Leia

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Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.11.2006, 13:23

Liebe Hörbar-Freunde. Anbei findet ihr - dank der großartigen technischen Unterstützung von Lisa - eine Hörversion von "Leia". Da ich das ganze Stück in einem Rutsch aufgenommen habe, kommen einige Fehlerchen vor. Insbesondere meine Spontanübersetzungen sind nur bedingt öffentlichkeitstauglich. Vor allem ist es schwer, verschiedene Stimmen für verschiedene Personen zu entwickeln. Nach dieser captatio benevolentiae folgt hier der Link:

Hörversion


Es war Sonntagabend. Und wie üblich saßen sie in ihrem Stammlokal. Arwen, die den regelmäßigen Termin brauchte, um nicht völlig in ihrer Arbeit zu versinken. Ihr Freund Marten, der fast nie sprach, aber dafür im richtigen Augenblick doch die passenden Worte fand. Die große, schlanke, ja fast dürre Carina, die mit oder ohne Brille jeden einzelnen ihrer wenig pflegeleichten Hauptschüler in Grund und Boden starren konnte, und Deborah, deren ganzes Gesicht, wie immer, ein einziges großes Lachen war, bei dem jeder, der sie anschaute, mitlachen musste. Auch Paul fehlte nicht. Er hatte seine Harry-Potter-Brille vor sich auf den Tisch gelegt, rieb sich die müden Augen und trank doppelt so schnell wie alle anderen aus seinem Bierglas.
„Na Paul“, fragte Carina, um ihn ein wenig aufzumuntern, „denkst Du schon wieder über die vielen Hefte nach, die du zu Hause liegen hast? Oder bist du einfach nur depressiv, weil du an die Stadt mit W denken musst, die keiner von uns mehr erwähnen darf?“
„Depressiv klingt so medizinisch. Als wäre ich krank. Wie wäre es denn, wenn du das Wort ‚traurig’ benutzen würdest? Dann käme ich mir so vor, als berücksichtigest du tatsächlich auch ein wenig meine Gefühle.“
„Oh“, konterte Carina, „der Herr Deutschlehrer spräche im Konjunktiv. Was würde wohl seine Frau Müller dazu sagen?“
„Dem Herrn sei’s geklagt“ seufzte Paul, „zumindest die Besuche von der Müller habe ich leidlich unbeschadet überstanden. Aber, um auf deine Frage zurückzukommen, nein, ich denke nicht an die W-Stadt. Vielmehr habe ich gerade an die C-Stadt gedacht.“
„Paul, wenn du biblisch wirst, bekomme ich immer ein wenig Sorge um dein Seelenheil“, lachte Deborah, die das natürlich gar nicht ernst meinte. „Wo liegt denn die C-Stadt?“
„Er meint Cork. Gleich fängt er wieder an uns eine von seinen Geschichten zu erzählen“, erklärte Arwen, bevor Paul ansetzen konnte. „Lasst uns schnell noch eine Runde bestellen, denn wenn er einmal anfängt, kann das länger dauern.“ Mit diesen Worten winkte sie in Richtung Theke. Mehr war nicht nötig.
„Ich könnte ja auch einfach schweigen“, erwiderte Paul beleidigt.
„Nein“, platze Marten hervor, „das kannst du ganz bestimmt nicht.“ Damit hatte er, ganz wie gewöhnlich, Recht.
Die blonde Kellnerin, bei der alles im Überfluss und an der richtigen Stelle vorhanden war, brachte die dritte Runde. Paul wartete, bis sie die Bierhumpen abgestellt hatte. Dann schaute er ihr betrübt nach, wie sie zurück zur Theke stolzierte. Schließlich seufzte er, schob sich seine Brille auf die Nase und begann zu erzählen:
„In Cork war ich tatsächlich glücklich. Woran das gelegen hat, kann ich jetzt gar nicht mehr so genau sagen. Es lag aber sicher auch an Irland. Gleich wenn man auf dieser Insel landet, bemerkt man den Unterschied. Die Farben sind anders. Das grün strahlt in vierzig verschiedenen Schattierungen und der Himmel ist nie blau oder grau, er ist alles auf einmal. Wenn es auf der einen Straßenseite regnet, dann scheint oft auf der anderen Seite die Sonne.
Außerdem sind die Iren ganz anders, als beispielsweise die Leute hier in P. Sie sind offen und freundlich. Ein Fremder ist ein Freund, den du nur noch nie getroffen hast. Das ist ein irisches Sprichwort und die Iren handeln tatsächlich so.
Ich werde nie meinen ersten Tag am University College vergessen. Ganz verwirrt fragte ich einen Sicherheitsmann, der hinter einem Schalter in einem der altehrwürdigen Uni-Gebäude saß, wo denn das O’Rahilly-Gebäude sei. In Bochum hätte ich erwartet, dass er mir empfehlen würde, den Plan zu benutzen. Er aber stand lächelnd auf, kam hinter seinem Schalter hervor, berührte mich freundlich an der Schulter und geleitete mich in die richtige Richtung. Dabei erkundigte er sich, wo ich denn herkäme, was mich in sein Land verschlagen hätte und ob ich denn auch Irisch lernen würde, was ich natürlich bejahte. Als wir, nach einem angenehmen Spaziergang über den schönen Campus beim richtigen Gebäude angekommen waren, entschuldigte er sich, dafür, dass der Weg so lang gewesen sei und wünschte mir viel Glück.
So waren die Iren. Aber noch viel besser waren all die internationalen Studenten, allen voran meine Mitbewohner. Die erste Besetzung meiner WG bestand aus Andrew Séan, einem katholischen Barrister-Sohn aus Belfast, der sich in unserem gemeinsamen Jahr zu einem echten Frauenhelden entwickelte, Adriano, einem schönen Italiener aus Neapel, dessen perfekten Hintern ich zahlreiche Besucher irischer Kommilitoninnen verdankte, und schließlich Robert. Robert kam aus der Bretagne. Er war Anfang zwanzig, klein, untersetzt und ein wenig vierschrötig. Aber wenn er Englisch sprach, wusste man, warum die Iren sich so gern über die Franzosen lustig machten. Roberts Leben bestand vornehmlich aus drei Dingen: er rauchte Zigaretten, trank unendlich viel Guinness und er spielte Chansons auf seiner Gitarre. „Kennst du Georges Brassens“, sagte er mindestens dreimal am Tag zu mir. „Ich liebe Geroges Brassens. Er kommt aus der Bretagne, so wie ich. Ich bin kein Franzose. Ich liebe die Bretagne. Die Bretagne ist nicht Frankreich. Wir sind Kelten, so wie die Iren. Und ich liebe Guinness.“ Dann spielte er eines seiner drei Lieder, drehte sich eine Zigarette und öffnete ein Dosenbier. Meistens kam ich ganz gut mit ihm aus, denn er lieh mir seine Gitarre, drehte mir gelegentlich eine Zigarette und schenkte mir mehr als einmal noch ein Bier ein, wenn ich auf dem Trocknen stand.
Fragte man ihn, was er denn studiere, sagte er immer: „I study love.“ Es hat lange gedauert, bis ich herausfand, dass er „law“ meinte. Aber als echter Franzose, Bretone oder was auch immer, war es ihm schlicht nicht möglich das Wort richtig zu betonen. In den ersten Monaten, versuchte ich noch, ihm die richtige Aussprache beizubringen. Bald musste ich das jedoch aufgeben. Er sah mich nur noch als den besserwisserischen Deutschen, der auch noch besser Gitarre spielen konnte als er.

