Buchtipp Rundbrief Januar 2014 von carl
- BlauerSalon
- Beiträge: 187
- Registriert: 01.07.2005
Rundbrief Januar 2014
Buchtipp und Besprechung Rundbrief Januar 2014 von carl //
Liebesgedichte von Hans Magnus Enzensberger
Eine Bemerkung vorab:
Enzensberger ist der Gegenwarts-Lyriker, den ich am meisten gelesen habe.
Ich behaupte sogar, ich kenne ihn, diesen scharfzüngigen Beobachter, Meister des Understatements, begnadeten Polemiker, genialen Gehirnakrobaten und wahren Zauberer in der Kunst, mit wenig Worten und mehr Auslassungen eine Situation zu umreißen und sie gleichzeitig vor unseren Augen zu sezieren, liebevoll, wie der Pathologe vor Studenten seine schönste Leiche.
Ja, ich kenne den Fliegenden Robert Enzensbergerscher Prägung (http://www.dctp.tv/filme/enzensberger-d ... de-robert/) und die "Liebesgedichte" mit 38 Stücken aus drei Jahrzehnten kann ich vorbehaltlos empfehlen!
Vielleicht ist der Titel ein wenig irreführend. Aber dazu hören wir später den Autor selber.
Noch eine zweite Vorbemerkung:
Mit Enzensberger verbindet mich eine Hassliebe.
Wobei "verbinden" sicherlich zu viel gesagt ist, weil diese Beziehung ganz und gar einseitig wäre, sollte sie bestehen, von der Seite des Fliegenden Roberts her unerreichbar. Denn der würde seinen Schirm aufspannen und sich mit einer sprachlichen Volte gegen jede Vereinnahmung verwahren und vom Wind des Geistes davontragen lassen...
Ja, ich liebe Enzensberger, weil er als Lyriker in allem besser ist als ich, viel genauer, viel prägnanter. Und ich hasse ihn dafür. Weil das nicht reicht. Und weil er weiß, dass das nicht reicht.
Aber kommen wir zum Herzstück des vorliegenden Bandes, dem Notizzettel zu einem beliebten Thema:
"Doch, doch, ich finde, jeder hat das Recht Liebesgedichte zu schreiben, ganz egal, wie gut oder schlecht sie sein mögen. Glücklich, wer sich im Stände der literarischen Unschuld befindet."
Hier können wir Polemik in vollendeter Form bewundern! Zwar wird ein Recht auf Liebeslyrik mit jovialer Geste eingeräumt, aber nur dem Ignoranten. "Sappho und Catull, die Lieder der Troubadours, Donne und Shakespeare und Brentano können dabei nur stören."
Polemik heißt Kriegsführung. Bekanntlich ist im Krieg und in der Liebe alles erlaubt, womit beide Themen aufs glücklichste verschränkt sind, wie wir noch sehen werden. Es ist erlaubt, dem Gegner eine Position unterzuschieben, die er gar nicht hat, eine möglichst dilettantische, sodass man die Lacher auf seiner Seite weiß. Also zitiert Enzensberger das Verzeichnis lieferbarer Bücher mit Titeln à la Liebe wärmt wie Sonnenschein, Das Flüstern der Rosenblüte, So zärtlich Herz an Herz, Ich liebe dich wie Apfelmus, Jeder Atemzug für dich, Hauptsache: Liebe.
Genial! Keine Rede von Himmel, Liebe und Grab als den einzigen Themen, die uns mit Menschen von vor 2000 Jahren oder in 2000 Jahren verbinden. Themen, die nicht nur ein Kulturkreis, sondern jeder Einzelne durcharbeiten muss. Keine Rede also von zeitgenössischen Lyrikern von Rang, die sich an ihren großen Vorläufern gemessen haben, weil sie selber Betroffene waren.
"Ich ward durch deiner Augen Glanz gebunden."
