Buchtipp Rundbrief November 2012 von Xanthippe
Verfasst: 01.11.2012, 07:23
Rundbrief November 2012
Buchtipp und Besprechung November von Xanthippe: Der Liebhaber - Marguerite Duras
Ich habe die ersten dreißig Seiten gelesen. Noch geht es nur am Rande um den Liebhaber, noch läuft alles was erzählt wird auf ihn zu, ohne ihn zu erreichen, noch geht es um die Grundlagen, um den Hintergrund, der alles ermöglicht, die Geschehnisse und das Erzählen und ich frage mich, ob ich jemals eine Mutter gehabt habe, wenn ich nicht die Kraft habe, mir eine Mutter zu erfinden, die mir so nahe kommen könnte, wie die verschwendete Leblosigkeit, die Marguerite Duras für ihre Mutter erfindet, diesen Mut, sich so sehr selbst in die Lüge zu legen, bis die Lüge wahr wird, oder diejenige, die sie aufschreibt auslöscht mit der Behauptung, selbst eine Lüge zu sein.
Es ist diese Erkenntnis, dass man grausam sein muss, um die Wahrheit aufzuschreiben. Grausam zu sich selbst, oder zu anderen, das spielt keine Rolle. Das darf keine Rolle spielen. Eine Art Rückhaltlosigkeit, die die Grausamkeit in Kauf nimmt, das ist es, worauf es ankommt. Und die Grausamkeit besteht darin, zu keinem Zeitpunkt zu vergessen, dass allein man selbst es ist, auf die es ankommt, beim Lieben, beim Schreiben, beim Erinnern und Hassen. Diese Wahrheit keinen Moment lang aus den Augen zu verlieren.
In den Büchern der Duras spürt man das in jedem Satz. Das macht sie so schrecklich. Und so schön.
Die Figuren werden monströs, weil sie verstanden werden wollen, um so mehr je weniger es möglich ist, merkt jemand in einem Bericht über Thomas Bernhard über seine Protagonisten an. Maguerite Duras geht einen Schritt weiter. Sie gibt nicht nur zu, nicht zu verstehen, sie setzt dem unmöglichen Verstehen den Blick einer sich selbst ausgesetzten Einsamkeit entgegen.
Dieses Buch, wie alle Bücher der Duras, ist voller kleiner weitreichender Wunder. „Er entschuldigte sich voller Stolz.“ Ein Satz der mühelos das Widersprüchliche in jedem Menschen vereint, wie einer Mitgefühl haben kann und trotzdem zu sich selbst steht. Nicht, um seinerseits um Verständnis zu werben, nicht um um Nachsicht zu betteln, um etwas in Worten ungeschehen zu machen, das in Taten längst unumkehrbar ist, sondern um zu sagen: Ich sehe dich, ich nehme dich wahr, aber auch den Abgrund, der uns trennt, ich akzeptiere den Schmerz, den diese Entfernung verursacht, aber ich halte stand und bleibe bestehen, bei mir, auf meiner Seite, nicht blind, nicht ignorant, aber standhaft. Auf diese Art zugewandt.
Die Armut, die alles verwahrlosen lässt. Die Liebe, die da ist, aber keinen Weg findet. Selbst nicht an ihre Heilkraft glaubt, das ist mir schon in dem allerersten Buch begegnet, mit dem Maguerite Duras mich getroffen hat, in „Sommerregen“. Und ich habe sofort gewusst, dass hier etwas Unvergleichliches geschieht, dass mich ihre Bücher von nun an begleiten würden und das war trotz der Härte, der Hoffnungslosigkeit, die sie immer wieder beschreibt, ein Trost, weil sie es versteht dem Ganzen, ohne der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, ohne irgendwelche Abstriche zu machen, etwas entgegenzusetzen, etwas das über die Sprache hinausgeht und über das Denken, etwas wofür ich keinen Namen finde.