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Doch dann, eines Abends, empfing mich Adriano mit besorgtem Blick in der Tür. Sein Englisch klang wie eine zauberhafte Melodie, der es nicht gelang, aus dem Korsett einer prosaischen Symphonie auszubrechen.
„Robert hat ein anderes Lied gelernt“, lachte er. „Ich glaube, es heißt Leia.“
Fröhlich öffneten wir die Wohnzimmertür, denn jede Veränderung an Robert war ein Grund zu feiern.
„Robert“, rief ich, „wir haben Wein gekauft und machen uns jetzt ein paar Spaghetti. Willst du auch was?“
Doch Robert schaute nur traurig zu uns herüber, sog gierig an seiner Zigarette und machte so ein französisches Geräusch, das irgendwie nach „boff“ klang und alles zwischen Lebensüberdruss und genereller Ablehnung bedeuten konnte.
Nach dem Essen setzte ich mich zu ihm, denn er kam mir doch ein wenig mitgenommen vor.
„Robert, ist alles in Ordnung?“
„Boff.“
„Was ist los, Mann?“
„Kennst du Leia?“, fragte er.
Ich nickte und verstand.
„Sie hat so schöne braune Augen. Sie ist die schönste Frau der Welt. Ich liebe sie.“
„Dann sag es ihr doch.“
„Boff.“