Überhaupt Petrarca. Nicht nur, dass der Autor für dessen "Art kombinatorischer Maschine von höchster technischer Perfektion" die höchste Bewunderung hegt. Ist er doch selbst Mitautor einer Lyrikmaschine auf Basis von zufallsgenerierten poetischen Phrasen. Nicht nur, dass er en passant nachfolgende Generationen von Dichtern zu meist unbewussten(!) Epigonen Petrarcas oder zu „Fachleuten“ stempelt. Wenn er sie Experten genannt hätte, Erfahrene in Liebe und Lyrik, sodass Hoffnung auf eine mehr oder weniger gelungene Synthese bestanden hätte -
Nein, hier kann man von Enzensberger lernen, wie man ein Argument durch eine sublime Polemik ersetzt und sich so eine Auseinandersetzung spart, hier, wo er seine Kollegen von Aichinger bis Zürn als „Fachleute für Liebeslyrik“ abfertigt, die "ihr Terrain gegen die Fachleute für Naturlyrik oder für gesellschaftskritische Verse zu verteidigen" haben, und alle übrigen als Ignoranten.
Aber das Beste, die erlesenste Köstlichkeit kommt noch, der wahre Grund für die Beliebtheit der Liebeslyrik und der eigentliche Grund, warum der Autor sich davon distanziert: Es sei der unausrottbare Aberglaube, der allenthalben blühe, Poesie habe es hauptsächlich mit Gefühlen zu tun.
Gefühle. Wunderbar!
Natürlich sagt der Autor nirgendwo, Lyrik dürfe nichts mit Gefühlen zu tun haben. Das Schimpfwort Befindlichkeit bleibt ausgespart.
Keine Frage mehr, ob Gefühle ein eigenes Recht auf Ausdruck haben, auch ohne Musikuntermalung. Wer möchte sich jetzt noch als Dilettant outen mit dem Einwurf, dass Gedanken außerhalb der Gedankenlyrik den Essay oder die Abhandlung als Ausdrucksform besitzen, Naturerleben außerhalb der Naturlyrik den Waldlehrpfad oder die Fotografie, Gesellschaftskritik die Kampfschrift und die Protestbewegung, dass aber ausgerechnet Gefühle als Begleitumstände von Familiengründung und Sozialisation, welche zu ihrer Menschwerdung kein anderes Werkzeug haben als die Sprache, von der konzentriertesten Form von Sprache ausgeschlossen bleiben sollen? Ausgerechnet das Erleben, aufgrund dessen "ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen" wird, das heißt über bloße Fortpflanzung hinaus: individualisieren und Person werden wird? Die Kraft, die es dem Menschen ermöglicht, sich sowohl einzulassen als auch über sich hinauszuwachsen?
Keine Frage, ein solcher Einwurf würde literarisch als zu pathetisch eingestuft, als erkenntnistheoretisch zu wenig abgebrüht.
Bleibt die Frage, worauf Enzensbergers Notizzettel eigentlich zielt. Er gibt die Antwort selbst:
"Deshalb kann ich leider mit dem hundertprozentigen Liebesgedichte nicht aufwarten."
Das leider kommt zwar ironisch daher, drückt aber auch ein Bedauern aus, eine Schwäche, welche zu kaschieren das ganze vorangegangene Säbelrasseln nötig gemacht hat.
Tatsächlich enthält der Band kein einziges Liebesgedicht.
Nein, das ist zu rigide formuliert, zwei oder drei sind es schon. Das allerdings ist nicht nur dem Autor aufgefallen, auch dem Lektor und dem Rezensenten der FAZ. Macht aber nichts, schließlich ist der Fliegende Robert eine Legende, an der man nicht kratzt, ein paar Momente "schlichter Dankbarkeit für die unwahrscheinliche Gegenwart des anderen" finden sich immer und müssen auch genügen für einen ganzen Band Liebeslyrik, und nur ein Zyniker würde darauf hinweisen, dass die Vorzüge meiner Frau auch die einer Kuh auf der Weide sind. Denn nur "wenn ihre Nüstern beben, dann weiß" das lyrische Ich: "sie denkt. Wie oft sie denkt, und wie unwillkürlich sie lebt!" Na ja, füßeln kann sie im Gegensatz zur Kuh auch... "ganz zu schweigen von den mannigfaltigen Seelen in ihrer Brust". Wirklich ein Wunder, "dass sie hier, wo ich zufällig bin, meistens auch ist"!
Schuld an der Zumutung, Gedankenlyrik zu Liebeslyrik umetikettieren zu müssen, ist letztendlich der Verlag, der dem Drang nach Liebeslyrik allenthalben nicht widerstehen konnte und den Autor mit seinem Ansinnen "kalt erwischt" hat. Aber wer würde gute Lyrik nicht noch einmal vermarkten wollen, nur wegen eines falschen Covers?
