Bisherige Beiträge (Phileas zog vom Forum ins freie Web und nun wieder hierher, daher sind die ersten Beiträge von der Administration gelistet)[Tagebucheintrag 1]Autor: Lisa
Obwohl es in Strömen regnet, habe ich beschlossen heute auszuziehen. Zunächst aus meiner Wohnung. Wohin? Ich weiß es nicht. Ausziehen aus einer Wohnung ist vielleicht nicht ganz so gut wie selbst von einer Frau ausgezogen werden, das gebe ich zu und trotzdem: Es hat was, man verlässt und erreicht zugleich. Anders als ein Umzug. Da hat man viel zu viel zu tun und nachher sieht es doch nur wieder aus wie vorher, nur halt etwas sauberer und weniger staubig, weil man ja selbst auch nicht jemand anders ist als in der alten Wohnung. Ne ne, ich muss einfach nur den Schlüssel im Schloss umdrehen und schon ist gut mit dem alten Abwasch und all dem herumliegenden Zeug. Ich gebe schon zu, seit Nina „mich verlassen hat“ um das mal ganz allgemein auszudrücken, lag mit der Zeit eine immer größere Menge dieses Zeugs herum. Können Frauen eigentlich Zeug besitzen?
Was ich mitnehme, habe ich die letzten Tage überlegt. Eigentlich gar nicht, weil mir so viele Dinge eingefallen sind, die ich bei mir haben möchte, sondern eher, weil sich diese Frage automatisch aufdrängt, wenn man sich selbst als jemanden betrachtet, der weggeht. Man stellt sich die Frage einfach, weil sie einem jeder stellen würde, dem man von seinem Ausziehen erzählen würde. Ich meine dies beweist schon alleine die Tatsache, was alles so in eine Frauenhandtasche reinpasst. Wenn ich da an Ninas denke, unglaublich, alles drin, hätte sie einen Amboss gebraucht, hätte sie ihn dabeigehabt. Aber, ach, an Nina wollte ich doch erst mal nicht mehr denken. Habe ich meinem Hirn verboten, weil es dem Herz eh nicht helfen kann. Somit ist wohl konsequent betrachtet auch das Denken an ihre Handtasche tabu. Also zurück zu eben: Mir ist bis jetzt nichts eigentliches eingefallen, das ich unbedingt mitnehmen müsste. Unterhosen und so was, klar. Und das Buch hier samt Stift zum Aufschreiben. Personalausweis, gut, den nehme ich auch mit, den zuhause zu lassen, ne, so cool bin ich dann auch wieder nicht.
Ich frage mich, ob es in der Sprache der Nomaden das Wort Zuhause gibt?
Außer meinem alten Freund Linus habe ich jedenfalls keinem was gesagt. Der „wohnt“ jetzt erst mal in meiner Wohnung, anders will ich das mal jetzt nicht formulieren. Drauf Aufpassen deckt sich einfach nicht mit meinen Vorstellungen. Was nicht heißen soll, dass ich Linus für keinen guten Freund halte.
Na gut, dann will ich mal. Wohnungstür ist zugezogen, Schlüssel bei Linus, ab die Treppen runter. Wie oft habe ich diese vierzehn Stufen des Treppenhauses schon gezählt. Ob jemand anders weiß, dass es vierzehn Stufen sind? Ob schon mal einer drauf geachtet hat? Und ob ich von Wissen sprechen darf, falls es keiner weiß? Ich zähle immer wieder mal nach, ob ich mich auch nicht getäuscht habe. Mal sehen, ob ich noch mal an die Treppenstufen denken werde. Haustür auf und los geht’s [...]
[Tagebucheintrag 2]Autor: Max
Also gehe ich los. Aber losgehen, ist eine Sache, ein Ziel zu haben eine andere. Wohin also gehe ich? Immer der Nase nach, schön, aber das ist dann doch ein bisschen zu allgemein. Und so reift ein Entschluss (und wieder denke ich an Nina, die immer meine Unentschlossenheit bemängelte): Ich will gehen, von hier, München, die Stadt lässt sich doch nicht verstecken, quer durch die Alpen, bis ich in Italien bin oder ein anderer Wunsch drängender wird.