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Natürlich war mir Leia auch schon aufgefallen. Ein oder zweimal hatte ich sogar mit ihr gesprochen. Doch mir war sofort klar geworden, dass diese Frau gefährlich war. Gewiss, sie war schön wie ein katalanischer Traum: Ihre leicht gewellten braunen Haare, ihre schwarzen Augen, die ein Geheimnis versprachen, das nie verraten werden würde. Ihr langer Hals, der gar nicht enden wollte, um dann doch in einen kleinen, wohlproportionierten Körper überzugehen. Am eindrucksvollsten war jedoch ihre Stimme. Ein Wort von ihr und jeder Mann hätte sich sofort einer Untergrundbewegung zur Befreiung Kataloniens angeschlossen. Wenn sie dir nur einen guten Morgen wünschte, überkam dich ein Gefühl, als hätte sich Himmel und Hölle vereinigt, um dich zu verführen, nur um gleich das Tor zum Glück wieder direkt vor deiner Nase zuzuschlagen.
Ich hatte mir sofort verboten, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ihr nachzulaufen. Irland war auch so ein Traum und es gab genug andere Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringen konnte.
So vergingen die Wochen und Monate. Robert saß auf dem Sofa und spielte nur noch ein einziges Lied. Andrew Séan zog in Erwägung, die IRA auf ihn anzusetzen, da ihm diese Monotonie gehörig auf die Nerven ging und die irischen Kommilitoninnen kamen zu dritt oder manchmal auch zu fünft, um Adriano auf den Hintern zu gucken, wenn er für uns Nudeln kochte.
Alle paar Wochen, etwa wenn wir alle abends im International Students’ Pub unser Guinness tranken, stand plötzlich Leia neben mir und fragte mich etwas. Nie verschwendete sie einen Gedanken daran, mich zu begrüßen oder mich auch nur zu fragen, wie es mir ging. Sie kam direkt zur Sache und stellte eine ihrer merkwürdigen Fragen. Dabei klang ihr Englisch auf positive Weise kriminell, erinnerte an ein terroristisches Schnellfeuergewehr, das im Kampf für die richtige Sache abgefeuert wurde. Im November fragte sie, ob ich wüsste, dass mein zweiter Vorname auf Katalanisch so viel bedeutete wie „kleines Kätzchen“. Einen Monat später schaute sie mich an und sagte: „Du wirst sie nicht treffen, wenn du nach Hause fliegst. Dieses Jahr nicht.“ Woher sie wusste, dass ich gerade an meine Ex-Freundin Melanie gedacht hatte, war nicht herauszubekommen. Aber wenn sie mich mit ihren Augen anschaute, die ein Geheimnis versprachen, das nicht zu lösen sein würde, dann musste ich ihr alles erzählen, was ich gerade fühlte. Nach fünf oder zehn Minuten drehte sie sich jedoch abrupt um und ging hinüber zu einer Gruppe amerikanischer Medizinstudenten, die ich nicht leiden konnte.
Im Januar, ich hatte Melanie über Weihnachten tatsächlich nicht erreichen können, trafen wir uns nachts auf der Western Road. Ohne mich zu begrüßen, erzählte sie mir von der schweren psychischen Krankheit ihrer Schwester. Am College verließen wir die laute Straße und liefen an der Gate Lodge vorbei in den Park, der parallel der Straße und des kleinen Flüsschens Lee verlief. Nachts, im hellen Licht des Vollmondes konnte man jeden Augenblick mit einer Elfe rechnen. Der Weg glänzte vor uns, schien in magisches Licht gehüllt zu sein. Kaum hatten wir die Gaol Gate überquert und die Apartment-Anlage erreicht, ließ sie mich grußlos stehen. Ich kochte innerlich, als ich in unserer Wohnung den völlig besoffenen Robert auf dem Sofa fand. Immer wieder lallte er seinen Liedtext vor sich her. Vor ihm auf dem Tisch türmten sich die leeren Dosen. Seit einiger Zeit hatte er das Studieren völlig aufgegeben. Er drehte jetzt Burger in einem Fast Food Restaurant, um sich sein Guinness leisten zu können.
„Robert“, sagte ich, „diese Frau ist schön wie der Teufel. Aber sie spinnt. Sie ist verrückt. Schlag sie dir aus dem Kopf.“