Er sei kein Spezialist, sagt Enzensberger, ihm fielen Unterscheidungen schwer. Und die Poesie sei nun mal ein Allesfresser, die in einem noch größeren Magen, als die Religion ihn hat, alles gleichzeitig zu einem Gedicht verdaut, was uns so durch den Kopf geht, den "lieben Gott, ein Massaker in Afrika, Quittengelee, eine amour fou und Astrophysik."
Bizarre Welt eben.
Das macht dann nach dieser Logik die Kleider, die da liegen, "still und katzenhaft", ein bisschen nach uns riechen und "in der Hand eines Polizisten, einer Schneiderin, eines Archäologen ihre nichtigen Geheimnisse" preisgeben und doch nicht sagen, ob wir wiederkommen oder ob wir tot sind, das macht dieses Gedicht zum Liebesgedicht. Denn immerhin sagen unsere Kleider auch nicht, "ob das, was geschah, aus Liebe geschah", und damit ist das Thema Liebe drin. Schließlich sucht "auch der rasend Verliebte kaltblütig im Internet nach dem günstigsten Sonderangebot", ohne seinen Status als Liebender zu verlieren.
Ein Schelm, wer jetzt denkt, dass da was fehlt! Dass der Liebende nicht durchs Surfen zum Liebenden wird und das Gedicht nicht durch den Gebrauch des Wortes Liebe zum Liebesgedicht.
Oder sind die Lieder für Ingrid Caven Liebeslieder?
Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Stimme der Chansonnière von der Schallplatte und die Bilder der Frau dazu, von Fassbinder inszeniert, Leidenschaft wecken können, Begierde, zur Obsession werden, phantastische Visionen hervorbringen oder diesen Schmerz, mit dem nur die Schönheit verwunden kann, das Bedürfnis, ihre Verletzlichkeit zu beschützen, den Wunsch, ihr die Füßen zu küssen oder sie zu besitzen, mit ihr Kinder machen oder auf Tournee gehen, ja sogar alt mit ihr werden, jedenfalls in die Sphäre der Geliebten eindringen, ihr Geheimnis berühren, mit ihr reden, nur reden... oder schauen, immer nur schauen!
Und etwas davon einfangen in ein Gedicht, weil ich Dichter bin...
Irgendwas davon in den fünf Liedern für Ingrid?
Ohne die Offenheit des Kunstwerkes einschränken zu wollen: Die Gedichte lassen sich als feinfühlige psycho-soziale Studien der Fassbinder-Figuren deuten, erzählt aus der Perspektive der Huren. Ein Rollenspiel also.
Aber die persönlichen Begegnung zwischen Enzensberger und Caven? Knistert es dort, sorgsam in den Liedern versteckt, for her eyes only?
Fehlanzeige. Ein Interview (http://www.a-e-m-gmbh.com/andremuller/i ... caven.html) mit der Caven zeigt es.
Oder habe ich eine längst überholte, längst abgeschmackte Vorstellung von Liebe? Habe ich die neusten Ergebnisse der Hirnforschung nicht zur Kenntnis genommen oder die letzten anthropologischen Studien zum Sexualverhalten der Primaten?
"Ich ward durch deiner Augen Glanz gebunden."
Gerade der Hinweis Enzensbergers, die Laura der Canzoniere habe es vielleicht gar nicht gegeben, macht deutlich, dass es um mehr geht, als um das individuelle Verhältnis zwischen zwei Menschen.
Es geht um nichts weniger als die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung.
Wer liebt, ist nicht nur im höchsten Maße aktiv, er erlebt sich auch als passiv gebunden. Das Objekt seines Strebens ist zugleich das heimliche Subjekt, selbst dann, wenn es gar nicht um eine Person geht, sondern um eine Sache, die sich der Liebende zu eigen gemacht hat. Er erlebt sich als in Minne-Dienst genommen, horribile dictu, und nicht mehr Herr seiner selbst! Und er ist mit diesem Zustand identisch, so sehr, dass er lieber unglücklich verliebt bleibt, als dass er eine leere Freiheit als gezeichnetes Ich wiedererlangte.
Verlust der Überlegenheit, der Selbstmächtigkeit.