Ich schultere meinen hellgrünen Armeerucksack und mache den ersten Schritt. Es regnet noch immer. Sei’s drum – das Wetter passt zu meiner Stimmung. Gleich an der ersten Kreuzung lauert eine Versuchung – der U-Bahnschacht. Aber wenn meine Reise einen Sinn und damit ein Ziel haben soll, dann kann dieses Ziel nur ich selbst sein. Ich beschließe, dass etwas derart Elementares nicht mit der U-Bahn erreichbar ist. An der dritten Kreuzung wende ich mich gen Süden. Bei Fön kann man von hier die Alpen sehen. Heute sieht man noch nicht einmal die Ampel am Ende der Straße. Meine Turnschuhe beginnen durchzunässen und ich bereue nicht die Bergschuhe angezogen zu haben. Linus wird sie sicher nicht brauchen. Aber ich kann jetzt nicht umkehren, so viel bin ich meiner Ehre schuldig. Trotzig stapfe ich weiter.
Als ich den Stadtrand erreiche, sind nicht nur meine Schuhe durchweicht. Die Kleider kleben mir am Körper. Von meinen Haaren fließt ein dünnes Rinnsal beständig meinen Rücken hinab. Die Farbe meines Rucksacks ist in ein sattes Dunkelgrün übergegangen. Ich vermute, dass sich auch darin keine trockene Kleidung mehr finden lässt. Wie zum Hohn wird der Regen noch eine Nuance stärker. Er kommt direkt aus Süden und schlägt mir ins Gesicht. Ich flüchte in ein Bushäuschen. Wie bestellt hält die Linie 328. Hätte ich mitfahren wollen, hätte ich sicher eine halbe Stunde gewartet. So gebe ich dem Fahrer ein Zeichen: Er kann weiterfahren. Eine Frau, die auch Unterschlupf gesucht hat, deutet die Geste falsch. Sie drückt mir 2 Euro in die Hand: „Kommen Sie, steigen sie ein!“
[Tagebucheintrag 3]Autor: Maija
So fahre ich nun mit dem Bus von Haltestelle zu Haltestelle. Ich will mich nur etwas aufwärmen und trocknen. Hunger bekomme ich plötzlich auch. Was muss ich Trottel auch ohne Essen abhauen. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Was war geschehen? Warum bin ich gleich abgehauen und ließ alles hinter mir. Ekel kommt mir hoch. Immer diese Bilder, die mir keine Ruhe gönnen.
Sie liebt mich nicht mehr! Wie konnte das geschehen? Vor ein paar Tagen hatten wir noch unsere gemeinsamen Träume. Was wollten wir nicht alles gemeinsam erleben?
Wozu mir jetzt noch darüber Gedanken machen! Immer dieser pochender Schmerz im Kopf. Außerdem diese stechenden Schmerzen im Herz. Sie machen mich müde. Ich muss mir etwas zum Essen beschaffen. Auch eine Tasse heißer Kaffee wäre nicht schlecht. Vielleicht denkt es sich so besser, als mit leeren Magen.
Plötzlich hält der Bus und der Fahrer ruft: „Alles aussteigen-, Endstadion!“
Ich steige aus dem Bus und nehme einen angenehmen Duft wahr der von der Straße her kommt. Es riecht nach Kaffee und frischen Backwaren. Der Hunger zieht mich in ein kleines Kaffeehaus hinein. In der Ecke steht ein kleiner runder Tisch. Ich sehe zwei Stühle und steuere gerade darauf zu. Eine etwas korpulente Dame sagt: „Sie wünschen mein Herr?“ Tausend Gedanken schießen in meinen Kopf herum. Was wünsche ich mir...? Wie aus einem Traum erwacht sage ich zu der Dame: „Eine große Tasse Kaffee und zwei belegte Salamibrötchen, bitte!“
Die Dame notiert sich meine Bestellung, geht hinter den Verkaufstand und ich atme erleichtert auf.