„Er weint oft, weil er nicht die Kraft aufbringt, über die Angst hinaus zu lieben.“
Noch einer von den Sätzen, die mich mit voller Wucht treffen, weil sie zutreffen. Mehr als mich zu lieben fürchtete meine Mutter, ich würde sie nicht genug lieben. Und nun wiederholt sich alles mit mir, weil ich es nicht anders gelernt habe, weil ich nicht die Kraft habe, dazu zu lernen.
Ich werde es aufschreiben, wird Marguerite Duras sich gesagt haben, das ist die einzige Möglichkeit, nicht mit allem unterzugehen. Und das ist der Unterschied zu den meisten, nur mittelmäßigen, nur handwerklich meisterhaften, Büchern, dass hier von Anfang an jemand spricht, weil es die einzige Möglichkeit ist, zu überleben. Nicht weil er gehört werden will, und ich nehme mir das Recht, so etwas zu behaupten, ohne etwas über die Frau Marguerite Duras zu wissen, was sie nicht selbst in die Bücher, die ich bis jetzt von ihr gelesen habe, geschrieben hat, weil es die einzige mögliche Art für mich ist, ihre Sätze zu lesen. Ich habe keine Wahl. Es ist so natürlich und notwendig, wie immer wieder Atem zu holen.
Oder Sätze wie dieser: „Seinetwegen will meine Mutter am Leben bleiben, damit er zu essen hat, damit er im Warmen schläft, damit ihn jemand beim Namen ruft.“ So klar sind ihre Sätze, so einfach und weitreichend und abgründig.
Die Mutter bleibt am Leben, damit jemand den Bruder beim Namen ruft, während er, der Liebhaber, nie beim Namen genannt wird. Er ist der Mann aus Cholen.
Und trotzdem jemand, an dem sie die eigene Unwissenheit entdecken kann. Das ist diese Art wahrhaftiger, schmerzhafter und aufrichtiger Poesie. Marguerite Duras schreibt über den Mann, den sie nie bei seinem Namen nennt, den sie nur den Mann aus Cholen nennt, oder den Liebhaber: „Vielleicht entdeckt er“, schreibt sie, „daß sie noch nie miteinander gesprochen haben, außer wenn sie sich riefen in den Schreien im Zimmer am Abend. Ja, ich glaube, er wußte es nicht, er entdeckt, daß er es nicht wußte.“
„Ohne Bosheit und von erschreckender Intelligenz“, so beschreibt der Liebhaber den Körper seiner kindlichen Geliebten und damit Marguerite Duras Art zu schreiben.
Und hier: „Sie besitzt diese unvergleichliche Aufmerksamkeit von Menschen, die nicht hören, was man zu ihnen sagt.“
Da liegen sie, ganz offen, die Schlüsselsätze, die erklären, wodurch sich manche Leben von anderen trennen. „Ihrer beider (gemeint sind H.L., die Mitschülerin im Pensionat auf die sich auch der vorherige Satz bezieht, und der Mann von Cholen) Leben scheint erfüllt zu sein, erfüllt durch Dinge, die außerhalb ihrer selbst liegen.“ „Bei mir scheint es nichts dergleichen zu geben, (...) Ich glaube, daß mein Leben begonnen hat, sich mir zu zeigen.“
Oder vielleicht auch das: „Man müßte die Leute von diesen Dingen in Kenntnis setzen. Ihnen beibringen, daß die Unsterblichkeit sterblich ist, daß sie sterben kann, daß dies vorgekommen ist, daß dies weiterhin vorkommen wird.“
Alles wird sterblich, wenn man beginnt zu erkennen, es zuzulassen, dass das eigene Leben beginnt, sich zu zeigen. Und wer das lieber vermeiden möchte, sollte die Finger von den Büchern lassen, die Marguerite Duras geschrieben hat, denn sie ist keine, die einhüllt, sondern eine die aufdeckt, die die Dinge beim Namen nennt, sei es die Liebe, sei es der Tod. Sie ist grausam aufrichtig und das ist der einzige Trost. Aber was für einer!