Für die Figur des Fliegenden Roberts ist das natürlich die Zumutung schlechthin. Der bleibt lieber ein Cicerone der Leidenschaft und schleift uns genüsslich durch „das wilde Leben, durch (jede) flache Unbedeutendheit“, jede gewöhnliche Geschichte der Genetik, ohne sich die Schuhe schmutzig zu machen. Er führt uns mit mephistophelischem Mitgefühl das Schicksal der "früh gevögelten Unschuld" vor Augen, der "süßen, kleinen Etcetera, stolze Besitzerin von zwei wohlgestalteten Beinchen und der gern besuchten Vertiefung dazwischen.... die, schade, jammerschade, der zivilisiertesten aller Welten nicht gewachsen" ist. Oder die dreiunddreißigjährige Dauerstudentin im Moment der Selbsterkenntnis, als sie sich sagt: "ich werde schon nicht verhungern".
Alles einfühlsame Studien. Aber mit dem distanzierten Blick des Überlegenen. Der jederzeit seinen Schirm aufspannen und sagen kann: fliegen wir zur nächsten Szene!
"Ich ward durch deiner Augen Glanz gebunden."
Gibt es also keinen Sex, keine Affären oder Liebschaften in diesem Gedichtband?
Aber sicher! Natürlich kommt die biologische Seite der Liebe nicht zu kurz, die ja bekanntlich zu ihr gehört wie Apfelmus: der "chemische Seelentumult" und die "Unbegreiflich(keit), was so sublim ist am bloßen Arsch einer Frau", "Temperaturen, die kein Thermometer misst... was nie und nirgends sonst vorkommt in unserer Galaxie: die beiden Wärmen der im Bett aneinander geschmiegten Schläfer" und "das Halo im Halbschatten ihrer hellschimmernden Haut... diese weiche Strahlung im fernen Infrarot", die "mehr berührt als die Berührung, und du nicht weißt, warum... vielleicht das Glück?"
Wer auf forensische Spurensuche geht, wird auch eine reiche Ernte an Indizien für persönliche Begegnungen einfahren, die der Meister der Auslassung sorgfältig platziert hat.
In den Frühschriften eines gewissen Karl Marx etwa, "das Pathos der Sätze, die ihre flatternde Hand rot unterstrich." Das anrührende Psychogramm einer Namenlosen im "grauen Staub der Fünfziger Jahre. Sommersprossen im Winter, rührende Ungeduld."
Sommersprossen im Winter: was für ein Schicksal!
Wer will, kann dahinter mehr sehen als die intellektuelle Begegnung zweier Jungrevoluzzer.
Aber das ist nicht der Scopus des Gedichts.
Es geht, nebenbei, um die Strafe für zu viel Pathos ("sie habe sich umgebracht, vor Jahren" erfährt das Lyrische Ich "am Telephon, nebenbei.") Hauptsächlich geht es darum, dass nichts bleibt, "an diesem warmen Mittwoch im Mai, heute, nicht einmal ein zerlesenes Buch."
Es geht um die Vergänglichkeit.
Hier sind die Gedichte am persönlichsten, am anrührendsten! "In zarten, oft melancholischen Versen erzählt Enzensberger von Erinnerung und Verlust, verschwundenen Minuten, Namen notiert in Hotelbetten, auf Bahnsteigen oder Kongressen" so der Rezensent der FAZ, und "so steht mein Name, leicht berieben, älter als ich, in andren Büchern: wer mag das gewesen sein? Wer immer es war, streicht ihn aus", so Enzensbergers Notizbuch.
Mit diesem Schlusswort lassen wir ihn fliegen, den Robert, dem sein Hut voranfliegt, der von sich nichts preisgeben will oder sich auf irgendetwas einlassen kann und dessen Geheimnis doch ein wenig gelüftet wird in der Obskuren Kamera. Und „wo der Wind sie hingetragen“ Robert und seinen Hut, „ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“ (http://germanstories.vcu.edu/struwwel/robert.html)
Wir jedenfalls freuen uns an der Legende, die er uns zurücklässt, vielleicht mit ein bisschen Neid darauf, eine Legende, die durch Meisterwerke wie den vorliegenden Band weiter befeuert wird.
Nicht ein Buch, den ganzen Autor will uns hier Carl verkaufen ...
"Optimistisches Liedchen", ein Gedicht von ihm, habe ich eben gelesen, durch seine Empfehlung angeregt. Kein Liebesgedicht.
