Buchtipp Rundbrief Februar 2014 von Leonie
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Rundbrief Februar
Buchtipp und Besprechung Rundbrief Februar 2014 von Leonie //
Atlas eines ängstlichen Mannes von Christoph Ransmayr
Christoph Ransmayr ist ein Hingucker. Ob er gut aussieht, weiß ich nicht. Aber was er sieht, sehe ich, denn er erzählt es mir in seinem Buch „Atlas eines ängstliches Mannes“. Und beim Lesen wird mir deutlich: Der 1954 im österreichischen Wels geborene Autor ist ein Hingucker. Sein Buch ist mein persönliches Lieblingsbuch des Jahres 2013.
"Ich sah", so beginnt jede der 70 Episoden, mit denen Ransmayr mich, die Leserin, in nahe und ferne Gegenden der Erde führt.
Auf einem tschechischen Friedhof etwa begegne ich dem alten Pavlik, der seit vielen Jahren die Mauer um einen verfallenen jüdischen Friedhof herum wieder aufbaut, um die Hoffnungen der Toten zu hüten, nachdem ihre Angehörigen nach Theresienstadt deportiert worden sind. Pavlik fragt sich, wo in Theresienstadt die Engel gewesen seien, von denen er auf einem Grabtuch gelesen hat, dass sie einen auf allen Wegen behüten. Und während er Tag für Tag Mörtel anrührt und Steine übereinander schichtet, gewinnt er die Erkenntnis, dass es wohl die Aufgabe der Menschen sei, die Arbeit der Engel zu tun.
In einem Wintergewitter in Österreich bin ich neben einem Mädchen - vom Bruder aus verständlichen Gründen allein dort stehen gelassen -, höre im Schneegestöber das Gebell eines gefürchteten Hundes und den krachenden Donner, stehe Todesängste mit ihr aus.
Und spüre plötzlich die weiche Hand des Bruders, der seinen Zorn und seine Kränkung überwunden und sich selbst bezwungen hat und zurückgekehrt ist.
Auf einem griechischen Bergpfad erlebe ich die Schönheit des Sternenhimmels, der vor dem Hintergrund einer ungewohnten und plötzlich bedrohlich erscheinenden Schwärze erstrahlt. Die Lichter einer Stadt sind - wie ich gemeinsam mit dem Autor erst später erfahre -, durch ein verheerendes Erdbeben erloschen.
Und am Ufer eines chinesischen Sees sehe ich Kalligraphen, die einen auf einen Stock gesteckten Schwamm ins Wasser tauchen, um dann uralte Gedichte mit ihren Schriftzeichen auf Steininseln zu schreiben, wo sie sich, je nach dem Stand der Sonne, mehr oder weniger schnell wieder auflösen. Und frage mich am Ende der Geschichte, ob nicht dieses vordergründig sinnlose Tun möglicherweise sinnvoller ist als vieles, was ich bisher für wichtig und notwendig gehalten habe.
Ransmayrs Blick ist von ehrlichem Interesse geprägt, er verzichtet auf vorschnelle Wertungen. Er ist aufdeckend, aber nicht entblößend, hinterfragend, aber ebenso wertschätzend.
Was er sieht, beschreibt Ransmayr in einer Sprache, die mit metaphorischem Potential unterlegt ist. Und so gelingt es ihm wieder und wieder, die Oberfläche des Lebens zu durchstoßen, zu hinterfragen und zugleich anzudeuten, was in der Tiefe verborgen sein könnte.
„Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist ein poetisches, liebevolles und weises Buch, dem ich langsame Leser wünsche. Denn Ransmayrs Geschichten nehmen mich als Leserin nicht nur mit. Sie gehen auch mit mir mit in meinen Alltag. Sie öffnen mir den Blick neu auf das, was man Wirklichkeit nennt und lassen mich anders in und auf die Welt schauen als bisher.
Ich sah, schreibt Ransmayr. Und der Leser, die Leserin? Sie sehen.
- allerleirauh
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Danke für die schöne Rezension, Leonie.
Ich freue mich auf das Buch!
LGA
Ich freue mich auf das Buch!
LGA
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