Buchtipp und Besprechung November von Xanthippe: Der Liebhaber - Marguerite Duras
Ich habe die ersten dreißig Seiten gelesen. Noch geht es nur am Rande um den Liebhaber, noch läuft alles was erzählt wird auf ihn zu, ohne ihn zu erreichen, noch geht es um die Grundlagen, um den Hintergrund, der alles ermöglicht, die Geschehnisse und das Erzählen und ich frage mich, ob ich jemals eine Mutter gehabt habe, wenn ich nicht die Kraft habe, mir eine Mutter zu erfinden, die mir so nahe kommen könnte, wie die verschwendete Leblosigkeit, die Marguerite Duras für ihre Mutter erfindet, diesen Mut, sich so sehr selbst in die Lüge zu legen, bis die Lüge wahr wird, oder diejenige, die sie aufschreibt auslöscht mit der Behauptung, selbst eine Lüge zu sein.
Es ist diese Erkenntnis, dass man grausam sein muss, um die Wahrheit aufzuschreiben. Grausam zu sich selbst, oder zu anderen, das spielt keine Rolle. Das darf keine Rolle spielen. Eine Art Rückhaltlosigkeit, die die Grausamkeit in Kauf nimmt, das ist es, worauf es ankommt. Und die Grausamkeit besteht darin, zu keinem Zeitpunkt zu vergessen, dass allein man selbst es ist, auf die es ankommt, beim Lieben, beim Schreiben, beim Erinnern und Hassen. Diese Wahrheit keinen Moment lang aus den Augen zu verlieren.
In den Büchern der Duras spürt man das in jedem Satz. Das macht sie so schrecklich. Und so schön.
Die Figuren werden monströs, weil sie verstanden werden wollen, um so mehr je weniger es möglich ist, merkt jemand in einem Bericht über Thomas Bernhard über seine Protagonisten an. Maguerite Duras geht einen Schritt weiter. Sie gibt nicht nur zu, nicht zu verstehen, sie setzt dem unmöglichen Verstehen den Blick einer sich selbst ausgesetzten Einsamkeit entgegen.
Dieses Buch, wie alle Bücher der Duras, ist voller kleiner weitreichender Wunder. „Er entschuldigte sich voller Stolz.“ Ein Satz der mühelos das Widersprüchliche in jedem Menschen vereint, wie einer Mitgefühl haben kann und trotzdem zu sich selbst steht. Nicht, um seinerseits um Verständnis zu werben, nicht um um Nachsicht zu betteln, um etwas in Worten ungeschehen zu machen, das in Taten längst unumkehrbar ist, sondern um zu sagen: Ich sehe dich, ich nehme dich wahr, aber auch den Abgrund, der uns trennt, ich akzeptiere den Schmerz, den diese Entfernung verursacht, aber ich halte stand und bleibe bestehen, bei mir, auf meiner Seite, nicht blind, nicht ignorant, aber standhaft. Auf diese Art zugewandt.
Die Armut, die alles verwahrlosen lässt. Die Liebe, die da ist, aber keinen Weg findet. Selbst nicht an ihre Heilkraft glaubt, das ist mir schon in dem allerersten Buch begegnet, mit dem Maguerite Duras mich getroffen hat, in „Sommerregen“. Und ich habe sofort gewusst, dass hier etwas Unvergleichliches geschieht, dass mich ihre Bücher von nun an begleiten würden und das war trotz der Härte, der Hoffnungslosigkeit, die sie immer wieder beschreibt, ein Trost, weil sie es versteht dem Ganzen, ohne der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, ohne irgendwelche Abstriche zu machen, etwas entgegenzusetzen, etwas das über die Sprache hinausgeht und über das Denken, etwas wofür ich keinen Namen finde.
„Er weint oft, weil er nicht die Kraft aufbringt, über die Angst hinaus zu lieben.“
Noch einer von den Sätzen, die mich mit voller Wucht treffen, weil sie zutreffen. Mehr als mich zu lieben fürchtete meine Mutter, ich würde sie nicht genug lieben. Und nun wiederholt sich alles mit mir, weil ich es nicht anders gelernt habe, weil ich nicht die Kraft habe, dazu zu lernen.
Ich werde es aufschreiben, wird Marguerite Duras sich gesagt haben, das ist die einzige Möglichkeit, nicht mit allem unterzugehen. Und das ist der Unterschied zu den meisten, nur mittelmäßigen, nur handwerklich meisterhaften, Büchern, dass hier von Anfang an jemand spricht, weil es die einzige Möglichkeit ist, zu überleben. Nicht weil er gehört werden will, und ich nehme mir das Recht, so etwas zu behaupten, ohne etwas über die Frau Marguerite Duras zu wissen, was sie nicht selbst in die Bücher, die ich bis jetzt von ihr gelesen habe, geschrieben hat, weil es die einzige mögliche Art für mich ist, ihre Sätze zu lesen. Ich habe keine Wahl. Es ist so natürlich und notwendig, wie immer wieder Atem zu holen.
Oder Sätze wie dieser: „Seinetwegen will meine Mutter am Leben bleiben, damit er zu essen hat, damit er im Warmen schläft, damit ihn jemand beim Namen ruft.“ So klar sind ihre Sätze, so einfach und weitreichend und abgründig.
Die Mutter bleibt am Leben, damit jemand den Bruder beim Namen ruft, während er, der Liebhaber, nie beim Namen genannt wird. Er ist der Mann aus Cholen.
Und trotzdem jemand, an dem sie die eigene Unwissenheit entdecken kann. Das ist diese Art wahrhaftiger, schmerzhafter und aufrichtiger Poesie. Marguerite Duras schreibt über den Mann, den sie nie bei seinem Namen nennt, den sie nur den Mann aus Cholen nennt, oder den Liebhaber: „Vielleicht entdeckt er“, schreibt sie, „daß sie noch nie miteinander gesprochen haben, außer wenn sie sich riefen in den Schreien im Zimmer am Abend. Ja, ich glaube, er wußte es nicht, er entdeckt, daß er es nicht wußte.“
„Ohne Bosheit und von erschreckender Intelligenz“, so beschreibt der Liebhaber den Körper seiner kindlichen Geliebten und damit Marguerite Duras Art zu schreiben.
Und hier: „Sie besitzt diese unvergleichliche Aufmerksamkeit von Menschen, die nicht hören, was man zu ihnen sagt.“
Da liegen sie, ganz offen, die Schlüsselsätze, die erklären, wodurch sich manche Leben von anderen trennen. „Ihrer beider (gemeint sind H.L., die Mitschülerin im Pensionat auf die sich auch der vorherige Satz bezieht, und der Mann von Cholen) Leben scheint erfüllt zu sein, erfüllt durch Dinge, die außerhalb ihrer selbst liegen.“ „Bei mir scheint es nichts dergleichen zu geben, (...) Ich glaube, daß mein Leben begonnen hat, sich mir zu zeigen.“
Oder vielleicht auch das: „Man müßte die Leute von diesen Dingen in Kenntnis setzen. Ihnen beibringen, daß die Unsterblichkeit sterblich ist, daß sie sterben kann, daß dies vorgekommen ist, daß dies weiterhin vorkommen wird.“
Alles wird sterblich, wenn man beginnt zu erkennen, es zuzulassen, dass das eigene Leben beginnt, sich zu zeigen. Und wer das lieber vermeiden möchte, sollte die Finger von den Büchern lassen, die Marguerite Duras geschrieben hat, denn sie ist keine, die einhüllt, sondern eine die aufdeckt, die die Dinge beim Namen nennt, sei es die Liebe, sei es der Tod. Sie ist grausam aufrichtig und das ist der einzige Trost. Aber was für einer!