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Dann, über Ostern, besuchte mich Mirjam. Wir liehen uns ein Auto und fuhren die Westküste entlang bis hoch nach Donegal. Nie hatte ich sie so geliebt wie in diesen Tagen. Die Welt drehte sich nur um uns. Nachts schliefen wir in kleinen Hostels und liebten uns, als könnten wir in neun Nächten alles nachholen, was wir in den Monaten unserer Trennung verpasst hatten, und tags kletterten wir auf Pfaden an den Steilküsten entlang, betäubt von der unablässigen Wut, mit der der Atlantik sich immer wieder gegen die kleine Insel warf. Am Abend vor Mirjams Abflug begegnete uns Leia. Wir liefen gerade an der Beamish Brauerei vorbei, als sich plötzlich eine Gruppe von Kanadiern ans uns vorbeidrängte. Sie studierten alle Jura, soviel wusste ich. Zwischen ihnen entdeckte ich Leia. Nur durch ein kurzes Nicken nahm sie Kenntnis von mir, aber dann begegnete ihr Blick für einen Sekundenbruchteil dem von Mirjam.
In dieser Nacht erlebte ich, zu welcher höllischen Eifersucht Mirjam fähig war. Erst gegen Morgen hatte sie sich wieder beruhigt.
Nachdem ich sie zum Flughafen gebracht hatte, empfing mich Adriano mit einer Flasche Wein in der Tür. Mitleidig blickte er in mein übermüdetes Gesicht.
„Früher dachte ich, italienische Frauen seien leidenschaftlich, Paul. Jetzt weiß ich, dass ich nur noch nie eine Deutsche geliebt habe.“

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„Hast du Mirjam etwa betrogen? Liegst du uns die ganze Zeit davon in den Ohren, wie schlimm sie zu dir war, nur um dann, ganz nebenbei zu erzählen, dass du in Irland eine Affäre hattest“, unterbrach Carina Paul unsanft in seiner Erzählung.
„Carina, das ist eine andere Geschichte. Wer weiß, ob es stimmt. Aber es könnte doch so gewesen sein.“
Deborah lachte fröhlich und intervenierte, bevor es zu einem Streit hätte kommen können. „Lasst uns noch eine Runde trinken. Ich will wissen, was aus dem armen Robert geworden ist. Außerdem finde ich es sehr beeindruckend, wenn du Englisch mit französischem Akzent nachmachst, Paul.“