Lassen wir uns nicht von den genialen Einfällen eines hervorragenden Dichters blenden: Gefühle existieren, und die Liebe, dieses Gefühl, auch.
Gefühle spielen in unserem wirklichen Leben eine viel größere Rolle als Gedanken.
Zwei Weltkriege haben den europäischen Menschen zu einem Zyniker gemacht.
In Anbetracht eines möglichen dritten scheint alles wirklich egal zu sein.
Ich bewundere die Genialität Enzensbergers, aber mehr liebe ich die Liebe.
Noch vor dem ersten Weltkrieg schrieb Rilke darüber, "das Liebe-Erleben von Grund aus zu verändern, es zu einer Beziehung umbilden, die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von Mann zu Weib."
"Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und leise, und gut und klar in Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, dass zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen."
"Optimistisches Liedchen", ein Gedicht von ihm, habe ich eben gelesen, durch seine Empfehlung angeregt. Kein Liebesgedicht.
Lassen wir uns nicht von den genialen Einfällen eines hervorragenden Dichters blenden: Gefühle existieren, und die Liebe, dieses Gefühl, auch.
Gefühle spielen in unserem wirklichen Leben eine viel größere Rolle als Gedanken.
Zwei Weltkriege haben den europäischen Menschen zu einem Zyniker gemacht.
In Anbetracht eines möglichen dritten scheint alles wirklich egal zu sein.
Ich bewundere die Genialität Enzensbergers, aber mehr liebe ich die Liebe.
Noch vor dem ersten Weltkrieg schrieb Rilke darüber, "das Liebe-Erleben von Grund aus zu verändern, es zu einer Beziehung umbilden, die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von Mann zu Weib."
"Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und leise, und gut und klar in Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, dass zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen."
Ja, Enzensbergers Lyrik und Herausgebertum wende ich auch ab und zu an, um mich ein wenig durchzuschütteln, dialektisch und sonstwie, das braucht es ab und zu. Ich bin mit den Erzeugnissen dieser Generation der enttäuschten Gefühle, welche sich alle als katastrophal falsch erwiesen hatten, woraufhin sie sich verzweifelt und erfolglos in Vernunft und Intellektualität flüchtete, aufgewachsen, konnte sie aber letztenendes nur sehr begrenzt für mich fruchtbar machen, denn es erwies sich, daß ich sträflicherweise ebenfalls einer völlig altertümlichen Vorstellung von Liebe anhing und nicht davon abzubringen war - ich war eben schon wieder die nächste Generation, so schnell geht das. Zu hirnlastig for comfort, aber man sucht ja beiweitem nicht nur "comfort" in Gedichten, also hat auch ein Enzensberger durchaus eine Bedeutung für mich, von seiner sprachlichen und gedanklichen Brillanz und Genauigkeit läßt sich schon einiges lernen.
Vielen Dank für deine Sicht der Dinge, carl, die mir in ihrer Ambivalenz sehr entspricht. Das war eine interessante Lektüre.
Liebe Grüße
Eva
Vielen Dank für deine Sicht der Dinge, carl, die mir in ihrer Ambivalenz sehr entspricht. Das war eine interessante Lektüre.
Liebe Grüße
Eva
Lieber Klimperer,
nein, verkaufen will ich euch Enzensberger nicht, sondern eine Auseinandersetzung, nicht nur mit ihm, sondern mit einer ganzen Generation von Lyrikern.
Die Gründe für deren Befindlichkeit hast du mit den Weltkriegen schon genannt.
Ihr Einfluss wirkt bis heute fort, auch in den blauen Salon. Demzufolge muss die Sprache von Lyrik lakonisch sein, distanziert oder wenigstens selbstironisch. Diese Attribute findest du fast in jeder Lyrik-Rezension. Liebe oder Leidenschaft wird bestenfalls als naiv gewertet, schlimmstenfalls als Pathos. Und Pathos ist immer falsch. Eine Redakteurin der FAZ hat es einmal so zusammengefasst: "es gibt keine unhintergehbaren Gefühle."
Da hat sie recht. Es gibt überhaupt nichts, was nicht hinterfragt werden kann.
Für mich wird umgekehrt ein Schuh draus:
Es gibt sehr wohl unhinterfragbare Gefühle, aber kein unhinterfragbares Ego.
