Beitragvon Klara » 31.03.2018, 11:10
Karfreitagsglück
Die Nachtigall frühmorgens im dämmrigen Hof. Die Sonne auf kaltem Kleinstadtbeton, wo die Reha-Klinik steht, in der ich die Mutter besuche, ein Tagesausflug. Das warme Wasser der Therme, draußen Dampf. Die Mutter, der es besser geht (nicht gut). Das lachende Kind im Kurpark. Die offene Kirche, Gesang und Gebet, Vaterunser und Segen. Der Sitzplatz im überfüllten Zug. Die gespendete und erwiderte Freundlichkeit unter Fremden, das Obst, die Apfelschorle. Die SMS mit den Töchtern. Der Himmel mit Mond in orange. Das offne Café im säkularen Berlin. Das Verborgensein eines Gottes, der gefunden werden will.
Karfreitag ist ein harter Tag. Ich weiß nicht, ob ich an Jesus als Gott glaube oder an Jesu Auferstehung. Ich bezweifle, dass das wichtig ist. Ich glaube, dass ich an Glauben glaube: Er ist da, ich tue ihn, angezweifelt, doch zweifellos in mir zweifelndem Wesen als anzuzweifelndes – was? Gefühl? Empfinden? Als Gabe? Aufgabe? Ich weiß nicht, ob ich an Liebe glaube (eher nicht), aber ich glaube – ich weiß! – dass ich liebe, nicht unberührt von jenem Zweifel, aber unzerstörbar als Teil von mir wie Blut, das in mir fließt und sich reinigt. Wie die Haut, die mich umschließt und mich mit Mir und Nicht-mir verbindet: Sie hält die Verbindung sogar im Schlaf aufrecht. Die Wahrheit liegt immer dazwischen – das kann frustrierend sein, erleichternd (im Sinne von: entlastend) oder platt, doch enthebt nicht von der Frage: WO zwischen? Zwischen welchen Polen, Behauptungen, Wirklichkeiten?
Gibt es überhaupt Wirklichkeiten in der Mehrzahl – oder nur? Existieren Behauptungen, zu Ende gedacht, im Plural? Existieren sie überhaupt? Denken führt ausschließlich zu vorläufigen Ergebnissen (auch dies ein höchst zweifelhafter Plural: Ergebnisse).
Neulich saß ich in diesem Café, in dem ich schreibe, mit anderen Gefühlen und war doch dieselbe – oder nicht? Ist jemals jemand, bin ich jemals dieselbe? – Ich, die an Identität nur so bedingt glaubt wie an die Auferstehung Jesu? Wäre nicht Gott allein identisch mit sich selbst – und hätte doch eine solche Identität gar nicht nötig? HAT Gott überhaupt? Irgendetwas? Oder ist er pures Sein?
Neben mir sitzt ein Mensch, der mich inspiriert, auch er schreibt hier. Wir hatten einige Blicke-Grüße-Begegnungen, ein kurzes unverfängliches Sätzeaustauschen per Mail. Nun findet er es nötig, mir mitzuteilen, dass er verheiratet ist, was mich zum Lächeln bringt, denn das ist mir klar, und auch gar nicht wichtig, oder nur in dem Sinne wichtig, dass es Begegnung ermöglicht, weil verhindert. Er nennt sogar den Spitznamen seiner Frau und den Vornamen seines Sohnes, als wären wir Vertraute, so viel Intimität mutet er uns zu, um die Distanz zu wahren, oder wiederherzustellen. Ich bin mir nicht sicher, ob er das braucht oder ob er meint, dass ich das brauche, beschert mir eine kleine Enttäuschung, weil er das Offensichtliche in Worte fasst, doch es rührt mich, wie er darauf achtet, mich nicht zu beschämen, mich mit Behutsamkeit in die Schranken zu weisen, obwohl es keinen „objektiven“ Anlass dafür gibt, ein egozentrischer Gentleman.
Ich empfehle ihm die Suppe, doch er stellt in Aussicht, dass er nur kurz bleibe(es werden dann doch zwei Rote), weil er „gleich“ mit seiner Familie essen gehe. Doch er freut sich, glaube ich, mich zu sehen, setzt sich ungefragt an den Tisch neben meinem, wendet sich nach kurzer, unbeholfener Plauderei ab, kramt sein digitales Schreibgerät hervor, widersteht der Versuchung, sein Mobiltelefon zu befragen. „Ich absentier mich dann mal, du willst ja sicherlich auch weiterschreiben.“ Denn ich sitze mit Papier und Füller. Jemand, der sich zu benehmen weiß und sein Ziel nicht aus den Augen verliert: ein wenig schreiben, in diesem Café, wie er es nach eigener Aussage nahezu jeden Abend tut. Schreiben und Reden schließen einander aus. Ein weiterer kleiner Stich geheimer Enttäuschung, den ich aufschreibe, fast zeitgleich, fasst zeitgleich, indem ich mir all diese „nebensächlichen“ Wahrnehmungen erlaube, die mir ÜBERLASSEN werden, zum Beispiel die, der Hand gewahr zu sein, die neben mir auf der Bank liegt, unerreichbar nah, und doch gewiss zu sein, dass die fremde Hand näherkommen will. Die Welt als Wille und Vorstellung.