[Tagebucheintrag 4]Autor: Lisa
Ich lasse meinen Blick im Kaffeehaus umherschweifen. So viele Menschen, die alle ein Leben haben, wie ich eines habe. Es hat mich schon oft gegruselt, wenn ich mir all diese Bewusstseine, ihre Köpfe, Gehirne und Geister als eine Art Seifenblase vorstelle, in denen nach und nach Sätze, Gedanken und Bilder erscheinen. Ich werde dann den Gedanken an Aliens nicht los, was natürlich Quatsch ist. Wenn man alle Gedanken als Stimmen hören könnte, die vor sich hinflüsterten - ich kann nichts dagegen tun, ich empfinde es als unheimlich und bekomme eine Gänsehaut. Im Endeffekt ist die Welt ja genau so. Aber kann man das wirklich verstehen? Ich meine, jeder Mensch kennt die Welt nur durch sein Bewusstsein, mit seinem Bewusstsein. Kann man sich wirklich vorstellen, dass dort GENAU solche Bewusstseine sind wie man selbst eines hat? Und das es mal eine Welt gab, die ohne mein Bewusstsein war? Und dass es eine Welt geben wird, ohne mein Bewusstsein. So wie es nun ja auch eine Welt gibt ohne Ninas Bewusstsein, das mir so oft Rätsel aufgegeben hat. Ja, das hat es, Nina...“So hier ist Ihre Bestellung. Zwei belegte Salamibrötchen und eine Tasse Kaffee für den Herrn“. Die Stimme der rundlichen Dame reißt mich aus meinen analytischen Purzelbäumen. „Sie können Übrigens, wenn Sie wollen, Ihre triefenden Sachen bei mir trocknen. Ich habe dort hinten einen Trockner stehen. Schon allein, weil Sie mir dann nicht das ganze Cafe unter Wasser setzen“. Sie lächelt mich an und deutet auf meine Füße.
„Danke“, sage ich stumpf und blicke auf meine Füße, wo sich eine recht stattliche Wasserlache gebildet hat. Die Dame wackelt noch zu einem anderen Tisch und stellt sich dann wieder hinter die Theke. Ich betrachte sie. Ob sie Muttergefühle für einen so armen Tropf wie mich empfindet? Arg, warum denke ich so etwas. Ich meine, wenn diese Dame nun so alt wie ich wäre oder besser noch ein, zwei bis fünf Jahre jünger, sagen wir 22, und dazu weniger rund, eben rundherum attraktiv, hätte ich dann solche Gedanken? Nein, sicher nicht, schon allein, weil ich dann nicht mehr hier säße. Mein Gott, was bin ich platt.
An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Schild, auf dem in altdeutschen Lettern geschrieben steht: „Weil beim Mann auf Genuß Verdruß folgen muß, muß folgen, daß beim Weib auf Treue Reue folgt. „Das hat was Anklagendes, ich meine, das ist doch kein Zufall. Sonst steht auf dieser Art Schilder immer so was wie „Tritt ein, bring Glück herein“ oder „My home is my castle“. Ich stopfe die beiden Salamibrötchen in mich hinein. NatÜrlich sind sie mit Remoulade gemacht. Ich hasse Remoulade. Ich beschließe ab eben diesem Moment jemand zu sein, der Remoulade mag. Ohne Wohnung ist das möglich. Und ich beschließe jemand zu sein, der korpulente Frauen nicht automatisch für seine Mutter hält. So viele Mütter hält sowieso kein Mensch aus. Dann stehe ich auf und trete zu der Dame hinter dem Tresen.
[Tagebucheintrag 5]Autor: Max
„Und wo genau könnte ich meine Sachen trocknen?“ frage ich sie. Sie deutet mit dem Daumen auf einen Raum in ihrem Rücken. „Dahinten.“ Dann wird sie abermals an einen Tisch gerufen.
