5 Minuten und 4 Sekunden
Verfasst: 26.03.2007, 13:36
Hörversion
1. Minute
Kalt ist es hier. Stürmisch.
Wie der Wind um die Turmspitze pfeift. Eigentlich ist es mehr ein Singen.
Seit Ewigkeiten bläst er durch die Turmluken und brachte damit vermutlich Generationen von Glöcknern zur Raserei.
Heutzutage wird sie ja wohl elektronisch geläutet. Schön ist sie. Ob sie geläutet werden wird, danach?
Wohl kaum. So etwas wird nicht an die große Glocke gehängt – wie man so sagt.
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es hier so kühl und frisch ist. Eine Wohltat ...
Und es sind nicht mehr als einhundertdreißig Meter, die mich von da unten trennen ... einhundertdreißig Meter zwischen mir und der bleiernen Schwüle.
Seit Wochen diese Glut über der Stadt. Nicht der leiseste Hauch durchbricht das grausame Flirren. Der Asphalt klebt wie halbgeschmolzener Gummi an den Schuhen – die Hitze durchdringt die Sohlen, bis man meint, über einen Hochofen zu wandeln. Die ganze Stadt ist jetzt eine Esse. Wo ist der Schmied?
Aber hier ist eine andere Welt, ungestüm zerrt der Wind an meinem Kleid, er singt: Komm, so komm doch ... und die klitzekleinen Ameisen da unten schleppen sich schwitzend über den Domplatz, ahnungslos und erschöpft.
2. Minute
Ich bin auch erschöpft.
Das heißt, meine Geduld ist erschöpft ...
Es ist wirklich mehr ein Singen, wie ein kleines Lied ... dieser Schrei!
Ich kann nicht vergessen, wie sie geschrieen hat, er hat sie am Nackenfell gepackt und aus dem Fenster ... einfach so –
Als ich dann weinte, begann er ein Bücherregal nach dem anderen umzukippen. Systematisch, mit dem harten Lächeln auf den Lippen, bis das Zimmer aussah wie kurz vor der Bücherverbrennung. Dann ist er ausgegangen.
Schließlich war er es, der am meisten um die Katze trauerte. Er hat dann zugeschlagen, immer wieder. Er sagte, ich sei schuld, ich hätte ihn wütend gemacht.
Komisch sehen sie alle aus, aus dieser Perspektive. Wie wichtig sie sich nehmen, wenn sie über den weichen Asphalt stolpern, in ihren Miniaturschühchen.
Ich werde meine Schuhe nicht mitnehmen. Sie sind so schön. Wie viele Monate waren es doch, in denen ich ängstlich und heimlich kleine Beträge vom Haushaltsgeld abgezweigt habe, um sie mir leisten zu können?
Vier oder fünf, glaube ich und als ich sie endlich hatte, so lange haben sie mich durch das Schaufenster angeblinkt in ihrem leuchtenden Rot, konnte ich sie nicht tragen. Er durfte doch nicht wissen ... jetzt trage ich sie eben heute, zum ersten und zum ...
Ach, ich werde sie hier stehen lassen, vielleicht hat jemand Freude daran, eigentlich sind sie ja ungetragen.
3. Minute
Der freie Fall ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung.
Wie ein hungriger Wolf streift der Wind um mich herum. Er hat meine Haut gekühlt, da ist nichts mehr von der klebrigen Hitze.
Der freie Fall ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung.
Himmel, diese Glocke dröhnt! Gut, dass ich mir ein Uhr mittags ausgesucht habe. Der ganze alte Turm zittert. Der Ton vibriert in mir, als wollte er mich zerreißen.
In zwei Minuten werden sie die Aussichtsplattform verlassen, um die Turmstube zu besichtigen. Dann bin ich für knappe drei Sekunden allein, ehe die nächste Reisegruppe herausklettert.
Ich habe also noch zwei Minuten bis zum Sprung.
Sie werden in den Lift steigen, in die nervenaufreibende Schwüle abwärts fahren. Aber ich, ich habe es kühl und luftig, wenigstens ein Gutes an der Sache.
4. Minute
Die Sonne verbirgt sich hinter dem Schleier der Dunstglocke.
Der Wind liebkost meine Schenkel, er fährt wie ein dreister Bursche zwischen meine Beine, streichelt meinen Bauch ...
Zu blöd, vielleicht hätte ich mir einen Geliebten suchen sollen. Ich bin noch nicht zu alt dazu ... ich wäre so gern geliebt worden, richtig geliebt! meine ich.