Schriebe ich einen Brief, wäre er zeilenkurz oder seitenlang. Ich schreibe ihn nicht: Er hätte zu viele Adressaten. Oder nur mich als Empfängerin. Mein Briefkastenschlüssel liegt in meiner Hand, in meiner Hosentasche, am Schlüsselbund.
Ich kann besser schreiben, wenn ich nicht denke.
Ich kann nur schreiben, wenn ich nicht denke.
Ich kann nur schreiben, wenn ich denke.
Welcher Satz ist wahr? Wovon hängt seine jeweilige Wahrheit ab?
Es kann auch reichen und gut sein, so wie letztes Mal, dass jemand kommen KÖNNTE.
Jeden Moment.
Durch die Tür des Cafés.
Auch wenn jemand nicht kommt, bleibt doch das Könnte-Kommen entscheidend (wofür? Für die Wahrnehmung? Für die Buchstaben?) Womöglich sogar intensiver, „schöner“, „wahrer“, „echter“, als wenn einer tatsächlich durch die Tür kommt, denn dann zerstört er das Könnte-Kommen, lässt meine Ambivalenz gegenüber diesem Kommen, Dasein, gegenüber diesem Menschen offenbar werden, in meinem Erröten, in meinem unbeholfenen Handschlag zur Begrüßung.
Ich nehme auch das Staunen wahr, dass da schon wieder einer neben mir sitzt, von dem ich mich angezogen fühle, unfassbares Glück in der Tat!, so dass sogar meine Kinder, in diesen Momenten, in den Hintergrund rücken, deren Glück doch bis in alle Mutterewigkeit vor allem kommt, und doch lasse ich zu, nein, ich lasse nicht zu, es passiert einfach, dass ihre Präsenz in meinem Herzen, in meinem Gehirn vorübergehend beiseitegeschoben wird von einer immanenten Gegenwart, die mich fragen lässt, noch bevor ich das Wort hinschreibe, ob es tatsächlich das passende Adjektiv ist: immanent. Wirklich?
Ich nehme mir vor, ich tue es schon, und nehme es mir zugleich vor, neben mir sitzend und in mir seiend, diese Momente der Immanenz willkommen zu heißen, auszukosten, auch wenn Nähe nur ein Gerücht ist, oder eine Redensart. Das bläuliche Flimmern des benachbarten Schreibgeräts stört mich weniger, als dass dessen Besitzer sich in Kürze erheben wird, um mich meinen unentschiedenen, unverheirateten Phantasien in schwer lesbarer Tinte zu überlassen.
Es könnte Jahre so weitergehen oder plötzlich aufhören aus verschiedenen Gründen, und beides wird eintreffen. Ich wechsle die Tintenpatrone aus. Es gibt Abende, an denen kaum ein Wort entbehrlich ist, an denen ich mich schütze, indem ich mich nicht schütze. So entsteht viel freier Raum. Schreibraum.
Zum Abschied halte ich ihm die Hand hin, doch er ignoriert sie, sein blasses Gesicht wird rosa, kommt meinem näher, so dass es verschwimmt. Er beabsichtigt einen Bise-bise-Abschied wie unter Freunden, bei dem ich nie weiß, welche Seite zuerst, ein Angebot, das mich irritiert, denn wir kennen uns nicht! Verspricht, dass er meine Texte lesen wird, „jetzt habe ich endlich mehr Zeit“, die ich ihm vor einigen Tagen geschickt hatte, was mir in dem Moment völlig entfallen und gleichgültig war, was mir peinlich ist, was soll er mit jenen Texten, aus denen ich so peinlich ungeschützt spreche, ein harter und ein weicher Text, die nichts mit ihm zu tun haben außer der Tatsache, dass auch er Texte schreibt. (Andererseits bin ich froh, dass in den Texten nicht von Berührung zwischen Mann und Frau die Rede ist, dass sie ein ganz anderes "Thema" behandeln, weil sie ein Vorwand waren, oder sind, fadenscheinig, zur Kontaktaufnahme, eine für mich typische Aktion, wahrscheinlich auch ein Test, ich weiß nicht, warum ich so etwas immer wieder versuche: Jemandem näher kommen mit meinen Texten. Es funktioniert ja nicht, selbst wenn jemand meinen "Test" besteht, wofür ich gar keine Bewertungskriterien habe.)
Ich spüre seine unrasierte heiße Wange an meiner, frage mich unwillkürlich, ob ihm das Weiche gefällt oder das Harte, mache eine unfertige Geste, Arme hoch und runter, die ausdrücken soll, dass er mir in keiner Weise verpflichtet sich fühlen soll, bitte nicht!, um diese Leichtigkeit nicht zu zerstören, die nur dann erhalten bleibt, bilde ich mir ein, wenn die Schwere lauert, ohne dass wir ihr nachgeben. Ein Balance-Akt wie jede Zeile. Mit meinen Lippen bringe ich heute Abend nichts Vernünftiges mehr zustande.