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Nun, an Roberts Verhalten änderte sich nicht viel. Er zog sich immer weiter zurück, bis er nur noch von seinem Fast Food Restaurant in die Kneipe ging, um dann bei uns zu schlafen. Seine Trauermelodie hörte ich fast nie, es sei denn ich machte mir in der Mittagspause schnell ein paar Bohnen in Tomatensoße warm. Dann war er gerade aufgestanden, rauchte seine erste Zigarette und spielte das Lied von Leia und ihren schönen Augen. Die Wochen verstrichen im angenehmen Takt gleichmäßiger Wiederholung. Morgens stand man früh auf, ging zur Uni, besuchte ein paar Kurse, aß in der vortrefflichen Mensa, um dann ein erstes Bier im College Pub zu nehmen. Danach ging man in die nachmittäglichen Vorlesungen und Veranstaltungen oder in die Boole Library, um zu lesen oder zu schlafen. Abends aßen wir in der WG Nudeln mit Tomatensoße, unterhielten uns bis um neun und gingen schließlich in einen der zahlreichen Pubs der Stadt. Mittwochs trafen sich die internationalen Studenten abends im College Pub und donnerstags, freitags oder samstags konnte man in eine der zahlreichen Diskos gehen, von denen ich euch viel erzählen könnte. Halten wir fest, dass die irischen Studentinnen sich ihre Männer aussuchten, indem sie diese beim Tanzen einfach küssten. Danach ließen sie sich nach Hause bringen. Was dann geschah, wusste ich nicht, denn so weit kam es bei mir nie. Ich liebte Mirjam.
Als wir die letzten Seminarprüfungen hinter uns gebracht hatten, verabredeten wir uns an einem Donnerstag für einen perfekten irischen Abend. Wir, das waren Adriano, Andrew Séan, zwei deutsche Freundinnen, Claudia und Stefanie, und ich. Der perfekte Abend bestand aus einem gemeinsamen Abendessen in unserer WG, weil Claudia und Stefanie so eine freie Sicht auf Adriano hatten, der ganz darin aufging, die Spaghetti vorzubereiten. Andre Séan holte eine große Flasche Single Malt aus seinem Zimmer. Damit konnten wir sogar Robert für einen Augenblick aus seiner Trance lösen. In letzter Zeit sprach er fast gar nicht mehr mit uns. Zwei Whiskeys führten jedoch dazu, dass er uns über das Talent von Zinedine Zidane aufklärte.
„Er ist großartig. Aber er ist kein Franzose. So wie ich aus der Bretagne komme, so kommt er aus Marokko.“
Ob das stimmte, war uns egal. Viel wichtiger war unser gemeinsames Essen. Es konnte uns auch kaum trüben, dass Robert zu Hause bleiben wollte.
„Ich fühle, dass ich sie heute treffen würde“, sagte er. Keiner machte den Versuch, ihn zum Mitkommen zu überreden.
Über die nächsten drei Stunden im Pub lässt sich nichts sagen, außer vielleicht, dass jeder von uns sechs Pints trank, bevor Adriano auf die Idee kam, die Sache mit dem einen oder anderen Tequila abzurunden. Ich protestierte vergeblich. Denn Stefanie, eine Bochumer Studentin aus Waltrop, hatte schon bestellt, bevor ich überhaupt zum Kern meiner Argumentation vorgedrungen war. So nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Andrew Séan machte sich zu einer seiner Freundinnen auf. Wir anderen beschlossen, noch in eine besonders heruntergekommene Disko zu gehen. Angeblich gab es dort sogar Haschisch. Eine Droge, die für Iren den Gipfel an Verbotenem darstellte und direkt mit Heroin und Koks auf der höchsten Stufe verwerflicher Suchtmittel angesiedelt war. Keines dieser Mittel hätte ich gebraucht, denn als ich die Türsteher passierte hatte und die enge Treppe nach oben wankte, setzte die Wirkung des Tequilas ein. Ich weiß nicht, ob ihr das kennt? Tequila braucht immer eine Weile, bis er wirkt. Dann aber fühlt man sich, als wäre man gerade von einer Straßenbahn überrollt worden.

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Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem fremden Bett. Neben mir erkannte ich, kurz bevor ich im Sturmschritt zum Badezimmer lief, einen braunen Haarschopf, der nur zu einer Frau gehören konnte. Erst auf dem Flur bemerkte ich, dass ich gar nicht wusste, wo das Badezimmer war. Ich versuchte verschiedene Türen und hatte, nachdem ich eine freundliche Mitbewohnerin samt Freund geweckt hatte, erst bei der Dritten Erfolg. Im Badezimmer war meine Hauptsorge, nicht so viel Lärm zu machen. Der stechende Schmerz in meinem Kopf war nicht das schlimmste. Mein völlig überforderter Magendarmtrakt bewegt sich, wie ein irisches Schnellboot an einem Oktobermorgen auf dem Weg zu den Aaran Islands.
Während ich zusammengesunken auf dem Klo saß und mich über meine dürren und bleichen Beine wunderte, fielen mir einige Erinnerungsbrocken des letzten Abends ein. Wie genau ich zu Leia gekommen war, konnte ich nicht rekonstruieren, aber als ich auf ihrem Bett saß, war mir die Reihe von Fotos aufgefallen, die sie über dem Kopfende an die Wand geklebt hatte. Es waren Porträts von jungen Studenten, die mit uns ihr Auslandsjahr begonnen hatten. Besonders fiel mir ein schwarzer Kanadier auf, der bei einem Kostümball als Julius Cäsar gegangen war. Ein Bild von einem Mann. Groß, schlank, athletisch und gebildet. Später war er mit einer deutschen Studentin ausgegangen. Ein Paar wie Seal und Heidi Klum. Auch die anderen Typen auf den Bildern kannte ich. Es waren Franzosen, Amerikaner, Iren, Deutsche, Spanier, Italiener. Zwei Reihen von Bildern. Nur in der letzten Reihe fehlte noch ein Bild.
„Da gehöre ich wohl hin“, muss ich gesagt haben.
Ein zweiter Erinnerungsbrocken kam mir noch merkwürdiger vor. Als wir uns das erste Mal geliebt hatten, begann sie, mir die Geschichte von ihrem Vater zu erzählen, der im Rollstuhl saß. Er habe vergeblich versucht, sich das Leben zu nehmen. Statt sich zu töten, hatte er sich zum Krüppel geschossen. Jetzt säße er tagaus und tagein vor dem Haus oder in der Küche und klage über sein Schicksal. Als ich verstanden hatte, was sie mir erzählte, brach ich in lautes Gelächter aus. Die Geschichte war einfach zu absurd. Ob sie deshalb wütend auf mich war, vermochte ich nicht zu sagen.