Ich begebe mich in eine kleine Kammer an der Rückseite der Theke, in der es außer einer Waschmaschine und einem Trockner nur noch einen Stuhl und eine Couch gibt. Ich schließe die Tür und entkleide mich bis auf die Unterwäsche. Die nasse Wäsche lege ich in den Trockner und werfe ihn an. „Wenn jetzt nur niemand hereinkommt“, schießt es mir durch den Kopf. Aber die Tür hat keinen Schlüssel, somit bleibt mir nichts als mich in mein Schicksal zu ergeben. Ich beschließe mich, solange der Trockner läuft, auf die Couch zu legen. Dieser erste Tag hat mich müde gemacht und das monotone Summen des Trockners tut sein Übriges. Ich schlafe ein und träume von Nina.
Ein spitzer Schrei reißt mich aus meinen Träumen. „Mama, ein Einbrecher!“ Ein siebzehnjähriges Mädchen steht in der Tür. Ich schnelle von der Couch hoch, stehe ihr in Unterwäsche gegenüber. Ihr Schrei wird lauter. Ich reagiere panisch. Blitzschnell renne ich zum Trockner, reiße meine Sachen hinaus, schnappe mir meinen Rucksack und fliehe durchs Fenster.
[Tagebucheintrag 6]Autor: Mr.Bluewater
So schnell ich kann laufe ich die Straße hinunter, nach dreihundert Metern
werde ich langsamer und muss arg schnaufen, schnelles Laufen ist nichts für
mich, meine Beine fühlen sich schwer an. Wieso bin ich eigentlich so schnell
weggelaufen? Niemand scheint mich zu verfolgen, also kann ich mich erst mal
da drüben auf die Bank setzen und ein wenig ausruhen.
Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, aber die Luft ist feucht und kühl,
ich hätte mich wärmer anziehen sollen. Wenn Nina mich so sehen könnte würde
sie garantiert den Kopf schütteln, das hat sie oft getan, wenn sie mein
Verhalten merkwürdig fand. Schon wieder denke ich an Nina, ich hatte mir
doch vorgenommen nicht mehr an sie zu denken, scheint jedoch schwieriger zu
sein als ich dachte. Wahrscheinlich kommt es daher, dass ich allein
unterwegs bin, wenn ich jemanden bei mir hätte mit dem ich reden könnte,
würde ich garantiert keinen einzigen Gedanken an sie verschwenden. Ich
sollte endlich meine Reise fortsetzen und vielleicht findet sich ja jemand
der mich ein Stück begleitet. Von dort bin ich gekommen, also werde ich in
die andere Richtung weitergehen, diese Gegend kenne ich noch nicht, mal
sehen was mich als nächstes erwartet.
[Tagebucheintrag 7]Autor: Nifl
Andererseits könnte ich auch einfach in meine Wohnung zurück, mich auf's
Sofa legen und mich durch die Vorabendserien zappen. So eine ziellose
Selbsterfahrungssache ist doch recht anstrengend. Ich habe ja auch schon
viele Erfahrungen gesammelt:
Man nehme einen Rucksack, lasse sich durchregnen und gleich betrachten
dich die Leute als einen Stadtstreicher. Und obwohl ich mich mit meinen 27
Lebensjahren einigermaßen kennen sollte, fühle ich mich sogar auch als
solcher. Gesellschaftliche Indoktrination? Ein Schutzautomatismus in mir
sucht sofort nach Eigenschaften, die mich über diesen Status erheben
könnten. Job? Geld? Intelligenz? ...
Ich werde jäh aus meinen Gedanken gerissen. Eine johlende Menschenmenge
stürmt die Straße hinunter. Das Bild erinnert an mittelalterliches
Lynchszenario. Vornweg läuft ein korpulenter Mann in traditioneller
Metzgerkleidung. Seine schwere Schürze ist vergilbt. Alle brüllen wild
durcheinander und schwingen ihre Fäuste in die Luft. Noch kann ich nichts
verstehen, aber das wird sich gleich ändern, denn sie kommen direkt auf
mich zu. Nun erkenne ich auch das Mädchen aus dem Wäscheraum. Sie zeigt
mit ihrem dünnen Zeigefinger direkt auf mich. Mir wird mulmig. Jetzt
verstehe ich einige Wortfetzen: "Dieb", "Triebtäter", "Raubmörder" ...
Fortsetzung ab hier bitte in einzelnen Beiträgen von euch ....