das wird wohl wieder ein Reisejahr. Statt Frühjahrsgefühlen gab es Frost bis in die Haselkätzchen, die meisten Kleinsäuger erwachten später und mieser gelaunt aus ihrer Winterzeit. Etwas weiter, hinterm Kaukasus, war alles wie immer, der Winter hart, aber die Schneeschmelze trat rechtzeitig ein und offenbarte grausam die verlorenen Überreste an Material und Einwohnern bis zum Bosporus. Die Bauern beklagten Ernteeinbußen, nur bei den Erdbeeren war alles wie immer. Von den ungewöhnlich vielen Kirschen bekam ich eine Mundstarre, die mir half, erst zweimal über das nachzudenken, was ich sagen wollte, z.B. in welchem Land ich vielleicht am liebsten Asyl beantragen wollte, sollte es wirklich einmal zu einer solchen extremen Notwendigkeit kommen. Nordkorea und Aserbaidjan würden es wohl nicht werden, trotz der dortigen, großen Beliebtheit folkloristischer Musikdarbietungen, auch nicht die Malediven mit ihrer schwimmenden Müllinsel. Nach dem Hochwasser mußte ich auch noch unsere günstigen Urlaubsbuchungen in Ägypten stornieren, in Brasilien gab es kurz vor der Fußballweltmeisterschaft Versorgungsengpässe, es kommt nicht als echte Alternative infrage. In Japan ist man wieder optimistisch, was die Zukunft der Atomindustrie angeht, die Antarktis wird wohl nicht so schnell globales Schutzgebiet. Da bleibe ich im Superwahljahr vielleicht doch lieber zuhause, schaue Dokus im Fernsehen an und lese Reisebeschreibungen. Mein Nachbar erzählt gerne von Bulgarien und ist gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Vielleicht grillen wir mal zusammen.

Und, aus Gründen der Ausgewogenheit, eine seehr wichtige !! Nachricht zum Thema Müllinseln:

http://www.taucher.net/aktuell_Plan_geg ... _5162.html
Zuletzt geändert von Eule am 21.07.2013, 10:22, insgesamt 4-mal geändert.
Ein Klang zum Sprachspiel.


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