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„Ja und was ist dann passiert“, wollte Carina wissen, die sich vor Neugierde kaum auf dem Stuhl halten konnte.
„Was soll passiert sein?“
„Du willst doch wohl nicht behaupten, dass das die ganze Geschichte gewesen sein soll? Was ist aus Robert geworden?“
„Als ich am nächsten Tag gegen Mittag nach Hause kam, saß er schon im Wohnzimmer und rauchte seine selbstgedrehte Zigarette.
„Wie hast du die Nacht verbracht, Paul?“, fragte er, was mich ein wenig überraschte, da er sonst so wenig Anteil an meinem Schicksal genommen hatte.
Ich wollte ausweichen, musste aber bei der Erinnerung an die Absurdität der Situation grinsen.“
„Du hast Leia flachgelegt“ sagte er im Ton eines Staatsanwaltes zu mir.
„So kann man das nicht sagen“, entgegnete ich.
„Du hast sie gevögelt“, legte er nach.
„Nein, eher hat sie, ich weiß auch nicht genau...“
„Es war vergeblich. Robert ist dann noch am selben Tag ausgezogen. War wohl auch besser so. Er wechselte in ein Studentenwohnheim, in dem es nur Amerikaner und Franzosen gab. Die haben sich einfach besser verstanden.“
„Und Leia? Hast du sie wiedergesehen?“
„Einmal kam sie noch vorbei. Ein paar Tage später. Sie wollte mit mir spazieren gehen. Schließlich sind wir den ganzen Tag unterwegs gewesen. Ununterbrochen haben wir miteinander gesprochen. Dabei war ich mir fast sicher, dass wir nichts von dem verstanden haben, was wir uns sagten. Am Abend saßen wir an einem Ententeich, den die Menschen in Cork ironisch ihren „Loch“ nennen. Von einem See kann wirklich nicht die Rede sein. Leia machte ein Foto von mir. Dann brachte sie mich nach Hause und erklärte mir, dass sie am nächsten Tag nach Spanien zurückfliegen würde. Ich wünschte ihr viel Glück. Am nächsten Morgen fand ich im Briefkasten noch einen Brief. Ein sehr netter Brief. Wer hätte je so über meine Augen geschwärmt. Außerdem hatte sie noch ein Zitat aus Alice in Wonderland beigefügt. Es geht ungefähr so: „We may not know, where we are going, but we’ll sure get there one day.”
Daran musste ich vorhin denken. Ich glaube fast, sie hat gewusst, dass ich eines Tages hier in der P-Stadt enden würde.“

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„Von einem Ende kann keine Rede sein“, lachte Deborah laut auf. „Jetzt geht es erst richtig los. Lass uns noch eine Runde bestellen. Und komm ja nicht auf die Idee, uns noch so eine Geschichte zu erzählen.“

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.11.2006, 14:21

Hallo Paul,

ich habe gerade mit Genuss deiner Story gelauscht:-)
Klasse, wie du das englisch mit französischem Akzent gesprochen hast!
Und auch die Stimmenwechsel sind dir gut gelungen:-)
Sehr schön hast du das gemacht. Wieder einmal fällt mir auf, dass du eine sehr angenehme Erzählstimme hast:-)
Saludos
Gabriella
P.S. Die kleinen "Fehlerchen" bei so einer langen Geschichte sind unerheblich;-)

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noel
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Beitragvon noel » 04.11.2006, 14:43

ola
nachdem sich mein lap
mit der hörversion abmühte
lass ich -neugierig-
an
& konnte nicht aufhören
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

arwen

Beitragvon arwen » 04.11.2006, 16:20

Hallo Paul,

:totlach: :totlach: :totlach:

Marten und ich haben grad in die Hörversion reinge"schnuppert".
Sie gefällt uns wesentlich besser, als den Text zu lesen :mrgreen:
Vielleicht auch aus Gewohnheit . . . :e020:

Gruß von den OWLs

P.S.: Vielleicht entwirfst du mal eine Version, bei der wir die Hörversion mitgestalten können?

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 04.11.2006, 16:57

Liebe Arwen,

ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns am Sonntag mal für ein Livegespräch in alter Runde treffen würden. Grüße an Marten.

Paul Ost

Max

Beitragvon Max » 04.11.2006, 20:56

Lieber Paul,

die Geschichte und Deine intensive Art sie zu lesen hat mich ganz in beschlag genommen - eine Lesung und eine Erzählung aus einem Guss - große Klasse.

Liebe Grüße
max

Trixie

Beitragvon Trixie » 05.11.2006, 20:18

Hallo Paul!

Nööö, ich kann eigentlich mich gar nicht beschweren über die englischen Übersetzungen. Wieso hast du sie nicht auch auf Englisch in den Text so geschrieben? Nein, also insgesamt konnte ich mich zurücklehnen, die Augen schließen und mich in die Kneipe dazudenken, während ich gespannt dieser wundervollen Geschichte gelauscht habe. Die Fehler sind wirklich unerheblich, im Gegenteil, da wird man sofort wieder in die live-Szene zurückgeworfen. Ich danke dir für die Mühen und fände es interessant, wenn Arwen und Co. vielleicht selbst ihren Teil sprächen. Doch so ist es auch sehr schön und große Klasse, meine ich. Ich mag deine Stimme sehr!

Begeisterte Greetings
Trixie

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 06.11.2006, 11:06

Liebe Trixie, lieber Max,

danke für das freundliche Lob. Die englischen Textteile habe ich deshalb Deutsch geschrieben, weil ich ein allgemeines Verständnis sichern wollte und (viel wichtiger), weil ich nicht in der Lage bin die typischen spanischen, italienischen, deutschen, irischen und französischen Akzente des Englischen zu verschriftlichen. Auch bei der Aussprache gibt es da Probleme.

Ich habe eine englische Hörversion von Zadie Smiths "White Teeth", gesprochen von Alex Jennings. Der kannt perfekt Akzente nachahmen. Aber dafür ist er auch Schauspieler am National Theatre.

Für mich ist das ein schweres Feld. Abgesehen natürlich von Robert, der mir verhältnismäßig leicht fällt.

Grüße

Paul Ost

arwen

Beitragvon arwen » 06.11.2006, 17:46

Hallo Paul,
gestern war wieder eine der Live-Versionen, die man aufheben sollte, schriftlich oder im Herzen bewahren . . .
Ich finde, dass die von dir gesprochene Version doch mehr Nuancen der Charaktere aufzeigt, als wir es persönlich vor dem Mikrofon preis geben könnten ;-)
Gruß, arwen

Gast

Beitragvon Gast » 10.11.2006, 02:07

Lieber Paul Ost,

gekonnt gelesen, wirklich, für einen derart langen Prosatext, Kompliment.
Merkwürdig wie sehr mich aber jetzt doch stört, dass die Erzählung selbst zwar lebensecht wirkt, aber nicht , dass dein Protagonist sie in dieser Form in der Kneipe seinen Berufskollegen oder Freunden erzählt. Es ist nicht glaubhaft, dass du die Erzählung am Stammtisch so abspulst wie du geschrieben und auch gelesen hast. Es fehlen eben doch viel häufiger die Einwürfe der Zuhörer, die Nachfragen etc... außerdem müssten mal Sätze nur angerissen sein, im Sande verlaufen... etc.
Bitte nicht falsch verstehn, geschrieben und gelesen ganz wunderbar.

Ich glaube, das dies schon Thema im Textbesprechungsfaden war.
Damals fand ich es nicht so wichtig.
Jetzt frage ich mich, ist denn diese Rahmenhandlung in der Kneipe so wichtig,?
Wozu dient sie? Sie transportiert nichts Wesentliches, was mit der Erzählung und mit dem Kern zu tun hat. Sie könnte wegfallen, und der Leser könnte auf direktem Weg als Zuhörer angesprochen werden.
Das gibt der ganzen wunderbaren Erzählung letztlich etwas "Automatisches", etwas zu Perfektes vielleicht, ich hoffe, du verstehst, was ich sagen möchte.

Liebe Grüße
Gerda

arwen

Beitragvon arwen » 10.11.2006, 19:02

Hallo Gerda,
aus eigener "Erfahrung" kann ich dir sagen, dass der Text eine Geschichte in einer Geschichte darstellen soll (korrigier mich, Paul, wenn ich daneben liege). Und da gehört es zur Freiheit des Autors, dass er seine Zuhörer mit einer Erzählung "berieselt" . . . ;-)
Ich mag die Erzählung auf zwei Ebenen; solche Sprünge gibt es auch in vielen Romanen.
Liebe Grüße,
arwen

Gast

Beitragvon Gast » 10.11.2006, 19:18

Danke, liebe arwen, ich will mal warten was Paul dazu meint, denn mir ist das was du schreibst natürlich bekannt, trifft aber nicht recht das, was ich meine.
Es geht nicht darum, dass man so etwas als Autor machen kann, sondern darum wie es gemacht (geschrieben) ist.

Liebe Grüße
Gerda

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 11.11.2006, 13:43

Liebe Gerda,

Quelle meiner Inspiration waren, wie so oft, E.T.A. Hoffmanns Serapionsbrüder. Ebenso hat mich die russische Literatur des 19. Jahrhunderts immer begeistert. Zwei Männer treffen sich auf einer Zugreise und der eine erzählt dem anderen eine Geschichte, die sich zu einem Roman ausweitet. Dabei wird der Rahmen nur selten gesprengt.

Ich bediene mich hier also einer erzählerischen Konvention. Denk nur mal an Storms Schimmelreiter und die verschiedenen Ebenen der Rahmenhandlung, die nur an wenigen Stellen die eigentliche Erzählung unterbrechen.

Die Anglisten sprechen im Zusammenhang mit der schönen Literatur immer von der "willing suspension of disbelief". Ohne diese geht es wohl nicht.

Grüße

Paul Ost

Gast

Beitragvon Gast » 11.11.2006, 15:11

Lieber Paul,
ja ich verstehe dich nun besser.
Dennoch, der Stammtisch in einer Kneipe ist sicher nicht als "Rahmenhandlung" vergleichbar mit einer Zugreise oder einem Spaziergang auf dem einer dem anderen erzählt.
Hier ist ja eine Gruppe um den Erzähler versammelt, und ich denke wenn es z. B. das Wohnzimmer des Erzählers wäre, in dem er eben die Geschichte in der Geschichte erzählt, dann würde die Glaubwürdigkeit unterstrichen. Auch die doch durchgängige gelassenen Form der Erzählung würde sich vor diesem Hintergrund homogener einfügen...
Vielleicht liegt es auch einfach an meiner subjektiven Betrachtung, dieser Kneipensituation, in der für mich keine ruhige (Erzähl)stimmung aufkommen kann... Ich kenne keine Kneipe, in der ein Erzähler in der Lage ist in Gesellschaft , vor den Hintergrundgeräuschen ohne nennenswerte Störung, seine Geschichte zum Besten zu geben, mich stört halt dieser "Kneipenrahmen".
Aber letztlich wirst du ja wissen, warum du es so, und nicht anders haben willst.
Ich hoffe, du spürst, dass meine kontrovers hervorgebrachte Kritik dem Interesse an der deiner Erzählung gilt, und nicht weil ich herumkritteln will. ;-)
Liebe Grüße
Gerda


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