Als gleichwertiger Partner, meine ich.
Der freie Fall ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung!
Sagt Galilei.
Angeblich wird man sofort bewusstlos. Es ist der Schock. Man spürt nichts. Wie fragil doch der Körper ist, in Nullkommanichts vom Leben zum Tod ...
Es duftet hier oben, mein stürmischer Geliebter wirft mir unsichtbare Rosen zu.
Ich hätte gern einen kleinen Garten gehabt. Nur ein Blumenbeet, vielleicht einen Apfelbaum, nein, Kirschen. So ein Frühlingstag ... und ich im Liegestuhl unter dem blühenden Kirschbaum, lautlos wie Schnee tanzen bei jedem Lufthauch süß duftenden Blüten in meinen Schoß.
Das habe ich mir immer gewünscht ... hat nicht geklappt. Er hasst Grünes.
5. Minute
Wenn ich meine schönen Schuhe hier stehen lasse, wird es wie ein Unfall aussehen. So einfach ist das. Ich habe die Schuhe ausgezogen und bin von den glatten Steinen abgerutscht ...
Sie war schon immer so unachtsam, werden sie sagen.
Der Satz ... wie ging das doch noch?
Die Bewegung des Falls ... nein ... die Beschleunigung der Bewegung –
Ich kann es nicht mehr! Aber ich brauche den Satz Galileis! Ohne ihn geht es nicht!!!
Noch einmal: Die Bewegung beschleunigt die Freiheit ... nein!
Die freie Bewegung verhindert den beschleunigten Fall?
Noch einmal: Bewegung in Freiheit beschleunigt ...
Noch einmal: Veränderung der Gleichmäßigkeit macht frei!
4. Sekunde
Aber - was? Warum ich meine Schuhe ausgezogen habe? Nun ich ... ich freue mich so über die kühlen Steine.
Ja, ja, Herr Kirchturmführer, sagt man so zu Ihnen? Ja, ich gebe acht, dass der Wind sie nicht hinunterbläst.
Sehen Sie, ich zieh sie wieder an. Sie wären in Nullkommanichts kaputt.
Das wäre furchtbar schade ...
(c)ELsa Rieger
1. Minute
Kalt ist es hier. Stürmisch.
Wie der Wind um die Turmspitze pfeift. Eigentlich ist es mehr ein Singen.
Seit Ewigkeiten bläst er durch die Turmluken und brachte damit vermutlich Generationen von Glöcknern zur Raserei.
Heutzutage wird sie ja wohl elektronisch geläutet. Schön ist sie. Ob sie geläutet werden wird, danach?
Wohl kaum. So etwas wird nicht an die große Glocke gehängt – wie man so sagt.
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es hier so kühl und frisch ist. Eine Wohltat ...
Und es sind nicht mehr als einhundertdreißig Meter, die mich von da unten trennen ... einhundertdreißig Meter zwischen mir und der bleiernen Schwüle.
Seit Wochen diese Glut über der Stadt. Nicht der leiseste Hauch durchbricht das grausame Flirren. Der Asphalt klebt wie halbgeschmolzener Gummi an den Schuhen – die Hitze durchdringt die Sohlen, bis man meint, über einen Hochofen zu wandeln. Die ganze Stadt ist jetzt eine Esse. Wo ist der Schmied?
Aber hier ist eine andere Welt, ungestüm zerrt der Wind an meinem Kleid, er singt: Komm, so komm doch ... und die klitzekleinen Ameisen da unten schleppen sich schwitzend über den Domplatz, ahnungslos und erschöpft.
2. Minute
Ich bin auch erschöpft.
Das heißt, meine Geduld ist erschöpft ...
Es ist wirklich mehr ein Singen, wie ein kleines Lied ... dieser Schrei!
Ich kann nicht vergessen, wie sie geschrieen hat, er hat sie am Nackenfell gepackt und aus dem Fenster ... einfach so –
Als ich dann weinte, begann er ein Bücherregal nach dem anderen umzukippen. Systematisch, mit dem harten Lächeln auf den Lippen, bis das Zimmer aussah wie kurz vor der Bücherverbrennung. Dann ist er ausgegangen.
Schließlich war er es, der am meisten um die Katze trauerte. Er hat dann zugeschlagen, immer wieder. Er sagte, ich sei schuld, ich hätte ihn wütend gemacht.
Komisch sehen sie alle aus, aus dieser Perspektive. Wie wichtig sie sich nehmen, wenn sie über den weichen Asphalt stolpern, in ihren Miniaturschühchen.
Ich werde meine Schuhe nicht mitnehmen. Sie sind so schön. Wie viele Monate waren es doch, in denen ich ängstlich und heimlich kleine Beträge vom Haushaltsgeld abgezweigt habe, um sie mir leisten zu können?
Vier oder fünf, glaube ich und als ich sie endlich hatte, so lange haben sie mich durch das Schaufenster angeblinkt in ihrem leuchtenden Rot, konnte ich sie nicht tragen. Er durfte doch nicht wissen ... jetzt trage ich sie eben heute, zum ersten und zum ...
Ach, ich werde sie hier stehen lassen, vielleicht hat jemand Freude daran, eigentlich sind sie ja ungetragen.
3. Minute
Der freie Fall ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung.
Wie ein hungriger Wolf streift der Wind um mich herum. Er hat meine Haut gekühlt, da ist nichts mehr von der klebrigen Hitze.
Der freie Fall ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung.
Himmel, diese Glocke dröhnt! Gut, dass ich mir ein Uhr mittags ausgesucht habe. Der ganze alte Turm zittert. Der Ton vibriert in mir, als wollte er mich zerreißen.
In zwei Minuten werden sie die Aussichtsplattform verlassen, um die Turmstube zu besichtigen. Dann bin ich für knappe drei Sekunden allein, ehe die nächste Reisegruppe herausklettert.
Ich habe also noch zwei Minuten bis zum Sprung.
Sie werden in den Lift steigen, in die nervenaufreibende Schwüle abwärts fahren. Aber ich, ich habe es kühl und luftig, wenigstens ein Gutes an der Sache.
4. Minute
Die Sonne verbirgt sich hinter dem Schleier der Dunstglocke.
Der Wind liebkost meine Schenkel, er fährt wie ein dreister Bursche zwischen meine Beine, streichelt meinen Bauch ...
Zu blöd, vielleicht hätte ich mir einen Geliebten suchen sollen. Ich bin noch nicht zu alt dazu ... ich wäre so gern geliebt worden, richtig geliebt! meine ich.
Als gleichwertiger Partner, meine ich.
Der freie Fall ist eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung!
Sagt Galilei.
Angeblich wird man sofort bewusstlos. Es ist der Schock. Man spürt nichts. Wie fragil doch der Körper ist, in Nullkommanichts vom Leben zum Tod ...
Es duftet hier oben, mein stürmischer Geliebter wirft mir unsichtbare Rosen zu.
Ich hätte gern einen kleinen Garten gehabt. Nur ein Blumenbeet, vielleicht einen Apfelbaum, nein, Kirschen. So ein Frühlingstag ... und ich im Liegestuhl unter dem blühenden Kirschbaum, lautlos wie Schnee tanzen bei jedem Lufthauch süß duftenden Blüten in meinen Schoß.
Das habe ich mir immer gewünscht ... hat nicht geklappt. Er hasst Grünes.
5. Minute
Wenn ich meine schönen Schuhe hier stehen lasse, wird es wie ein Unfall aussehen. So einfach ist das. Ich habe die Schuhe ausgezogen und bin von den glatten Steinen abgerutscht ...
Sie war schon immer so unachtsam, werden sie sagen.
Der Satz ... wie ging das doch noch?
Die Bewegung des Falls ... nein ... die Beschleunigung der Bewegung –
Ich kann es nicht mehr! Aber ich brauche den Satz Galileis! Ohne ihn geht es nicht!!!
Noch einmal: Die Bewegung beschleunigt die Freiheit ... nein!
Die freie Bewegung verhindert den beschleunigten Fall?
Noch einmal: Bewegung in Freiheit beschleunigt ...
Noch einmal: Veränderung der Gleichmäßigkeit macht frei!
4. Sekunde
Aber - was? Warum ich meine Schuhe ausgezogen habe? Nun ich ... ich freue mich so über die kühlen Steine.
Ja, ja, Herr Kirchturmführer, sagt man so zu Ihnen? Ja, ich gebe acht, dass der Wind sie nicht hinunterbläst.
Sehen Sie, ich zieh sie wieder an. Sie wären in Nullkommanichts kaputt.
Das wäre furchtbar schade ...
(c)ELsa Rieger