Der Skeptizismus ist eine parasitäre Weltanschauung.
Leider kann man sich seine Weltanschauung nicht aussuchen. Man findet sie vor. Insofern ist dies eine Auseinandersetzung mit mir selbst.
Liebe Eva,
Du sprichst mir aus der Seele!
Wieder ein Beispiel für Thomas Kuhns Paradigmenwechsel. Die Vertreter einer Theorie sterben einfach aus.
Bedauerlicherweise ist das keine Lösung, wenn die nachfolgende Generation die Erfahrungen einfach nicht macht.
Sie darf sie dann nämlich wiederholen.
Bleibt also das Problem von wahrem und falschem Pathos.
Das scheint mir etwas zu sein wie die Quadratur des Kreises in der Mathematik.
Es reicht nicht zu sagen, für jeden sei etwas anderes war. Es gibt auch Dinge, die sind für einen Kulturkreis durchgearbeitet.
Wie geht es also weiter?
Liebe Grüße, Carl
nein, verkaufen will ich euch Enzensberger nicht, sondern eine Auseinandersetzung, nicht nur mit ihm, sondern mit einer ganzen Generation von Lyrikern.
Die Gründe für deren Befindlichkeit hast du mit den Weltkriegen schon genannt.
Ihr Einfluss wirkt bis heute fort, auch in den blauen Salon. Demzufolge muss die Sprache von Lyrik lakonisch sein, distanziert oder wenigstens selbstironisch. Diese Attribute findest du fast in jeder Lyrik-Rezension. Liebe oder Leidenschaft wird bestenfalls als naiv gewertet, schlimmstenfalls als Pathos. Und Pathos ist immer falsch. Eine Redakteurin der FAZ hat es einmal so zusammengefasst: "es gibt keine unhintergehbaren Gefühle."
Da hat sie recht. Es gibt überhaupt nichts, was nicht hinterfragt werden kann.
Für mich wird umgekehrt ein Schuh draus:
Es gibt sehr wohl unhinterfragbare Gefühle, aber kein unhinterfragbares Ego.
Der Skeptizismus ist eine parasitäre Weltanschauung.
Leider kann man sich seine Weltanschauung nicht aussuchen. Man findet sie vor. Insofern ist dies eine Auseinandersetzung mit mir selbst.
Liebe Eva,
Du sprichst mir aus der Seele!
Wieder ein Beispiel für Thomas Kuhns Paradigmenwechsel. Die Vertreter einer Theorie sterben einfach aus.
Bedauerlicherweise ist das keine Lösung, wenn die nachfolgende Generation die Erfahrungen einfach nicht macht.
Sie darf sie dann nämlich wiederholen.
Bleibt also das Problem von wahrem und falschem Pathos.
Das scheint mir etwas zu sein wie die Quadratur des Kreises in der Mathematik.
Es reicht nicht zu sagen, für jeden sei etwas anderes war. Es gibt auch Dinge, die sind für einen Kulturkreis durchgearbeitet.
Wie geht es also weiter?
Liebe Grüße, Carl
carl hat geschrieben: Es gibt auch Dinge, die sind für einen Kulturkreis durchgearbeitet.
Wie geht es also weiter?
Ich muß gestehen, daß ich für mein Teil ziemlich ratlos in diesen Zeiten herumstehe und genau daran immer mehr zweifle. Bei einem Schritt vor scheint es mir mindestens drei Schritte zurück zu gehen angesichts so vieler Errungenschaften, die man gesichert glaubte und die durch die Hintertür mit unglaublicher Gewalt wieder zurückgenommen werden, wie im internationalen Arbeitsrecht, den Rechten der Frauen (besonders das Recht auf Bestimmung über den eigenen Körper) und der Kinder, auch hier besonders der Mädchen (in Pakistan kriegst du zum Beispiel eine Kugel in den Kopf, wenn du zur Schule gehen willst) - leider ließe sich diese Aufzählung ungesucht endlos auch für unser Land erweitern. Eine amerikanische Bürgerrechtsaktivistin sagte neulich vor irgendeiner Kamera, sie habe das Gefühl, die fünfziger Jahre seien wiedererstanden und alles müsse noch einmal von Anfang an erkämpft werden.
Naja, dies nur am Rande.
Liebe Grüße
Eva
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste